1688/J XXII. GP

Eingelangt am 05.05.2004
Dieser Text wurde elektronisch übermittelt. Abweichungen vom Original sind möglich.

DRINGLICHE ANFRAGE

(gem. § 93 Abs. 1 GOG)

der Abgeordneten Nürnberger

und GenossInnen

an den Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit

betreffend Verantwortung der Bundesregierung für die Rekordarbeitslosigkeit in Österreich und die Versäumnisse in der Beschäftigungspolitik

 

In Österreich herrscht Rekord-Massenarbeitslosigkeit: Im April 2004 gab es 240.556 arbeitslos vorgemerkte Personen. Dies entspricht einer Zunahme gegenüber dem Vergleichsmonat 2003 um 4,1 Prozent. Hinzu zu rechnen sind dabei auch noch jene 43.753 Personen, die in Schulungen des Arbeitsmarktservice untergebracht sind. Besonders alarmierend ist, dass gleichzeitig die Zahl der Beschäftigten gegenüber dem Vorjahr um 1.125 abnahm. Nimmt man die KindergeldbezieherInnen und Präsenzdiener seriöserweise aus der Berechnung heraus, ging die Zahl der Beschäftigten im April im Jahresvergleich sogar um 8.334 zurück.

 

Die Entwicklung am österreichischen Arbeitsmarkt ist auch im Vergleich der bisherigen EU-15 äußerst besorgniserregend: Österreich liegt bei der Zunahme der Arbeitslosigkeit im EU-Spitzenfeld, gleichzeitig gehört das heimische Beschäftigungswachstum zu den geringsten im Binnenmarkt. In der gegenwärtigen Beschäftigungskrise werden massive strukturelle Probleme des österreichischen Arbeitsmarktes sichtbar.

 

Vom Anstieg der Arbeitslosigkeit am relativ stärksten betroffen waren Personen im Haupterwerbsalter zwischen 25 und 45 Jahren. In dieser Altersgruppe nahm die Arbeitslosigkeit um 12.238 Personen oder um 8,5 Prozent zu.

 

Auch die Situation der Frauen auf dem österreichischen Arbeitsmarkt ist höchst unbefriedigend und entwickelt sich äußerst dramatisch: Im April gab es um 7.424 oder um 7,3 Prozent mehr Frauen in Arbeitslosigkeit als vor einem Jahr. Dazu kommen geringere Beschäftigungsquoten, schlechtere Arbeitsplatzqualität mit deutlich geringerer Entlohnung, massive Probleme bei der Reintegration in den Arbeitsmarkt nach betreuungsbedingten Berufsunterbrechungen und schlechtere Aufstiegsmöglichkeiten in den Unternehmen. Eine aktuelle Studie der Arbeiterkammer belegt, dass sich knapp drei Jahre nach der Einführung des Kindergeldes die Situation der Frauen am Arbeitsmarkt deutlich verschlechtert hat (Vgl. dazu Profil, 3. Mai 2004, S 32). 

Das allgemeine Bildungssystem und das System der dualen Berufsausbildung sind offenbar immer weniger in der Lage, Jugendlichen einen möglichst friktionsfreien Übergang vom Ausbildungssystem in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Dies beweisen auch die aktuellen Zahlen: Die Jugendarbeitslosigkeit ist weiter gestiegen. Insgesamt waren im April 37.810 Jugendliche bis 25 Jahre auf Jobsuche, das waren um 2,4 Prozent oder um 902 Personen mehr als vor einem Jahr.

 

Nach wie vor unbefriedigend ist auch die Situation für die älteren ArbeitnehmerInnen. Es zeigt sich zwar bei den über 50-jährigen eine kurzfristige Entspannung auf Grund der verstärkten Qualifikationsmaßnahmen, allerdings ist der Stand von fast 45.900 Arbeitslosen in dieser Alterskategorie immens hoch. Österreich schneidet, was die Beschäftigungsquote bei älteren Arbeitnehmern betrifft, im EU-Vergleich besonders schlecht ab.

 

Waren im Jahr 2000 noch 689.000 Personen jährlich von Arbeitslosigkeit betroffen, so galt dies 2003 für bereits 774.000 Personen. Prognosen zeigen, dass wir heuer die 800.000-Grenze überschreiten werden. Statistisch muss also jede dritte Arbeitskraft im privaten Sektor in Österreich damit rechnen, einmal im Jahr von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein. Etwa 40% der unselbständig Erwerbstätigen im privaten Sektor haben Erwerbskarrieren mit laufend auftretender Arbeitslosigkeit. Für immer mehr ArbeitnehmerInnen machen die Existenzsicherungsleistungen der Arbeitslosenversicherung daher einen Teil ihres Jahreseinkommens aus (zur Zeit: rund 3 Monate im Jahr Bezug aus Arbeitslosenversicherung). Die im internationalen Vergleich sehr niedrige Nettoersatzrate in Österreich (lediglich in Griechenland, Irland und Großbritannien ist die materielle Absicherung bei Arbeitslosigkeit noch niedriger als in Österreich) bedroht die Existenzlage von immer mehr Arbeitnehmerhaushalten. Daten der Soziahilfe zeigen, dass Arbeitslosigkeit  die Verarmungsursache Nr. 1 ist. Die negativen Entwicklungen am Arbeitsmarkt haben also noch eine weitere dramatische Auswirkung: die Armut in Österreich steigt weiter an.

 

Bisher ist es der Bundesregierung nicht gelungen, die Rekordarbeitslosigkeit in Österreich wirksam zu bekämpfen. Schuld daran ist ein verfehlter wirtschaftspolitischer Kurs in Österreich, Schuld daran ist aber auch ein verfehlter wirtschaftspolitischer Kurs in der EU, der von der Bundesregierung mitgetragen wird.

 

Die von der EU in der „Lissabon-Strategie“ ursprünglich angestrebte Verschränkung der Wirtschafts-, Beschäftigungs-, Umwelt- und Sozialpolitik, die den gemeinsamen Werten der Solidarität und nachhaltigen  Entwicklung verpflichtet ist, findet nicht im erforderlichen Ausmaß statt. Problematisch ist vor allem, dass der Zusammenhang zwischen einer primär stabilitätsorientierten Wirtschafts- und Währungspolitik und schwachem Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum, zwischen restriktiven Geld-, Fiskal und Lohnpolitiken und der andauernden Nachfrageschwäche von Kommission und Rat weiterhin systematisch verdrängt und ausgeblendet wird. Den Zielen der Preisstabilität und Budgetkonsolidierung wird deutlich mehr Bedeutung beigemessen als den Zielen der Vollbeschäftigung und der Verteilungsgerechtigkeit. Dadurch wird nicht nur die Schere zwischen den niedrigsten und den höchsten Einkommen noch größer. Die Menschen in der Europäischen Union verlieren auch das Vertrauen in den Willen und die Fähigkeit der Politik, die grundlegendsten Lebensfragen zu lösen. Seitens der österreichischen Bundesregierung wird der aktuelle wirtschaftspolitische Kurs der EU aber nicht in Frage gestellt. So gehört die österreichische Bundesregierung in der EU zu jenen Regierungen, die eine Reform bzw. Neuinterpretation des Stabilitätspaktes verhindern.

 

Während von Österreich in den ersten Jahren seiner EU-Mitgliedschaft wichtige Impulse zur Stärkung der Beschäftigungspolitik auf europäischer Ebene ausgingen (beispielsweise erhielt durch den Amsterdamer Vertrag von 1997 die Beschäftigungspolitik ein eigenes Kapitel im EU-Primärrecht), sind vergleichbare Initiativen von der jetzigen, von ÖVP und FPÖ geführten Bundesregierung, nicht erkennbar. Obwohl die EU dringend Maßnahmen zur Konjunkturbelebung braucht, blieb die österreichische Bundesregierung inaktiv. Als sich einige EU-Mitgliedstaaten (Italien, Deutschland, Frankreich etc.) für eine europäische Wachstumsinitiative in den Bereichen Infrastruktur, Forschung und Technologie stark machten (die letztlich auch beschlossen wurde), leistete Österreich keinen aktiven Beitrag. Das Verhalten der österreichischen Bundesregierung in dieser Frage war unverständlich, da dadurch wichtige Infrastrukturprojekte in Österreich mit größerer Beteiligung der EU finanziert werden können. Ebenso unerklärlich ist, weshalb die österreichische Bundesregierung bislang keine Anstalten zeigt, die Empfehlungen der von der EU eingesetzten Taskforce Beschäftigung aufzugreifen und umzusetzen. Die Mitgliedstaaten wurden u.a. aufgefordert, das Angebot an qualifizierten und anpassungsfähigen Arbeitskräften zu erhöhen und dabei mehr Gewicht darauf zu legen, benachteiligte Gruppen (junge und ältere Menschen, MigrantInnen, behinderte Menschen) in den Arbeitsmarkt einzugliedern und einen Maßnahmenkatalog zur Erhöhung der Frauenerwerbstätigkeit zu entwickeln.

 

Festzuhalten ist, dass die Bundesregierung mit ihrer Wirtschaftspolitik wenig dazu beiträgt, dass die EU ihr Ziel, dauerhaftes Wirtschaftswachstum, mehr Beschäftigung und bessere Arbeitsplätze zu schaffen, den sozialen Zusammenhalt der EU zu stärken und damit bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu werden („Lissabon-Strategie“), erreichen kann. Österreich liegt nach dem Frühjahrsbericht  der EU-Kommission mit den Bruttoinlandsaufwendungen für Forschung und Entwicklung unter dem EU-Durchschnitt, ebenso bei der Beschäftigungsquote älterer Menschen. Die Unternehmensinvestitionen gingen in den letzten Jahren (seit 1999) signifikant zurück. Zudem ist Österreich wieder einmal Schlusslicht  bei der Umsetzung der EU-Binnenmarktrichtlinien in nationales Recht.

 

Große Versäumnisse seitens der Bundesregierung sind auch bei der Vorbereitung Österreichs auf die Erweiterung festzustellen. Das betrifft fehlende Maßnahmen im Bereich der Weiterbildung, fehlende Unterstützung für Klein- und Mittelbetriebe, fehlende wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung der Schwarzarbeit, fehlende Maßnahmen zur Unterstützung der Grenzregionen sowie große Versäumnisse im Infrastrukturbereich (Verkehrsverbindungen Richtung Osteuropa im Bereich Straße und Schiene), obwohl man gerade hier wichtige konjunkturbelebende Impulse hätte setzen können.

 

Es ist mehr als hoch an der Zeit, dass die „beschäftigungspolitische Abstinenz“ überwunden wird und ein integrierter, nachhaltig verfolgter aktiver Politikansatz anstelle des arbeitsmarktpolitischen Nichthandelns der letzten Jahre tritt.

 

Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher an den Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit folgende dringliche

 

Anfrage:

 

       1.          Weshalb ist es Ihnen bislang nicht gelungen, die Rekordarbeitslosigkeit in Österreich wirksam zu bekämpfen?

 

       2.          Weshalb haben Sie – im Gegensatz zu früheren österreichischen Bundesregierungen – im Rahmen der EU keinerlei Initiativen im Bereich der Beschäftigungspolitik ergriffen?

       3.          Weshalb haben Sie bisher keine wirksamen Maßnahmen getroffen, um die Empfehlungen der von der EU eingesetzten Taskforce Beschäftigung umzusetzen?

 

       4.          Damit die Arbeitsmarktpolitik ihren Beitrag zur Bekämpfung der Qualifikationsmängel auf dem Arbeitsmarkt leisten kann, ist es notwendig, im Jahr 2004 ein umfassendes Ausbildungs- und Unterstützungsangebot für alle Arbeitsuchenden spätestens nach dreimonatiger Arbeitslosigkeit aufzubauen. Wann werden Sie das in Angriff nehmen?

 

       5.          Die Entwicklung am Arbeitsmarkt zeigt, dass es notwendig ist, das Prinzip des lebenslangen Lernens konsequent in die Arbeitsmarktpolitik zu integrieren: treten sie dafür ein, dass die Arbeitslosenversicherung in eine „Ausbildungsversicherung“ zur Erhöhung der Qualifikation für Beschäftigte und Arbeitssuchende weiterentwickelt wird? Wenn ja, sind sie bereit, die dafür erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen?

 

       6.          Die Qualifizierungsmaßnahmen des AMS konzentrieren sich auf die Gruppe der unter 20 und über 50jährigen. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit ist aber zur Zeit im Haupterwerbsalter (25 bis 45 Jahre) am größten. Weshalb werden Qualifizierungsmaßnahmen des AMS nicht für alle Altergruppen angeboten, wobei primär Personen mit niedriger Qualifikation von Weiterbildungsmaßnahmen profitieren sollen?

 

       7.          Wann werden Sie endlich zumindest eine Valorisierung beim Arbeitslosengeld und der Notstandshilfe durch Aufwertung der Bemessungsgrundlagen vornehmen, um der drohenden Verarmung einer großen Gruppe von ArbeitnehmerInnen entgegenzuwirken?

 

       8.          Welche Maßnahmen werden Sie setzen, um den Ausbau der Beschäftigungsmöglichkeiten im sogenannten „2. Arbeitsmarkt“ für schwer vermittlungsbeeinträchtigte Arbeitsuchende (geförderte Beschäftigung statt Alimentierung über Notstandshilfe und Sozialhilfe ohne Ausweg) zu fördern?

 

       9.          Wann werden Sie sich endlich für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch finanzielle Unterstützung der Länder bei der Schaffung von geeigneten Kinderbetreuungseinrichtungen (Stichwort „Kinderbetreuungsmilliarde“) einsetzen, um Frauen eine bessere Teilnahme am Arbeitsmarkt zu ermöglichen?

 

   10.          Welche Maßnahmen werden Sie setzen, um die Arbeitslosigkeit bei älteren Menschen zu senken und die Beschäftigungsquote älterer Menschen in Österreich auf den Durchschnitt der bisherigen EU-15 anzuheben?

 

   11.          Wann werden Sie endlich eine rigorose Bekämpfung der organisierten illegalen Beschäftigung durch- und umsetzen?

 

   12.          Werden Sie sich – und wenn ja – wie werden Sie sich für eine Aufwertung des Beschäftigungsteiles der Europäischen Verträge (wie durch den Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents teilweise vorgeschlagen) einsetzen?

 

   13.          Welche Initiativen haben Sie als Arbeitsminister in der EU gesetzt, um die beschäftigungsorientierten Ziele in der Union mehr in den Vordergrund zu rücken?

 

   14.          Welche Maßnahmen werden Sie ergreifen, um eine Erhöhung der öffentlichen aber auch privaten Investitionen in Ausbildung, Forschung und Entwicklung und Infrastruktur zu erreichen, um damit wachstums- und beschäftigungspolitische Strategien zu ermöglichen?

 

   15.          Werden Sie im Sinne zusätzlicher konjunkturbelebender Maßnahmen dafür eintreten, dass Österreich in der EU für die Aufnahme des Semmering-Ausbaus in die Liste der von der EU geförderten Transeuropäischen Netze votiert?

 

   16.          Werden Sie sich als Arbeitsminister im Sinne der Konjunkturbelebung dafür einsetzen, dass der Ausbau wichtiger Eisenbahnprojekte in die Erweiterungsländer, obwohl von der Regierung erst nach 2011 geplant, vorgezogen wird?

 

   17.          Die wirtschaftspolitische Ausrichtung der Union unter Beibehaltung der rigiden Vorgaben des Stabilitätspaktes schränken die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten zu sehr ein. Welche Aktivitäten werden Sie setzen, damit die Mitgliedstaaten bei Konjunkturschwäche die Möglichkeit erhalten durch Investitionen gegensteuern zu können?

 

 

In formeller Hinsicht wird verlangt, diese Anfrage im Sinne des § 93 Abs. 1 GOG dringlich zu behandeln.