4078/AB XXI.GP
Eingelangt am: 29.08.2002
DER BUNDESMINISTER FÜR JUSTIZ
Die Abgeordneten zum Nationalrat Mag. Christine Lapp,
Kolleginnen und Kollegen
haben an mich eine schriftliche Anfrage betreffend “Bericht der
Bundesregierung zur
Durchforstung der österreichischen Bundesrechtsordnung hinsichtlich
behinderten-
benachteiligender Bestimmungen (HI-178 der Beilagen, XX. Gesetzgebungsperio-
de)"
gerichtet.
Ich beantworte diese Anfrage wie folgt:
Zu 1 bis 3:
Ich
kann Ihnen versichern, dass es mir ein Anliegen war und ist, die
Lebenssituation
von behinderten Menschen in Österreich zu verbessern. Die ungestörte
Kommunika-
tion zwischen Gericht und Parteien zu gewährleisten, gerade auch
behinderten Par-
teien ihr volles rechtliches Gehör zu garantieren und insofern ihrer
Menschenwürde
besser gerecht zu werden, sowie - nicht zuletzt - der Sachaufklärung und
Wahrheits-
findung bestmöglich zu dienen, waren bereits Anstoß zu
entsprechenden gesetzli-
chen Regelungen im Bereich des von der Anfrage angesprochenen Verfahrens-
rechts.
Für den Bereich des Zivilverfahrens wurde zu Beginn
des Jahres 1999 eine Ände-
rung der ZPO beschlossen, wonach dann, wenn eine gehörlose oder stumme
Partei
zur mündlichen Verhandlung weder mit einem geeigneten
Bevollmächtigten noch mit
einem Dolmetsch für Gebärdensprache erscheint,
die Tagsatzung zu erstrecken und
von Amts wegen ein solcher Dolmetsch beizuziehen ist, dessen Kosten der Bund
trägt (§ 185 Abs. 1 a ZPO idF BGBI. l Nr. 21/1999). Diese Regelung
ist mit 1.1.1999
in Kraft getreten. Für das neue Außerstreitgesetz, das noch im
Herbst 2002 dem
Parlament zugeleitet werden soll, ist eine entsprechende Regelung geplant.
Durch diese Änderungen der Verfahrensgesetze wurde
einerseits eine ideelle Ver-
besserung erreicht, und zwar durch die Klarstellung, dass gehörlose und
schwerhö-
rende Personen zu einer verständlichen Äußerung über den
Gegenstand des
Rechtsstreites in der mündlichen Verhandlung sehr wohl fähig sind.
Sie können nun
selbst und nicht nur durch ihre Vertreter relevante Erklärungen abgeben
und wirk-
same Anträge stellen. Andererseits wirkt sich die Verbesserung auch
realiter aus.
Das Gericht hat die Verhandlung kurzfristig zu vertagen und zum nächsten
Termin
von Amts wegen einen entsprechenden Dolmetsch beizuziehen. Vor allem aber
wurde normiert, dass der Bund die Kosten dieses Dolmetschers für die
Gebärden-
sprache trägt, und zwar nicht allein für den vom Gericht bestellten,
sondern auch für
den von der Partei selbst mitgebrachten. Durch diese Verankerung des
Gebärden-
dolmetsch wird ein faktischer Zustand hergestellt, der den besonderen
Bedürfnissen
gehörloser und schwerhörender Menschen Rechnung trägt.
Gerichtsverfahren
werden auch dort, wo sie mündlich durchgeführt werden, von der
schriftlichen Dokumentation des Vorgefallenen beherrscht; dazu kommt sonstiges
anfallendes Schriftgut. Die Kenntnis des Aktes kann für die Führung
des Prozesses
entscheidend sein. Blinde oder hochgradig sehbehinderte Personen sollen gleiche
Chancen vorfinden. Daher sieht § 79a GOG vor, dass erforderlichenfalls das
Gericht
dafür zu sorgen hat, dass eine blinde oder hochgradig sehbehinderte
Person, die
nicht vertreten ist, vom wesentlichen Inhalt der zugestellten
Schriftstücke und der bei
Gericht befindlichen Akten Kenntnis erlangen kann; die Kosten hiefür
trägt der Bund.
Kann damit nicht das Auslangen gefunden werden, so ist der Partei
unabhängig von
ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen auf Antrag
Verfahrenshilfe zu ge-
währen (BGBI. l Nr. 164/1999), damit sie zumindest über einen
geeigneten Vertreter
verfügt, der ihr Aktenkenntnis vermitteln kann. Die Akteneinsicht für
blinde oder
hochgradig sehbehinderte Personen trägt mit dazu bei, gerade auch
behinderten
Parteien volles rechtliches Gehör zu garantieren und insofern ihrer
Menschenwürde
besser gerecht zu werden, sowie - nicht zuletzt - der Sachaufklärung und
Wahrheits-
findung bestmöglich zu
dienen.
Um die ungestörte schriftliche Kommunikation zwischen
Gericht und Parteien zu er-
möglichen und Benachteiligungen im Zustellrecht auszugleichen hat die
Bundesre-
gierung für behindertengerechte Zustellformulare durch eine Änderung
der Zustell-
formularverordnung Sorge getragen (BGBI. II Nr. 493/1999). Entsprechend den Vor-
gaben dieser Verordnung wurden auch die von der Justiz für die
Hinterlegung bzw.
Ankündigung des zweiten Zustellversuchs verwendeten Formulare für
gerichtliche
Zustellungen rechtzeitig angepasst.
In Strafverfahren kommen behinderten Personen schon auf
Basis des geltenden
Rechts eine Reihe von Maßnahmen zu Gute, mit deren Hilfe die aus der
Behinde-
rung resultierende faktische Benachteiligung ausgeglichen oder zumindest
vermin-
dert
werden soll.
Können sich in einem Strafverfahren beschuldigte,
behinderte Personen auf Grund
ihrer Behinderung nicht selbst (zweckentsprechend) verteidigen, so hat ihnen
das
Gericht - auch ohne Antrag - einen Verfahrenshilfeverteidiger beizugeben, wenn
die allgemeinen Verfahrenshilfekriterien erfüllt sind; auf die Schwere der
ihnen zur
Last gelegten Straftat (oder auf die anstehende Prozesshandlung) kommt es - an-
ders als bei nicht behinderten Personen - in diesen Fällen nicht an
(§ 41 Abs. 2 Z 6
StPO). Die Kosten eines solchen Verfahrenshilfeverteidigers müssen
behinderte Be-
schuldigte nicht oder nur zum Teil tragen.
Privatbeteiligte und Zeugen, die wegen ihrer Behinderung
nicht vor Gericht erschei-
nen können, können im Vorverfahren in ihrer Wohnung und in der
Hauptverhandlung
mit Hilfe von Ton- und Bildübertragungseinrichtungen vernommen werden
(§§ 154,
247a
StPO).
Behinderte
Zeugen können verlangen, dass während ihrer Vernehmung eine Person
ihres Vertrauens anwesend ist. Im Falle geistiger Behinderung von Zeugen hat das
Gericht von Amts wegen, d.h. ohne Antrag, dafür zu sorgen (§ 162 Abs.
2 und 3
StPO). Die Regierungsvorlage zu einem Strafprozessreformgesetz, welche der Mi-
nisterrat im Juni 2002 dem Nationalrat zugeleitet hat (1165 BlgNR XXI. GP), wird
das Recht auf Anwesenheit einer Vertrauensperson auf Beschuldigte ausweiten
(§164
Abs. 2 RV).
Für behindertengerechte Zustellformulare hat eine
Änderung der - in die Zuständig-
keit des BKA fallenden - Zustellformularverordnung (BGBI. II Nr. 492/1999) gesorgt.
Die von der Justiz verwendeten Formulare wurden daran angepasst.
Für gehörlose oder stumme Zeugen oder
Beschuldigte ist grundsätzlich ein Dolmet-
scher für die Gebärdensprache beizuziehen. Können sich
Beschuldigte oder Zeugen
nicht in der Gebärdensprache verständigen, so haben Richterinnen und
Richter mit
ihnen schriftlich oder auf andere geeignete Weise zu kommunizieren
(§§ 164, 198
Abs. 3 StPO). Darüber hinaus kommen gehörlosen oder stummen Personen
auch
die bereits erwähnten Hilfestellungen zu Gute.
Auf Grund der regen Bautätigkeit im Justizbereich - in
den letzten zwölf Jahren wur-
den mehr als 50% der Gerichtsgebäude neu gebaut, generalsaniert, umgebaut
oder
behindertengerecht erschlossen - kann davon ausgegangen werden, dass nahezu
alle Gerichtsgebäude behindertengerecht ausgestattet sind. In diesem
Zusammen-
hang möchte ich auf ein Vorhaben im Bereich des Bundesministeriums
für Justiz
hinweisen. Im Rahmen eines vom Bundessozialamt geförderten Projektes habe
ich
den Auftrag erteilt, für die Wiener Gerichtsgebäude und das Palais
Trautson die Er-
hebung der Zugänglichkeit für Personen mit
Mobilitätsbeschränkungen durchzufüh-
ren. Die Ergebnisse werden im
Internet unter www.you-too.net veröffentlicht. Eine
entsprechende Erhebung in den Landeshauptstädten ist in Aussicht genommen.
Sollte die bauliche Ausgestaltung eines
Gerichtsgebäudes im Hinblick auf die behin-
dertengerechte Erschließung zu verbessern sein, so darf ich
diesbezüglich auf die
entsprechenden Bestimmungen im Bundesvergabegesetz hinweisen (BVergG 1997
§ 34, BVergG 2002 §
73), wonach bei der Planung und Errichtung von Neubauten
als auch bei der Planung und Errichtung von Zu- und Umbauten auf die
einschlägi-
gen Vorschriften betreffend das barrierefreie Bauen Bezug zu nehmen ist. Werden
Baumaßnahmen durch
private Bauträger errichtet, wird von meinem Ressort auf
eine entsprechende Anwendung der
Bestimmungen geachtet.
Zu
dem mit der vorliegenden Anfrage nicht angesprochenen Bereich des materiellen
Rechts darf ich insbesondere auf das Bundesgesetz zur Beseitigung behinderten-
diskriminierender Bestimmungen, BGBI. l Nr. 164/1999, und die im Rahmen des
1. Euro-Umstellungsgesetzes - Bund, BGBI. l Nr. 98/2001, erfolgten
Änderungen
des Notariatsaktgesetzes und des Notariatstarifgesetzes hinweisen.