89/AB XXII. GP

Eingelangt am 04.04.2003
Dieser Text ist elektronisch textinterpretiert. Abweichungen vom Original sind möglich.

BM für Justiz

 

 

Anfragebeantwortung

Die Abgeordneten zum Nationalrat Mag. Terezija Stoisits, Kolleginnen und Kollegen
haben an mich eine schriftliche Anfrage betreffend „Begnadigung von Opfern des
§ 209 StGB" gerichtet.

Ich beantworte diese Anfrage wie folgt:

Zu 1 und 2:

Die Österreichische Präsidentschaftskanzlei hat in dieser Gnadensache das
Bundesministerium für Justiz mit Note vom 16. Dezember 2002 um Prüfung einer
Gnadenbitte ersucht, die der Verurteilte unmittelbar an den Herrn Bundespräsi-
denten gerichtet hatte. Das Bundesministerium für Justiz hat am 17. Jänner 2003
der Österreichischen Präsidentschaftskanzlei Bericht erstattet. In dieser Information
wurde im Wesentlichen darauf hingewiesen, dass der Verurteilte mit mehreren
Burschen, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, längere Zeit hindurch
Sexualkontakte unterhalten und einem seiner Geschlechtspartner eine Wohnmög-
lichkeit zur Verfügung gestellt hatte, nachdem dieser aus der elterlichen Wohnung
gewiesen worden war. Nach der geänderten Gesetzeslage wäre dieses Verhalten
dem Tatbestand des § 207b StGB zu unterstellen (siehe hiezu im Detail die Antwort
zu den Fragenpunkten 3. bis 5.). Die Anwendung dieser Bestimmung würde die
Verhängung der tatsächlich ausgesprochenen, für eine Probezeit von drei Jahren
bedingt nachgesehenen 3-monatigen Freiheitsstrafe zulassen. Aus der Aufhebung
des § 209 StGB könne daher im vorliegenden Fall kein Gnadengrund abgeleitet
werden.


Zu 3, 4 und 5:

Die Änderung strafgesetzlicher Vorschriften stellt nach der ständigen Gnadenpraxis

insoweit einen Gnadengrund dar, als ein Rechtsbrecher, der noch nach der außer
Kraft getretenen Bestimmung abgeurteilt wurde, von Unrechtsfolgen getroffen wird,
die bei Anwendung des geltenden Rechtes auf seinen Fall von vornherein unzu-
lässig wären. In diesem Sinne muss das seinerzeit unter Anklage gestellte Verhalten
rechtlich neu qualifiziert und hiebei zwangsläufig nicht nur auf die vom alten Recht
determinierten Urteilsfeststellungen, sondern vom gesamten Akteninhalt ausgegan-
gen werden, dies freilich unter Berücksichtigung des Grundsatzes "in dubio pro reo".
Diese Neuqualifikation ist eine Folge des Gleichheitsgebotes des Art. 7 Abs. 1 des
B-VG, welches in dem hier interessierenden Zusammenhang verbietet, nach einer
außer Kraft getretenen Vorschrift Verurteilte günstiger zu stellen als Rechtsbrecher,
auf deren Fall von vornherein das geltende Recht anzuwenden ist.

Die zur Beurteilung der Gnadenfrage in diesem Sinne erforderlichen Erkenntnisse
konnten im hier interessierenden Fall um so leichter gewonnen werden, als das
Oberlandesgericht Wien sichtlich unter dem Eindruck der während des Rechtsmittel-
verfahrens erfolgten Rechtsänderung in seiner Entscheidung vom 3. Dezember 2002
auch Überlegungen angestellt hat, die nach dem aufgehobenen § 209 StGB uner-
heblich waren, für die Beurteilung des Falles im Sinne des § 207b leg. cit. aber
bedeutsam sind. Im Wesentlichen liegt folgender Sachverhalt vor:

Der Gnadenwerber hat jeweils für längere Zeit mit insgesamt vier Jugendlichen
während des Schutzalters des § 207b Abs. 1 und Abs. 2 StGB sexuelle Kontakte
unterhalten. Diese Jugendlichen entstammten durchwegs desolaten Verhältnissen
und waren dem Gnadenwerber sowohl hinsichtlich ihres Alters als auch ihrer
sozialen Verhältnisse und ihrer Bildung weit unterlegen.

Jener Jugendliche, dem der Gnadenwerber in der Folge Unterkunft gewährt hat, ge-
hörte der Suchtgiftszene an und hatte zahlreiche Diebstähle verübt. Einer seiner
Freunde hatte bereits sexuellen Kontakt zum Gnadenwerber und ihn dahingehend
informiert, dass der Gnadenwerber "auf Kinder stehe" und auch von ihm geschlecht-
liche Handlungen verlangen werde. Als er wegen schwerer Auseinandersetzungen
die elterliche Wohnung verließ und nicht wusste, wo er schlafen sollte, rief er den
Gnadenwerber, mit dem er bis dahin nur sporadisch zusammen gekommen war, an.


Dieser gewährte ihm hierauf für mehrere Tage Unterkunft in seiner Wohnung, wobei
es wiederholt zu geschlechtlichen Handlungen, an denen beide beteiligt waren, kam.

Bei der rechtlichen Beurteilung dieses Sachverhaltes wurde zunächst die Anwend-
barkeit der Bestimmung des § 207b Abs. 1 StGB ausgeschlossen, da zwar mit Ein-
deutigkeit von einer in jeder Beziehung gegebenen Überlegenheit des Gnaden-
werbers gegenüber seinen Geschlechtspartnern, nicht aber davon auszugehen war,
dass es diesen an der von dieser Gesetzesstelle definierten sexuellen Dispositions-
und Diskretionsfähigkeit gemangelt habe. Dies im Zweifel auch im Falle jenes
Jugendlichen, der mit dem Gnadenwerber einige Zeit zusammen gelebt hat, obwohl
die über ihn gewonnenen Erkenntnisse für eine schwere Entwicklungskrise
sprechen.

Der oben zuletzt erwähnte Jugendliche war durch einen Konflikt im Elternhaus un-
terstandslos geworden und hatte schon wegen seiner eigenen Kriminalität verständ-
licherweise Hemmungen, behördliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Er befand sich
damit ohne Zweifel in einer Zwangslage im Sinne des § 207b Abs. 2 StGB (vgl. die
hiezu vom Nationalrat in seiner Entschließung vom 10.7.2002, E 152-NR/XXI. GP,
angeführten Beispiele). Die Notsituation des Jugendlichen war der Grund für seine
Aufnahme in die Wohnung des Gnadenwerbers, von dem er wusste, dass er das
Zusammenleben für seine sexuellen Zielsetzungen ausnützen werde. "Ausnützen"
im Sinne des § 207b Abs. 1 und Abs. 2 StGB bedeutet nämlich nichts anderes, als
einen bestimmten Umstand zu einem bestimmten Zweck verwerten oder, wie der
Nationalrat in der oben zitierten Entschließung ausgeführt hat, sich zu Nutze machen
(in diesem Sinne wird dieser Begriff auch in anderen strafgesetzlichen Vorschriften -
z.B. §§ 33 Z 7, 128 Abs. 1 Z 1, 313 StGB - verwendet).

Der hier zwischen Unterkunftsgewährung und Sexualkontakt bestehende Konnex ist
allerdings auch im Sinne des § 207b Abs. 3 StGB zu beurteilen. Wie der Nationalrat
in der oben zitierten Entschließung ausgeführt hat, ist der von dieser Gesetzesstelle
verwendete Begriff des Entgelts im Sinne der Legaldefination des § 74 Abs. 1 Z 6
StGB und damit im Sinne einer in Geld bewertbaren Gegenleistung für ein
bestimmtes Verhalten zu verstehen. Die - wenn auch nur zeitweilige - Überlassung
einer Unterkunft ist jedenfalls in Geld zu bewerten (in diesem Sinne auch Fabrizy
StGB8, RZ 13 zu §74).


Nach den Ergebnissen des Gnadenverfahrens war daher davon auszugehen, dass
der Gnadenwerber durch sein von den Gerichten noch nach dem § 209 StGB beur-
teiltes Verhalten nach der geänderten Gesetzeslage die Tatbestände des § 207b
Abs. 2 und Abs. 3 leg. cit. in Idealkonkurrenz verwirklicht hätte.

Zu 6:

Erfüllt das Verhalten eines nach § 209 StGB abgeurteilten Rechtsbrechers alle

Anwendungsvoraussetzungen des § 207b StGB, würde seine gnadenweise Be-
günstigung zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Schlechterstellung der nach
§207b StGB Verurteilten führen, wenn der Gnadengrund in den in der Anfrage
zitierten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte liegen
soll. Es käme diesfalls nicht auf die Straftat und ihre Folgen, sondern lediglich darauf
an, zu welchem Zeitpunkt das Urteil erster Instanz in der betreffenden Sache
ergangen ist. Das Gesetz gewährt selbst in jenen Fällen, in denen der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Menschenrechtskonvention
festgestellt hat, dem von dieser Verletzung betroffenen Verurteilten nicht mehr als
die Erneuerung des Verfahrens und damit - bei Konventionsverletzungen im ma-
teriell rechtlichen Bereich - die Beurteilung seiner Sache nach der zum Zeitpunkt
dieser Verfahrenserneuerung geltenden Rechtslage (§§ 363a bis 363c StPO). Jedes
andere Vorgehen würde auf eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes hinaus
laufen.

Zu 7:

Der Nationalrat hat aus Anlass der Aufhebung des § 209 StGB keine besonderen

Vorschriften hinsichtlich der Dauer und Berechnung von Probezeiten erlassen. Es
gelten somit nach wie vor die allgemeinen Bestimmungen. Die von den Gerichten im
Zusammenhang mit der Verhängung einer bedingten Freiheitsstrafe oder der
bedingten Entlassung aus einer Freiheitsstrafe wegen § 209 StGB festgesetzten
Probezeiten laufen daher auch nach dessen Aufhebung weiter. Dessen ungeachtet
kann nicht von der Gefahr eines jederzeitigen Widerrufs einer bedingten Nachsicht
oder bedingten Entlassung gesprochen werden, zumal § 53 StGB den
Widerrufsbeschluss des Gerichtes an strenge Voraussetzungen knüpft und ein
Widerrufsbeschluss in erster Linie nur dann in Betracht kommt, wenn der Verurteilte
oder bedingt Entlassene innerhalb der Probezeit neuerlich straffällig wird. Ohne der
unabhängigen Rechtssprechung in diesem Punkt vorgreifen zu wollen, wird die


Aufhebung des § 209 StGB meines Erachtens im Rahmen der bei einer allfälligen
Entscheidung über den Widerruf der bedingten Strafnachsicht bzw. der bedingten
Entlassung aus einer Freiheitsstrafe anzustellenden spezialpräventiven
Überlegungen zu berücksichtigen sein. Bei Handlungen, die seinerzeit
gesetzeskonform zu einer Verurteilung nach § 209 StGB geführt haben, im Zeitpunkt
der Entscheidung über den Widerruf aber nicht (auch) unter den Tatbestand eines
der verbliebenen Sexualdelikte (insbes. §§ 206, 207 und 207b StGB) subsumiert
werden könnten, wird in der Regel keine spezialpräventive Notwendigkeit zum
(weiteren) Vollzug der Freiheitsstrafe auszumachen sein bzw. eine
Gefährlichkeitsprognose iSv § 54 Abs. 1 StGB zu Gunsten des Verurteilten aus-
fallen.

Der in der Anfrage erwähnte Beschluss des OLG Wien vom 18.9.2002, 20 Bs
303/02, steht in keinerlei Widerspruch zu dieser Haltung, weil das OLG Wien nicht
über die allfällige bedingte Entlassung aus der Maßnahme nach § 21 Abs. 2 StGB,
sondern über die Möglichkeit einer nachträglichen Strafmilderung gemäß § 31 a
StGB zu entscheiden hatte. Die Frage, ob der Täter künftig eine strafbare Handlung
nach den §§ 206, 207 oder 207b StGB begehen könnte, wird bei einer Entscheidung
über den Widerruf jedoch sehr wohl zu relevieren sein. Nichts anderes aber hat das
OLG Wien in seinen Entscheidungsgründen ausgeführt.

Zu 8 und 9:

Aus Anlass der Aufhebung des § 209 StGB wurden vom Bundesministerium für

Justiz von Amts wegen ADV-unterstützt alle Fälle erfasst, in denen ausschließlich
oder führend nach dieser Bestimmung ausgesprochene Strafen oder mit Freiheits-
entziehung verbundene vorbeugende Maßnahmen vollzogen wurden oder zur Voll-
streckung angeordnet waren. Es wurden insgesamt drei Fälle festgestellt. In diesen
drei Fällen sind während anhängigen Gnadenverfahrens auch Gnadenbitten einge-
bracht worden. In weiterer Folge langten beim Bundesministerium für Justiz noch die
in den Anfragepunkten 1 bis 6 behandelte Gnadenbitte und eine Eingabe ein, die
sich mit der Frage der gnadenweisen Tilgung von Verurteilungen nach dem § 209
StGB befasst hat. In diesen somit insgesamt fünf Fällen sind folgende Erledigungen
ergangen:


In einem Fall hat sich das im Urteil dem § 209 StGB unterstellte Verhalten (zumin-
dest im Zweifel) als nicht tatbestandsmäßig im Sinne des § 207b StGB herausge-
stellt. Der Gnadenwerber hatte außer der Verurteilung nach dem § 209 StGB noch
eine weitere wegen eines nach wie vor gerichtlich strafbaren Unzuchtsdeliktes er-
litten, mit der auf eine gänzlich bedingt nachgesehene Freiheitsstrafe erkannt wor-
den war. Die ursprüngliche 3-jährige Probezeit dieser Verurteilung war aus Anlass
des Urteils nach dem § 209 StGB auf 5 Jahre verlängert worden. Es wurde daher
dem Herrn Bundespräsidenten in Entsprechung der Gnadenbitte die gänzliche
Nachsicht der nach dem § 209 StGB verhängten, teilbedingten Freiheitsstrafe und
darüber hinaus von Amts wegen auch die gänzliche Nachsicht der mit der weiteren
Verurteilung ausgesprochenen Strafe vorgeschlagen. Letzteres deswegen, weil zum
Zeitpunkt des Gnadenantrags die 3-jährige Probezeit bereits abgelaufen und die
Verlängerung auf 5 Jahre ausschließlich auf das Urteil nach dem § 209 StGB zurück
zu führen war. Der Herr Bundespräsident hat den Gnadenvorschlag genehmigt.

In zwei Fällen hat sich herausgestellt, dass das dem § 209 StGB unterstellte Ver-
halten auch im Sinne des nunmehr geltenden § 207b StGB tatbestandsmäßig ist.
Bei einem dieser Fälle handelt es sich um die bereits in den Anfragepunkten 1 bis 5
behandelte Angelegenheit eines zu einer bedingt nachgesehenen, 3-monatigen
Freiheitsstrafe Verurteilten, beim anderen um die Sache eines Verurteilten, der sich
zum Zeitpunkt der amtswegigen Erfassung noch in Strafhaft befand, jedoch am
1. September 2002 bedingt entlassen wurde. In beiden Fällen wurden die Gnaden-
bitten abschlägig erledigt.

Im vierten Fall hatte das Bundesministerium für Justiz davon auszugehen, dass mit
dem Urteil nach dem § 209 StGB nicht nur auf eine 18-monatige Freiheitsstrafe
erkannt, sondern auch die Unterbringung des Verurteilten in der Anstalt für geistig
abnorme Rechtsbrecher nach dem § 21 Abs. 2 StGB angeordnet worden war. Der
Verurteilte befand sich zum Zeitpunkt der Prüfung der Gnadenfrage im Maßnahmen-
vollzug. Das Gnadenverfahren musste daher ohne Erstattung eines Gnadenvor-
schlags beendet werden. Die gnadenweise Nachsicht einer mit Freiheitsentziehung
verbundenen vorbeugenden Maßnahme wird nämlich von Art. 65 Abs. 2 lit. c des
B-VG nicht zugelassen. Die Nachsicht von Strafen, die ein in einem solchen Maß-
nahmenvollzug Untergebrachter zu verbüßen hat, würde sich in keiner Weise zu
seinem Vorteil auswirken, sondern ihn um die vom Gesetz (§§ 24 Abs. 2 StGB, 178a
StVG) zwingend vorgesehene Anrechnung der in der Maßnahme zugebrachten Zeit


auf die Strafe bringen. Im Übrigen hat sich in diesem Fall ergeben, dass die Anlass-
taten des Urteils nach dem § 209 StGB auch im Sinne der Nachfolgebestimmung
des § 207b leg. cit. tatbestandsmäßig wären.

Eine Eingabe, mit der die Frage der gnadenweisen Tilgung einer Verurteilung nach
dem § 209 StGB releviert worden ist, konnte einer näheren Prüfung nicht unterzogen
werden. Der seinen Ausführungen zufolge nicht mit dem Verurteilten idente
Einschreiter hat dessen Personaldaten nicht bekannt gegeben und damit keine Mög-
lichkeit geboten, den von ihm angesprochenen Fall zu identifizieren. Er wurde daher
schriftlich aufgefordert, die Daten des - ihm offenbar gut bekannten - Verurteilten
mitzuteilen. Diesem Ersuchen hat er bis jetzt nicht entsprochen.

Zu 10 und 11:

Gegenwärtig befindet sich niemand auf Grund einer gerichtlichen Entscheidung in

Haft, die unter Berufung auf den mittlerweile aufgehobenen § 209 StGB ergangen
ist. Jene Person, die in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach dem
§ 21 Abs. 2 StGB untergebracht war, verstarb am 17. Dezember 2002 an den
Folgen einer Gefäßoperation. In dieser Sache hatte das Bundesministerium für
Justiz bereits die staatsanwaltschaftlichen Behörden veranlasst, die richterliche
Prüfung der Frage zu erwirken, ob eine Beendigung des Maßnahmenvollzuges
erfolgen könne. Die unabhängigen Gerichte haben allerdings unter Zugrundelegung
eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens die Entlassung aus der
Maßnahme abgelehnt.