6288/AB XX.GP
Die Abgeordneten zum Nationalrat Dr. Gredler, Dr. Kier, Partnerinnen und Partner haben
am 13. Juli 1999 unter der Nr. 6580/J - NR/1999 an mich eine schriftliche Anfrage
betreffend den sicherheitspolitischen Status Österreichs gerichtet.
Ich beehre mich, diese Anfrage wie folgt zu beantworten:
Zu Frage 1:
Österreich hat seine Neutralität durch das Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober
1955 (Neutralitäts - BVG) innerstaatlich begründet. Die Pflichten, die sich aus der
Neutralität ergeben, werden durch Völkerrecht determiniert, das sich gerade auch in
dieser Frage dynamisch fortentwickelt.
Zu Frage 2:
Zu den Neutralitätspflichten gehört grundsätzlich auch die Nichtteilnahme an Kriegen im
formellen Sinn zwischen Drittstaaten. Dies schließt jedoch eine Beteiligung an etwa vom
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gemäß Kapitel VII der Satzung der Vereinten
Nationen beschlossenen Maßnahmen nicht aus.
Zu Frage 3:
Die Beteiligung an der GASP, wie sie im EU - Vertrag i.d.F. des Vertrages von Amsterdam
festgelegt ist, stellt eine vertragliche Verpflichtung dar. Dieser Verpflichtung wurde durch
die Einführung des Art. 23 f B - VG Rechnung getragen.
Zu Frage 4:
Wie das Neutralitäts - BVG ist auch Art 23 f B - VG ein Verfassungsgesetz im formellen Sinn
und bietet somit eine ausreichende Rechtsgrundlage für die Mitwirkung Österreichs an
den dort vorgesehenen Maßnahmen. Das Neutralitäts - BVG ist im Lichte des später
erlassenen Art 23 f B - VG auszulegen. Für eine Entsendung österreichischer Soldaten zur
Teilnahme an Petersberg - Operationen, die Maßnahmen der kollektiven
Selbstverteidigung beinhalten, bedarf es allerdings, wie auch aus den Erläuternden
Bemerkungen zu §1 der Regierungsvorlage zum KSE - BVG hervorgeht, noch einer
entsprechenden Novellierung desselben.
Zu Frage 5:
Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind Mitglieder der Vereinten Nationen und
daher an deren Satzung gebunden. Grundsätzlich ist daher davon auszugehen, daß
Beschlüsse im Rahmen der GASP - einschließlich solcher betreffend Petersberger
Aufgaben - nicht im Widerspruch zur Satzung der Vereinten Nationen stehen. Soferne die
betreffenden Maßnahmen auf der Grundlage des Art. 42 der Satzung der Vereinten
Nationen durchgeführt werden, bestehen auch nach traditionellem Neutralitätsverständnis
und langjähriger österreichischer Neutralitätspraxis keine neutralitätsrechtlichen
Bedenken. Der vom Vertrag von Amsterdam grundsätzlich umfaßten Möglichkeit,
derartige Operationen satzungskonform auch ohne ausdrückliches Mandat des VN -
Sicherheitsrates durchzuführen (Art. 51 der Satzung der VN), wurde innerstaatlich durch
Art. 23 f B - VG Rechnung getragen. Das Neutralitäts-BVG ist im Lichte des später
erlassenen Art 23 f B - VG auszulegen.
Zu Frage 6 und 7:
Die Erläuternden Bemerkungen zu dem in der Anfrage zitierten, von den Abgeordneten
Khol und Kostelka eingebrachten Antrag entsprechen auch meiner Rechtsauffassung.
Zu Frage 8:
Derartige Duldungspflichten entsprechen dem gewandelten, aktuellen
sicherheitspolitischen Status Österreichs. Damit wurde das traditionelle
Neutralitätsverständnis substantiell modifiziert.
Zu Fragen 9 und 10:
Selbst nach traditionellem Neutralitätsverständnis wäre nicht jedwede GASP - Maßnahme
mit militärischen Auswirkungen als mit der Neutralität unvereinbar zu qualifizieren. So
entspricht es auch der langjährigen Neutralitätspraxis Österreichs, die Mitwirkung an
Maßnahmen, die sich auf Art 42 der Satzung der Vereinten Nationen stützen, als
neutralitätskonform anzusehen. Mit dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union und
der Ratifikation des Vertrags von Amsterdam hat Österreich die im EUV vorgesehenen
Rechten und Pflichten übernommen. Ein Verhalten, wie es in Frage 9 der
parlamentarischen Anfrage beschrieben wird, wonach Österreich gegen GASP -
Maßnahmen mit militärischen Auswirkungen prinzipiell ein Veto einlegt, wäre als Verstoß
gegen den fundamentalen völkerrechtlichen Grundsatz von Treu und Glauben - wie er
unter anderem auch in Art 26 der Wiener Vertragsrechtskonvention zum Ausdruck
gebracht wird - und somit als völkerrechtswidrig zu qualifizieren.
Zu Frage 11:
Die Zulässigkeit von einseitigen Wirtschaftssanktionen ergibt sich vor allem aus Art. 301
EGV und Art. 23 f B - VG. Letzterer sieht ausdrücklich vor, daß Österreich an GASP -
Maßnahmen, mit denen Wirtschaftsbeziehungen zu einem oder mehreren dritten Ländern
ausgesetzt, eingeschränkt oder vollständig eingestellt werden, mitwirkt. Wie das
Neutralitäts - BVG ist auch Art. 23 f B - VG ein Verfassungsgesetz im formellen Sinn. Bei der
Beurteilung des aktuellen sicherheitspolitischen Status Österreichs ist daher das
Neutralitäts - BVG im Lichte des Art. 23 f B - VG auszulegen.
Zu Frage 12:
Der Rat Auswärtige Angelegenheiten hat am 9. April „angesichts der extremen und
kriminell verantwortungslosen Politik, angesichts der wiederholten Verletzungen der
Resolutionen des VN - Sicherheitsrates schärfste Maßnahmen einschließlich militärischer
Aktionen als notwendig und
gerechtfertigt" bezeichnet. Die gleiche Formulierung findet
sich auch in der vom deutschen Vorsitz im Anschluß an den Brüsseler Sondergipfel am
14. April d.J. veröffentlichten Zusammenfassung der Beratungen der Staats - und
Regierungschefs. In beiden Fällen sind dies Aussagen der Europäischen Union im
Rahmen der GASP, an der Österreich auf der Basis von Art. 23 f B - VG „uneingeschränkt
mitwirkt“.
Zu Frage 13:
Im Zentrum der Kölner Beschlüsse steht das Bemühen, die Voraussetzungen dafür zu
schaffen, daß die Union im Bereich der "Petersberg - Aufgaben“ von der „Theorie“ des
Amsterdamer Vertrags zur "Praxis" übergehen kann. Konkret soll die EU vor allem auch
mit jenen Strukturen ausgestattet werden, die sie braucht, um ein effizientes
Krisenmanagement tatsächlich durchzuführen. Ich kann diese Entwicklung für Europa und
damit auch für Österreich nur begrüßen.
Zu Frage 14:
Die Beschlüsse von Köln sprechen von der „Entwicklung einer effektiven EU - geführten
Krisenbewältigung, in deren Rahmen sich sowohl der NATO angehörende als auch
neutrale und bündnisfreie EU - Mitgliedstaaten in vollem Umfang und gleichberechtigt an
den EU - Operationen beteiligen können“. Dies ist allerdings nur eine Zielvorstellung, die
ich zwar sehr begrüße, an deren Umsetzung allerdings noch gearbeitet werden muß. Für
Österreich wird sich hier in der Praxis v.a. die Frage stellen, inwieferne gewährleistet
werden kann, daß ein bündnisfreier EU - Mitgliedstaat auch an jenen Aspekten bzw.
Phasen einer "EU - Operation", deren Planung oder Durchführung im NATO - Rahmen
erfolgt, „gleichberechtigt“ mitwirken kann. In diesem Punkt müssen die wesentlichen
Voraussetzungen innerhalb der NATO geschaffen werden. Die Kölner Beschlüsse können
die NATO nicht verpflichten, sondern lediglich als "Verwendungszusag" jener EU -
Staaten, die auch der NATO angehören, angesehen werden, sich im NATO - Rahmen für
das beschriebene Anliegen einzusetzen.
Zu Frage 15:
Österreich hat bereits bei verschiedenen Gelegenheiten, u.a. bei den WEU - Ministerräten
von Rhodos und Rom im vergangenen Jahr offiziell erklärt, daß es bereit ist, „die
Integration der WEU in die EU solidarisch mitzugestalten“.
Die Kölner Dokumente, die auch von Österreich mitbeschlossen wurden, gehen von
einem funktionalen Konzept aus, das die Einbeziehung jener Strukturen und Aufgaben
der WEU vorsieht, „die notwendig sein werden, damit die Union ihrer neuen
Verantwortung im Bereich der Petersberg - Aufgaben gerecht werden kann“. Damit würde
„die WEU als Organisation ihren Zweck erfüllt haben“. Ziel der EU ist es, die notwendigen
Beschlüsse bis Ende des Jahres 2000 zu
fassen.
Zu Frage 16:
Im Koalitionspakt war bekanntlich vorgesehen, daß die Bundesregierung im Laufe des
ersten Quartals des Jahres 1998 dem Parlament über alle weiterführenden
sicherheitspolitischen Optionen, einschließlich der Frage einer Vollmitgliedschaft
Österreichs in der WEU, berichten würde. Die Arbeiten wurden am 1. April 1998
bedauerlicherweise ohne gemeinsames Ergebnis beendet.
Zu Frage 17:
Die Möglichkeit des Tätigwerdens einzelner Staaten ohne Beteiligung der NATO bestand
bereits bisher. Dies hätte entweder im Rahmen der WEU erfolgen können oder durch eine
sogenannte „Koalition der Willigen“ (coalition of the willing). Ein typisches Beispiel hiefür
war die Operation Alba in Albanien im Frühjahr 1997.
Die Kölner Beschlüsse sehen grundsätzlich zwei Varianten von EU - geführten Operationen
vor, und zwar entweder unter Rückgriff auf Mittel und Fähigkeiten der NATO oder ohne
dieselben. Frankreich und Großbritannien, von deren Haltung der Erfolg der Bemühungen
um eine europäische Sicherheits - und Verteidigungspolitik zweifelsohne entscheidend
abhängen wird, haben schon in ihrer (am 4. Dezember 1998 in St. Mab unterzeichneten)
Erklärung den Standpunkt vertreten, daß „der Union die geeigneten Strukturen und eine
Kapazität zur Situationsanalyse, Nachrichtenquellen und eine strategische
Planungskapazität gegeben werden müssen“, wobei es allerdings nicht zu einer
„unnötigen Duplizierung“ (mit bestehenden Ressourcen) kommen dürfe. Die meisten
Experten sind in diesem Zusammenhang der Meinung, daß sich ein Rückgriff auf NATO -
Ressourcen auch mittelfristig vor allem hinsichtlich von Planungskapazität,
Kommandomodulen ("Combined Jomt Task Force“)‘ Langstreckentransport in der Luft
sowie Kapazitäten der Satellitenkommunikation und - aufklärung als zweckmäßig, bei
größeren europäischen Operationen wahrscheinlich sogar als notwendig erweisen wird,
da es in den europäischen NATO - Staaten weder die politische noch die finanzielle
Bereitschaft geben dürfte, in diesen Bereichen völlige autonome, von der NATO
losgelöste europäische Strukturen zu schaffen.
Zu Frage 18:
Der Amsterdamer Vertrag spricht an sich nicht von einer „europäischen Friedens - ,
Sicherheits - und Verteidigungsunion“, sondern von der „schrittweisen Festlegung einer
gemeinsamen Verteidigungspolitik, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen
könnte, falls der Europäische Rat dies beschließt“. Wie ich schon des öfteren betont habe,
bin ich der Meinung, daß Österreich an einem europäischen Sicherheitsverbund voll - und
gleichberechtigt mitwirken soll. Dieser
befindet sich allerdings erst in Entwicklung.
Zu Frage 19:
Nach meiner Auffassung wird ein europäischer Sicherheitsverbund ein immer engeres
Zusammenwirken der diesbezüglich relevanten europäischen Organisationen - und da
insbesondere von EU und NATO - bedingen, sodaß sich in der weiteren Folge auch unter
einer europäischen Perspektive die Frage des künftigen österreichischen Verhältnisses
zur NATO stellen dürfte. Es ist dies allerdings keine Frage, die noch von der derzeit im
Amt befindlichen Bundesregierung zu behandeln sein wird.
Zu Frage 20:
Die Arbeiten am Optionenbericht wurden am 1. April 1998 ohne gemeinsames Ergebnis
beendet. Es wird Sache der nächsten Bundesregierung sein, die Frage zu klären, wie in
dieser Hinsicht weiter vorgegangen werden soll.