475/AB XXI.GP

 

zur Zahl 484/J-NR/2OOO

 

Die Abgeordneten zum Nationalrat MMag. Dr. Madeleine Petrovic, Freundinnen und

Freunde haben an mich eine schriftliche Anfrage betreffend „Landfriedensbruch

(§ 274 StGB)“ gerichtet.

 

Ich beantworte diese Anfrage wie folgt:

 

Zu 1:

 

Kommt es bei gewalttätigen Demonstrationen zur Verwirklichung von Straftaten, so

sind diese typischerweise durch das Zusammenwirken mehrerer Personen gekenn -

zeichnet. Masse und Anonymität schaffen dabei schwierige Beweis - aber auch

Rechtsfragen. Dies gilt insbesondere für Konstellationen, in denen mehrere Demon -

stranten das selbe deliktische Ziel anstreben, beispielsweise es sich mehrere De -

monstranten zum Ziel setzen, eine Auslagenscheibe durch Steinwürfe zu zertrüm -

mern und diese in der Folge auch zu Bruch geht, ohne dass sich feststellen lässt,

welcher der Werfer nun tatsächlich den „erfolgreichen“ Wurf getätigt hat. Die Delikte

gegen den öffentlichen Frieden schaffen hier in bestimmten Bereichen Abhilfe. Bei

den §§ 274 ff StGB handelt es sich zwar nicht um „Demonstrationsdeliktette", dennoch

können sie, insbesondere § 274 StGB, gerade auch bei gewaltsamen Demonstratio -

nen zum Tragen kommen. Der Landfriedensbruch nach § 274 StGB ist ein Delikt,

das auf eine große Menschenmenge (genauer: ihre Zusammenrottung) beschränkt

ist. Die Tathandlung besteht im Teilnehmen an einer Zusammenrottung einer Men -

schenmenge, die darauf abzielt, dass unter ihrem Einfluss ein Mord (§ 75), ein Tot -

schlag (§ 76), eine Körperverletzung (§§ 83 bis 87) oder eine schwere Sachbeschä -

digung (§126) begangen wird. Unter Zusammenrottung ist nicht schon jede Vereini -

gung mehrerer oder auch vieler Menschen zu verstehen, sondern nur eine solche

Vereinigung, die die alsbaldige Verwirklichung eines gesetzwidrigen Ziels bezweckt;

erst dies macht aus einer Ansammlung, Versammlung oder einem Umzug eine Zu -

sammenrottung. Zusammenrotten ist also immer das räumliche Zusammentreten zu

einem gemeinschaftlichen, erkennbar gesetzwidrigen bedrohlichen oder gewalttäti -

gen Handeln. Allerdings kann sich auch aus einer zunächst friedlichen, zulässigen

Demonstration oder Versammlung eine Zusammenrottung entwickeln, sie kann so -

zusagen dazu umfunktioniert werden, etwa wenn die friedlichen Ziele aufgegeben

werden und an ihre Stelle ein gesetzwidriges Ziel tritt. Menschenmenge ist eine gro -

ße, unbestimmte Anzahl von Menschen, die nicht mehr überblickt werden kann, die

also jedenfalls so groß ist, dass der Einzelne darin nicht mehr im Stande ist, mit je -

dem anderen Einzelnen in unmittelbare Kommunikation zu treten, und es gleichgültig

ist, ob ein Einzelner weggeht oder hinzutritt. Entscheidend ist der äußere Eindruck

zahlenmäßiger Unbestimmtheit.

 

An der Zusammenrottung nimmt teil, wer sich ohne Not der Menge anschließt oder

wer ohne Not in der Menge bleibt, nicht aber, wer sich aus ihr nicht zurückziehen

kann, weil er in die Menge eingekeilt ist, und wer ohne sein Verschulden in die Men -

ge hineingezogen wird.

 

Wird keine der erwähnten Gewalttaten gesetzt, so ist die Teilnahme an der Zusam -

menrottung straflos. Kommt es dagegen zu einer solchen Gewalttat, dann haftet

nach § 274 StGB nicht nur derjenige, der sich an der Gewalttätigkeit beteiligt, son -

dern jeder Teilnehmer, mag er auch selbst nicht gewalttätig geworden sein und dies

auch nicht gewollt haben. Für die Teilnahme an der Zusammenrottung ist Wissent -

lichkeit (§ 5 Abs. 3 StGB) gefordert. Der Teilnehmer muss also um die Ziele der Zu -

sammenrottung wissen, bedingter Vorsatz genügt somit nicht (vgl. Leukauf/Steinin -

ger, StGB3, Rz 2 bis 8 zu § 274).

 

Zu 2:

 

Wie bereits ausgeführt, liegt die besondere Bedeutung des § 274 StGB gerade dar -

in, dass zwar der Täter mit entsprechendem Vorsatz an der Zusammenrottung teil -

nehmen und sich weiters eine Gewalttat ereignen muss, dass es aber auf einen spe -

zifischen zurechnungsmäßigen Zusammenhang zwischen der Teilnahme des Einzel -

nen an der Zusammenrottung und dem begangenen Delikt gerade nicht ankommt. §

274 StGB ist als abstraktes Gefährdungsdelikt mit einer objektiven Bedingung der

Strafbarkeit zu verstehen. Muss also ein zurechnungsmäßiger Konnex zur Handlung

des Einzelnen nicht bestehen, so hat der Gesetzgeber durch die Formulierung des §

274 StGB doch ein wesentliches und rechtsstaatlich jedenfalls erforderliches Haf -

tungsventil vorgezeichnet, welches im Wesentlichen eine Realisierung der spezifi -

schen Massengefährlichkeit im verwirklichten Delikt fordert: die Gewalttat muss sich

als Ausfluss der Zusammenrottung und ihrer spezifischen Gefährlichkeit erweisen.

Die Wissentlichkeit des Teilnehmers muss sich darauf beziehen, dass die Zusam -

menrottung darauf abzielt, zumindest eines der angeführten Delikte zu verwirklichen.

Es muss aber auch objektiv zu einer "solchen“ Gewalttat gekommen sein. Damit ist

nicht nur die Deliktskategorie gemeint, es muss sich auch objektiv um eine Delikts -

verwirklichung als Ergebnis der spezifischen Gefahr der Zusammenrottung handeln:

zur Deliktsverwirklichung muss es gerade unter dem Einfluss der Zusammenrottung

der Menschenmenge gekommen sein (vgl. Lewisch, Haftungsfragen und gewaltsa -

me Demonstrationen, AnwBl. 1990, 685).

 

Zu 3:

 

§ 25 StPO enthält ein Verbot der Verwendung eines Lockspitzels (agent provoca -

teur), dh einer Person, die jemanden zu verleiten sucht, an die Ausführung einer

strafbaren Handlung zu schreiten, um ihn einer strafgerichtlichen Verfolgung auszu -

liefern, oder die dem anderen zum gleichen Zweck unter falschem Schein ein Ge -

ständnis entlocken soll. Die bloße Observation und Überwachung eines Verdächti -

gen und das Zuwarten mit einem behördlichen Tätigwerden bis zu einem fortge -

schrittenen Ausführungsstadium sind weder als „Verleitung zur Straftat“ noch als

„Verlockung zu Geständnissen“ anzusehen (vgl. Foregger-Kodek, StPO7, Anm. I und

II zu § 25 mwN).

 

Im Übrigen gehe ich im Anlassfall davon aus, dass die Sicherheitsbehörde in Erfül -

lung ihrer Aufgaben nach § 21 (Gefahrenabwehr) und § 22 (vorbeugender Schutz

von Rechtsgütern) des Sicherheitspolizeigesetzes eingesch ritten ist, sodass einer -

seits die Voraussetzungen des § 25 StPO nicht gegeben sind und andererseits auch

ein Rechtfertigungsgrund für die (scheinbare) Teilnahme von Beamten der Sicher -

heitsexekutive an der Demonstration vorliegt.

Zu 4:

 

Ja.

 

Zu 5 und 6:

 

Den Sicherheitsbehörden obliegt die Aufgabe, gefährlichen Angriffen auf Leben, Ge -

sundheit, Freiheit, Sittlichkeit, Vermögen oder Umwelt vorzubeugen, sofern solche

Angriffe wahrscheinlich sind (§ 22 Abs. 2 SPG). Sie haben nicht nur einen gefährli -

chen Angriff, der in der Bedrohung eines Rechtsgutes nach dem Strafgesetzbuch

oder bestimmten strafrechtlichen Nebengesetzen durch die rechtswidrige Verwirkli-

chung des Tatbestands einer gerichtlich strafbaren Handlung, die vorsätzlich began -

gen und nicht bloß auf Begehren eines Beteiligten verfolgt wird, abzuwehren, son -

dern einem solchen Angriff auch unverzüglich ein Ende zu setzen (§ 21 SPG).

 

Eine Verpflichtung zur unverzüglichen Festnahme von verdächtigen Personen ver -

mag ich schon deshalb nicht zu erkennen, weil nach den §§ 175 Abs. 3 und 177

Abs. 4 StPO Festnahme und Anhaltung nicht zulässig sind, soweit sie zur Bedeutung

der Sache außer Verhältnis stehen. Die Festnahme setzt zudem einen hinreichend

konkretisierten Tatverdacht voraus, dessen Erhebung gegebenenfalls das Zuwarten

mit einem Zugriff rechtfertigen kann. Dazu kommt, dass § 23 des Sicherheitspolizei -

gesetzes („Aufschub des Einschreitens“) die Sicherheitsbehörden unter bestimmten

Voraussetzungen ermächtigt, von der unverzüglichen Beendigung gefährlicher An -

griffe Abstand zu nehmen.

 

Beim Einschreiten gegen bestimmte Täter einer gewaltbereiten Gruppe, die im zeitli -

chen und örtlichen Zusammenhang mit einer Demonstration tätig wird, ist schließlich

auch zu bedenken, dass ein sofortiger Zugriff das Risiko gewalttätiger Verhaltens -

weisen in der konkreten Situation auch erhöhen oder die einschreitenden Beamten

ihrerseits gewaltsamen Angriffen aussetzen kann, sodass eine situationsbezogene

Risiko - und Interessenabwägung vorgenommen werden muss.

 

Zu 7:

 

Ich verweise auf meine Antwort zu den Fragen 1. bis 3.

 

Zu 8 und 9:

 

Auf Grund einer auf einen Medienbericht gestützten anonymen Anzeige gegen den

Präsidenten der Bundespolizeidirektion Wien und Polizeibeamte der Sondereinsatz -

gruppe Kriminaldienst der Bundespolizeidirektion Wien wegen § 302 Abs. 1 StGB

hat die Staatsanwaltschaft Wien die Vornahme verdeckter Ermittlungen auf ihre

strafrechtliche Relevanz geprüft. Da das Einschleusen der „vermummten“ Polizeibe -

amten unter die gewaltbereiten Demonstranten geeignet gewesen sei, gefährliche

Angriffe, wie sie auf Grund der Erfahrung von früheren „Opernballdemonstrationen“

zu erwarten gewesen seien, abzuwehren, kam die Staatsanwaltschaft Wien zum Er -

gebnis, dass sich insbesondere unter Berücksichtigung des § 54 Abs. 3 SPG keine

grundsätzlichen rechtlichen Bedenken hinsichtlich des zur Anzeige gebrachten Vor -

gehens der Sicherheitsbehörde ergeben hätten. Sie legte daher die Anzeige am

27. März 2000 gemäß § 90 Abs. 1 StPO zurück.

 

Im Hinblick darauf, dass das Verhalten der verdeckt einschreitenden Beamten selbst

dann, wenn es den Tatbestand des Landzwangs nach § 274 Abs. 1 StGB verwirk -

licht haben sollte, durch die Bestimmungen des Sicherheitspolizeigesetzes gerecht -

fertigt wäre (Rechtfertigungsgrund der Ausübung einer Amts - oder Dienstpflicht), be -

steht für weitere Maßnahmen durch das Bundesministerium für Justiz kein Anlass.