2829/AB XXI.GP

Eingelangt am: 23.11.2001

 

 


Die Bundesministerin
für auswärtige Angelegenheilen

Die Abgeordneten zum Nationalrat Mag. Ulrike Sima und Genossen haben am
26. September 2001 unter der Nr. 2857/J-NR/2001 an mich eine schriftliche
parlamentarische Anfrage betreffend “den aktuellen Stand der Verhandlungen der
Energiekapitel mit den Beitrittskandidatenländern im Zuge der EU-Beitrittsverhandlungen"
gerichtet.

Diese Anfrage beantworte ich wie folgt:

Zu Frage 1:

Ja.

Zu Frage 2 und 5:

Das Kapitel “Energie" ist eines von 31 Verhandlungskapiteln. Vom Rat wurde zur
Erarbeitung und Abstimmung der jeweils gemeinsamen Positionen der EU-Mitgliedstaaten
eine eigene Ratsformation eingesetzt, die Ratsarbeitsgruppe “Erweiterung". Diese kann im
Wege des Ausschusses der Ständigen Vertreter (ASTV) andere Ratsgremien, etwa die
Ratsarbeitsgruppe “Atomfragen", um die Bearbeitung von Sonderthemen, bei denen eine
besondere Expertise erforderlich ist, ersuchen.

a) österreichische Bemühungen zur Thematisierung nuklearer Sicherheit in den
Beitrittsverhandlungen:

Zentrales Problem der Beitrittsverhandlungen mit den mittel- und osteuropäischen Staaten
im Kontext der nuklearen Sicherheit ist das Fehlen entsprechender
gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen.


Daher machte Österreich im Rahmen der Beitrittsverhandlungen die nukleare Sicherheit
zu einem vorrangigen Thema. Die maßgeblichen Positionen der Europäischen Union
wurden bereits unter der österreichischen Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte
1998 entwickelt und verabschiedet. Es handelt sich dabei um die Ratsschlussfolgerungen
“Umwelt und Erweiterung" sowie “Nukleare Sicherheit und Erweiterung". Diese
Ratsschlussfolgerungen wurden dann in der Folge durch den Europäischen Rat von Wien
i
ndorsiert.

Der Europäische Rat von Helsinki hat in diesem Sinne auf österreichisches Drängen
“erneut auf die Bedeutung hoher Sicherheitsstandards im Nuklearbereich in Mittel- und
Osteuropa" hingewiesen und den Rat aufgefordert “zu prüfen, wie die Frage der nuklearen
Sicherheit im Rahmen des Erweiterungsprozesses im Einklang mit den einschlägigen
Schlussfolgerungen des Rates behandelt werden kann."

In Verfolg dieser Aufforderung wurde zunächst von der Ratsarbeitsgruppe Atomfragen
eine “Methodik" und anschließend ein "Bericht über nukleare Sicherheit im Kontext der
Erweiterung" erarbeitet. Letzteres erfolgte gemeinsam mit der ad-hoc Arbeitsgruppe zu
nuklearer Sicherheit (AQG/WPNS), die Anfang des Jahres 2001 ihre Arbeit aufnahm.

Österreich hat sich an den Arbeiten dieser Gruppe sehr intensiv beteiligt und seine
Standpunkte in den Diskussionsprozess eingebracht. Ein Großteil der österreichischen
Sorgen und Anliegen fand - nicht zuletzt durch die umsichtige schwedische
Präsidentschaft - Eingang in den Bericht.

b) Eckpunkte des Berichts der RAG Atomfragen:
Wichtige Punkte des Berichts:

•   Allgemeine  und  länderspezifische  Empfehlungen  an  die betroffenen  Beitritts-
kandidaten

•    Evaluierung sowohl der Kernkraftwerke als auch der anderen  Nuklearanlagen
(Forschungsreaktoren, Brennstoffzyklus, Behandlung radioaktiver Abfälle)

•   Verankerung  der  Möglichkeit zur  Behandlung  dieser und  anderer  Punkte  im
Rahmen anderer Foren

•    Follow-up- und Evaluierungsmechanismus im Rahmen des Erweiterungsprozesses

Der Bericht enthält drei “allgemeine Empfehlungen", wobei für wesentliche österreichische
Anliegen im Zusammenhang mit dem KKW Temelin besonders die zweite von Bedeutung
ist, die sich u.a. auf “alle relevanten internen und externen Gefahren (z.B. Erdbeben)" und


die Analyse schwerer Unfälle unter Einbeziehung “aller Stufen des
Sicherheitseinschlusses" bezieht (darin sind sowohl der Reaktordruckbehälter als auch
das Containment enthalten).

Die ebenfalls in diesem Bericht enthaltenen länderspezifischen Empfehlungen sind
ausdrücklich im Zusammenhang mit den allgemeinen Empfehlungen zu lesen. Die
länderspezifischen Empfehlungen für Bulgarien, Litauen und die Slowakische Republik
nehmen auch auf die jeweiligen Schließungsverpflichtungen Bezug bzw. bringen die
diesbezüglichen Erwartungen der EU zum Ausdruck.

Auszug aus den anlagenspezifischen (länderspezifischen) Empfehlungen des Berichts
hinsichtlich österreichischer Nachbarstaaten:

Bohunice                              weitere       Verbesserung       des       Sicherheitseinschlusses

(Confinement), Erdbebensicherheit,
Dukovany, Mochovce,
Paks                                     Verifizierung       der       vollen        Funktionsfähigkeit       des

Sicherheilseinschlusses (Confinement/Bubbler condenser)
Krsko                                    Verifizierung der Erdbebensicherheit
Temelin                               28,8m    Bühne    (Frischdampf-   u.    Speisewasserleitungen),

Ventilqualifikation.

Weitere Sicherheitspunkte werden in einem separaten technischen Dokument
(“Ländertabellen") angesprochen und sind mit einer Wertung aus Sicht der Arbeitsgruppe
versehen. Die für Österreich wichtigen Einträge in dieser Tabelle (insbesondere zur
Erdbebensicherheit, zu Werkstofffragen und zum Containment) erhielten alle die
Bewertung “ausreichend durch die zweite oder dritte allgemeine Empfehlung abgedeckt"
Damit ist sichergestellt, dass alle sicherheitsrelevanten Fragen im weiteren
Beitrittsprozess angesprochen und Verbesserungsmaßnahmen verfolgt werden können.

Der AStV hat die Gruppe Erweiterung aufgefordert, “diesen Empfehlungen bei den
Beitrittsverhandlungen Rechnung zu tragen" sowie ab Beginn des Jahres 2002 ein
Monitoring in Form eines “Pre-Review" Prozesses unter der Koordination der Gruppe
Atomfragen (AQG) durchzuführen. In einer Protokollerklärung zur letztgenannten Tagung
des AStV unterstrich Österreich, dass es wahrend des Monitoring im Rahmen des “Pre-
Review" Prozesses alle relevanten Dokumente zur Sprache bringen werde.

Am 24. Juli 2001 wurden von der EK länderspezifische Auszüge aus o.e. Bericht mit der
Aufforderung an die Beitrittskandidaten geschickt, sich bis spätestens Ende Oktober 2001
zur Umsetzung der “Empfehlungen" zu verpflichten und einen diesbezüglichen Zeitplan
vorzulegen.


Bislang liegen erste Reaktionen der Tschechischen Republik, der Slowakischen Republik
und Litauens vor.

c) Stand der Beitrittsverhandlungen zum Kapitel “Energie":

Bis dato sind die Beitrittsverhandlungen zum Kapitel “Energie" mit Ungarn (ohne
Gewährung einer Übergangsfrist), Slowenien, Polen, Zypern, Malta (jeweils mit
Übergangsfristen im Bereich der Erdölbevorratung) sowie mit der Slowakei vorübergehend
abgeschlossen, mit Rumänien sowie mit Bulgarien sind die Verhandlungen noch nicht
eröffnet worden.

Neben der Tschechischen Republik ist das Energiekapitel somit noch mit Estland,
Lettland und Litauen weiterhin offen, wobei Estland und Lettland über keine
Kernkraftwerke verfügen.

Im nunmehr vorliegenden Midterm-Review-Papier der EK zu den Beitrittsverhandlungen
wird darauf hingewiesen, dass neben den noch offenen Fragen zur nuklearen Sicherheit
vor allem Fragen des Energiebinnenmarktes sowie der Erdölbevorratung noch zu klären
seien. Während im Bereich der Erdölbevorratung bereits Lösungsansätze in Form
ausverhandelter Übergangsfristen mit Malta, Zypern, Polen und Slowenien vorliegen,
müssen für den diffizilen Bereich der Energiebinnenmarktliberalisierung, für den auch die
Tschechische Republik Übergangsfristen verlangt, noch Lösungen gefunden werden

d) Übersicht über den Verhandlungsstand mit jenen Beitrittskandidaten, mit denen das
Kapitel “Energie" noch nicht abgeschlossen wurde:

Litauen fordert eine Übergangsfrist im Bereich der Erdölbevorratung bis 2007
Hauptproblempunkt bei den Verhandlungen ist jedoch die Frage des Zeitpunktes der
geplanten Schließung der beiden Reaktorblöcke des KKW Ignalina. Litauen hat sich
bereits zur Schließung des ersten Blocks vor 2005 verpflichtet. Über die Schließung des
zweiten Blocks will die litauische Regierung erst 2004 eine Entscheidung treffen. Dies ist
für die Union nicht akzeptabel. Eine klare Festlegung auf einen Schließungszeitpunkt vor
2009 wird von der Europäischen Union gefordert.

Sowohl Estland als auch Lettland haben Probleme bei der Umsetzung der Liberalisierung
des Energiebinnenmarktes und fordern daher Derogationen für bestimmte Teile der
Strom- bzw. Gasrichtlinie.

Estland sieht sich aufgrund der verstärkten Förderung der Energiegewinnung aus
Ölschiefer (eine in der EU bislang kaum genützte Form der Energiegewinnung) mit der
Notwendigkeit konfrontiert, aus wettbewerbsrechtlichen Gründen (state aid- sowie


stranded costs-Problematik) eine Derogation im Bereich des Energiemarktes zu
verlangen. Auch eine Umstrukturierung der Ölschieferindustrie zur Effizienzsteigerung bei
der Energiegewinnung würde längere Übergangsfristen notwendig machen.

Lettland hat bei der Privatisierung der lettischen Gasgesellschaft 1999 dem
Investorenkonsortium eine 20jährige Monopolstellung auf dem lettischen Markt gewährt.
Da diese mit den Vorschriften des Acquis communautaire nicht vereinbar ist, wird derzeit
auf Ebene technischer Konsultationen mit der Europäischen Kommission nach einer
Lösung gesucht.

Zu keinem der baltischen Beitrittskandidaten liegt bisher ein Entwurf für eine Gemeinsame
Position zum vorläufigen Abschluss dieses Verhandlungskapitels vor. Eine Diskussion auf
Ebene der RAG Erweiterung ist laut Europäischer Kommission in diesem Jahr nicht mehr
zu erwarten.

Zum Stand mit der Tschechischen Republik wird auf die Beantwortung der Frage 8
verwiesen.

Zu Fragen 3, 4 und 7:

Seit Beginn der Beitrittsverhandlungen wird von der österreichischen Bundesregierung die
Frage der nuklearen Sicherheit von Kernkraftwerken und der Schließung bestimmter
Reaktorblöcke in den Kandidatenländern zu einem der zentralen österreichischen
Themen in diesem Prozess gemacht. Auf die Bedeutung dieser Problematik wird seit
1998 regelmäßig sowohl auf multilateraler - im EU-Kontext - wie auch auf bilateraler
Ebene hingewiesen.

Bei allen Tagungen des Rates Allgemeine Angelegenheiten, in denen die Erweiterung auf
der Tagesordnung steht, ist die nukleare Sicherheit stets eines der von Österreich
berührten zentralen Themen. Es darf als bekannt vorausgesetzt werden, dass Österreich
im Erweiterungsprozess eine Vielzahl von Interessen zu wahren hat; die Frage der
nuklearen Sicherheit gehört zweifellos zu den zentralen Themen Österreichs in diesem
Prozess. Dabei muss aber darauf hingewiesen werden, dass andere EU-Mitgliedstaaten
im Rahmen der Beitrittsverhandlungen andere Prioritäten haben und die nukleare
Sicherheit nur als einen Aspekt des Erweiterungsprozesses sehen.

Zentraler Erfolg der diesbezüglichen jahrelangen österreichischen Bemühungen ist, dass
trotz Nichtvorhandenseins gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften über die nukleare
Sicherheit dieser Aspekt zu einem der herausragendsten Bereiche im Rahmen der
Beitrittsverhandlungen geworden ist. Die Beratungen im Rahmen des
Verhandlungskapitels “Energie" erstrecken sich somit nicht nur auf Erdölbevorratung,


Elektrizitäts- und Erdgasmärkte sowie Energiewirtschaft, sondern auch auf sehr detaillierte
und technische Aspekte im Bereich der nuklearen Sicherheit.

Ebenso konnte auch dank österreichischen Engagements in der Europäischen Union
Einvernehmen erzielt werden, dass jene Reaktoren, die der ersten Reaktorengeneration
sowjetischer Bauart zuzuordnen sind, stillgelegt werden müssen. Es handelt sich hierbei
um zwei Reaktorblöcke des KKW Bohunice, vier Reaktorblöcke des KKW Kozloduj sowie
um zwei Reaktorblöcke des KKW Ignalina. Es darf an dieser Stelle betont werden, dass
eine übereinstimmende Auffassung in der Europäischen Union lediglich hinsichtlich der
Schließung dieser Reaktorblöcke besteht.

Zu Frage 6:

Gemäß dem Verhandlungsgrundsatz “nothing is agreed until everything is agreed" werden
die einzelnen Verhandlungskapitel nur “vorläufig" abgeschlossen. Ein Abschluss der
Beitrittsverhandlungen mit einem Bewerberland liegt daher erst dann vor, wenn alle 31
Verhandlungskapitel vorläufig abgeschlossen worden sind. Im übrigen wird auf die
Ausführungen zu den Fragen 2, 4 und 5 verwiesen.

Zu Fragen 8, 10, 11, 13 und 16:

Die Bundesregierung wird im Sinne ihrer Beschlüsse und der bisherigen
parlamentarischen Entschließungen dem vorläufigen Abschluss des Energiekapitels im
Rahmen der Beitrittsverhandlungen mit der Tschechischen Republik nur zustimmen, wenn
folgende Voraussetzungen erfüllt sind:

Die Tschechische Republik verpflichtet sich

- im Rahmen einer Neuverhandlung des bilateralen “Nuklearinformationsab-
kommens" die Standards des Informationsaustausches auf ein neues,
höchstmögliches Niveau anzuheben

-    die von Österreich in die Diskussion eingebrachten zentralen 7
Sicherheitsprobleme zu lösen und die Lösungen umzusetzen

- die 21 im Bericht der tschechischen UVP - Kommission bezüglich der
Umweltverträglichkeit des KKW Temelin definierten Maßnahmen genauestens
umzusetzen

-  den vereinbarten Maßnahmen jenen hohen Grad der Verbindlichkeit einzuräumen,
der die Umsetzung seitens der Tschechischen Republik und insbesondere auch
seitens der jeweiligen Eigentümer der Temelin-Betreibergesellschaft auch künftig
garantiert.


Diese mit der Tschechischen Republik bezüglich des KKW Temelin zu vereinbarende
Vorgangsweise wird auch im Rahmen des Beitrittsprozesses auf wirksame Weise
verankert.

Es darf auch darauf hingewiesen werden, dass Voraussetzung für eine Behandlung des
Kapitels “Energie" die Vorlage eines Entwurfs einer “Gemeinsamen Position" der Union
durch die EK ist. Bislang liegt ein derartiges Dokument nicht vor.

Zu Frage 9:

Zusätzlich zu den diesbezüglichen Bemühungen der Bundesregierung auf europäischer
Ebene wird im Rahmen des bilateralen Nuklearinformationsabkommens die Frage der
nuklearen Sicherheit des KKW Temelin regelmäßig von österreichischer Seite
thematisiert. Weiters werden bilaterale Expertentreffen wie auch workshops über einzelne
Sicherheitsfragen des KKW Temelin abgehalten.

Zu Frage 12:

Diesbezüglich wird auf die Ausführungen zu den Fragen 2, 4 und 5 verwiesen.

Zu Fragen 14 und 15:

Ja. Sämtliche Dokumente, die Gegenstand der Beitrittsverhandlungen bilden, werden von
der Ständigen Vertretung Österreichs bei der Europäischen Union auch dem Parlament
übermittelt.

Zu Fragen 17 und 18:

Das Europäische Parlament hat am 5. September 2001 die Entschließung zum Antrag der
Tschechischen Republik auf Aufnahme in die Europäische Union und zum Stand der
Verhandlungen verabschiedet, in der unter anderem die EK aufgefordert wird, “eine
internationale Konferenz einzuberufen, um über Ausstiegsmöglichkeiten und
Ausstiegskosten sowie über die Möglichkeit eines internationalen Ausstiegsangebotes für
Tschechien zu beraten". Bereits am 6. September 2001 wandte sich der Bundeskanzler
diesbezüglich schriftlich an MP ZEMAN, Kommissionspräsident PRODI sowie an den
gegenwärtigen Ratsvorsitzenden, den belgischen MP VERHOFSTADT,

Die Tschechische Republik ihrerseits ist bekanntlich nicht bereit, einen “Ausstieg" in
Erwägung zu ziehen. Es konnte auch im Zuge der Umweltverträglichkeitsprüfung zum
Thema “Nullvariante" bzw. Nicht-Inbetriebnahme keine Einigung über die zu erwartende
Entwicklung des tschechischen Elektrizitätsmarktes und der tschechischen Exportchancen
erzielt werden.