
An das
Präsidium des Österreichischen Nationalrates
Parlament
Dr. Karl Renner-Ring
1010 Wien 10. März 2006
Betrifft: Stellungnahme zum Entwurf für ein Sachwalterrechts-Änderungsgesetz 2006
Sehr geehrte Damen und Herren,
seitens des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie erlaube ich mir, Ihnen in der Beilage eine Stellungnahme zum Entwurf für ein Sachwalterrechts-Änderungsgesetz 2006 zu übermitteln.
Die Stellungnahme wurde Ihnen auch elektronisch übersendet.
Mit den besten Empfehlungen
|
Fax
(+43-1) 526 15 16 –10 office@irks.at
www.irks.at |

Stellungnahme zum Entwurf für ein
Sachwalterrechts-Änderungsgesetz 2006
Reformbedarf
Aus der Sicht der Sozialwissenschaft stellt sich die zum Entwurf gelieferte Begründung für Reformbedarf im Bereich des Sachwalterrechts als treffend dar. Nach Untersuchungen des Instituts[1] hat sich die Zahl der jährlichen Neuunterstellungen unter Sachwalterschaft zwischen 1981 und 2001 mehr als versiebenfacht. Der Zuwachs findet nicht nur im Bereich der altersbedingt beeinträchtigten Personen statt und ist stärker als das Wachstum der Altenbevölkerung in Österreich. Auch bei jüngeren geistig Behinderten und psychisch Erkrankten steigen die Sachwalterschaften an – wenngleich nicht ganz so drastisch wie bei Hochaltrigen –, obwohl der Anteil dieser Personengruppen in der Bevölkerung relativ stabil bleibt. Das Rechtsinstitut der Sachwalterschaft erweist sich in der Praxis als ungemein erfolgreich und attraktiv, um nicht nur komplexer werdende, sondern auch um alltägliche Rechtsgeschäfte sozial wenig kompetenter Personen (z.B. Geschäfte in Zusammenhang mit Veränderungen des Aufenthaltsorts, mit sozialen Fürsorgeleistungen oder medizinischen Behandlungsmaßnahmen) entsprechend den steigenden formalen Standards bürokratischer Organisationen abzuwickeln. Die Beachtung der Qualität von Rechtsakten hat den paradoxen Effekt der Autonomiebeschränkung durch Sachwalterschaft über immer breitere Kreise der Bevölkerung.
Der intendierte verbesserte Rechtsschutz durch Sachwalterschaft droht sich heute durch die schiere Menge in sein Gegenteil zu verwandeln. Wenn der Ausbau der Vereinssachwalterschaft durch professionelle SachwalterInnen und durch qualifiziert supervidierte ehrenamtliche MitarbeiterInnen aus budgetären Gründen nicht Schritt halten kann mit dem Wachstum der Anzahl der Unterstellungen unter Sachwalterschaft – und das tut er beobachtbar seit langem –, müssen Qualität und guter Ruf der Sachwalterschaft früher oder später Schaden nehmen. Man überlässt sie auch in anspruchsvollen Fällen wieder überforderten Angehörigen oder einem anwaltlichen Massengeschäft, bei dem die persönliche Sorge zu kurz kommt. Die richterliche Aufsicht wird die in sie gesetzten Erwartungen bei steigenden Fallzahlen auch nur mehr unzureichend erfüllen können.
Abhilfestrategien
Die Strategien, auf die der Reformentwurf setzt, sind vielfältig und lassen eine Staffelung erkennen. Um sie hervorzuheben, sollen hier die Kernpunkte des Entwurfs (aus Sicht des Gutachtens) in folgender Reihenfolge kommentiert werden, auch wenn damit von der Ordnung des Entwurfs und der Erläuterungen abgewichen wird:
ad b) Clearing im Sachwalterschaftsverfahren:
Für den Fall fehlender Vorsorge(vollmacht) jedenfalls sieht der Entwurf eine Clearing- oder Filterfunktion für die Vereinssachwalterschaft vor (§ 4 ASPAG). Institutionelle wie nahe stehende Anreger von Sachwalterschaft sollen über das Wesen der Sachwalterschaft und – nach Erforschung der Umstände – über mögliche, das Selbstbestimmungsrecht schonendere Alternativen aufgeklärt werden. Der Übertragung dieser Aufgabe vom Gericht an eine vorgelagerte Einrichtung liegt die Einsicht zugrunde, dass dem Gericht Grenzen gesetzt sind, das soziale Umfeld der Betroffenen und die Motive einer Sachwalterschaftsanregung zu durchleuchten. Zur Gerichtsinstanz und zu allfälligen Sachverständigen kommt hier eine weitere kompetente Stelle hinzu, die zur sachgerechten gerichtlichen Entscheidungsfindung beitragen soll. Man könnte auch von einer weiteren Schwelle zur Sachwalterschaft sprechen.
Dies sollte zunächst jene Verfahren weitgehend ersparen, die schließlich mit einer Einstellung enden (immerhin 18% aller Verfahren). Aber auch in Hinblick auf das „Fall-Matching“, die Entscheidung für den optimalen Typus der allenfalls erforderlichen Sachwalterschaft (durch Nahestehende, Angehörige von Rechtsberufen oder Vereinssachwalter) sollte das „Clearing“ die Treffsicherheit erhöhen können und nachfolgende Komplikationen aus der Sachwalterschaft minimieren. Schließlich postuliert der neue § 4 VSPAG in Abs. 3 auch die Unterstützung nahe stehender SachwalterInnen durch professionelle VereinssachwalterInnen. Wie weit eine solche Palette von anspruchsvollen Aufgaben in der Praxis erfüllt werden kann, wird nicht zuletzt von den Ressourcen für die Vereine abhängen.
ad c) Lebensweltnahe
Inanspruchnahme der nächsten Angehörigen:
Das größte
Potenzial der Reform liegt indessen bei der “gesetzlichen Vertretung durch
nächste Angehörige” (§§ 284efgh) in alltäglichen Rechtsangelegenheiten. Hier
wird die wünschenswerte Rechtssicherheit für Interaktionspartner Betroffener
bzw. ihrer fürsorgeaktiven nächsten Angehörigen geschaffen, was diese im Fall
der psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung stellvertretend zu regeln
befugt sind. Dies ermöglicht quasi die rechtskonforme Rückkehr zu sozialen
Stellvertretungsgepflogenheiten in überschaubaren sozialen Einheiten und
Institutionen. Die auch nach allen sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen
nach wie vor existierende Solidarität und Fürsorge im Familienkreis (samt nahem
institutionellem Umfeld) wird auf diese Weise als Gegebenheit realisiert,
anerkannt und auch gestützt.
Nach der
obegannten Untersuchung des Instituts stehen ausschließlich Erfordernisse der
(zumeist einfachen) Vermögensverwaltung hinter einem Drittel (30%) aller
Verfahrensanregungen, die Klärung von sozialrechtlichen Versorgungsansprüchen
hinter weiteren 13% der Verfahren, in knapp 7 % geht es um medizinische
Entscheidungen (zum Teil mäßiger Tragweite). Das wären jene Bereiche, in denen
die gesetzliche Vertretung nach Vorstellung des Entwurfs zum Tragen kommen
sollte.
Natürlich stellt sich die Frage, wie häufig tragfähige familiäre Strukturen und nächste Angehörige überhaupt vorhanden sind, um entsprechernde Aufgaben zu übernehmen, und wie oft das Fehlen solcher Strukturen nach Sachwalterschaftslösungen drängen lässt. Grundsätzlich sind heute entgegen verbreiteter Ansichten über den Zerfall (großer) Familien so wenige ältere Menschen (die Problemgruppe für die Sachwalterschaft) wie selten zuvor ohne eigene lebende Kinder oder Angehörige.[2] Unter den Besachwalteten sind Alleinstehende, Isolierte und in Anstaltshaushalten Lebende zwar überproportional vertreten, zugleich aber sind in den meisten Fällen nach wie vor nahestehende Personen die SachwalterInnen (bei rund 60%), und das umso häufiger, je unkomplizierter sich die zu besorgenden Angelegenheiten darstellen. Dies spricht dafür, sich von der Reform tatsächlich eine substanzielle Entlastung der Sachwalterschaft versprechen zu dürfen.
ad d) Qualitätssicherungsmaßahmen
bei professioneller Sachwalterschaft:
Der
Reformentwurf ist nichtsdestoweniger nicht nur vom Gedanken der Schonung der
öffentlichen Haushalte und der Einsparung im Justizbudget getragen, sondern
auch auf Qualitätssicherung bedacht. Man geht zurecht von einem entstandenen
Engpass und Ausbaubedarf bei der Vereinssachwalterschaft aus. Wo derzeit
VereinssachwalterInnen bestellt werden, werden es die sozialen Gegebenheiten,
die erhöhten Betreuungsanforderungen oder die Bedachtnahme auf das Wohl des
Betroffenen auch nicht gestatten, auf familiäre soziale Ressourcen zu
vertrauen. Die durch VereinssachwalterInnen betreuten Personen zeichnen sich
nach der Studie des Instituts tatsächlich durch ein überdurchschnittliches Maß
an psychischer und sozialer Problematik oder an (Langzeit)Betreuungsbedarf aus.
Hier bestehen zudem oft berechtigte Vorbehalte gegen das unmittelbare soziale
Umfeld und dessen Eignung für Stellvertretungsaufgaben oder Konflikte in diesem
Umfeld um das Wohl der Betroffenen.
Die
Vereinssachwalterschaft wird künftig auch dort vermehrt gebraucht werden, wo
heute die Sachwalterschaft durch Anwaltskanzleien mit einer übergroßer Anzahl
an Betreuungsfällen als Notlösung empfunden wird. Soll der persönliche Wille
der behinderten Person bei allen Entscheidungen des Sachwalters zumindest
Berücksichtigung finden (§ 281) und der Personensorge Genüge getan werden, ist
ein Minimum an regelmäßigem Kontakt und daher eine Fallzahlbeschränkung für
professionelle SachwalterInnen (gem. § 279 Abs. 4 auch für Rechtsanwälte)
unabdingbar. Zudem müssen Clearing und Beratung Angehöriger (s.o.) durch die
VereinssachwalterInnen ausgebaut werden.
ad e) Nutzung
informeller Missbrauchskontrolle:
Ein
Element der Qualitätskontrolle angesichts der Einführung von Vorsorgevollmacht
und gesetzlicher Vertretung, aber auch gegenüber der Vereinssachwalterschaft,
stellt eine Bestimmung dar, die wiederum auf Initiative aus dem sozialen Umfeld
der Besachwalteten setzt (auf die Anregung von Verfahren zur allfälligen Änderung
oder Beendigung der Sachwalterschaft gem. § 278, falls Bedenken gegen die
Ausübung der Kuratel/Sachwalterschaft auftreten). Die Beachtlichkeit von
Widerspruch des Betroffenen oder aus seiner Umgebung (seitens anderer naher
Angehöriger) wird durch den Entwurf betont. Dadurch wird dem Umstand Rechung
getragen, dass die gerichtliche Kontrolle über die Sachwalterschaft im Prinzip
nur so gut ist, wie sie offen und hellhörig bleibt für Missstandssignale von
Seiten von Beobachtern in der Lebenswelt der Betroffenen.
Aus Sicht
der Sozialwissenschaft ist der Entwurf insgesamt nur positiv, als empirisch
fundiert und zielgerichtet zu beurteilen. Als rechtssoziologische
Forschungseinrichtung, welche einen Schwerpunkt auf die Implementierung und
Evaluierung von Gesetzesvorhaben legt, halten wir es für wünschenswert, dass
man die praktische Bewährung eines solchen gesellschaftlich relevanten
Justizgesetzes zum Gegenstand periodischer wissenschaftlicher Untersuchungen
macht. Die derzeit vorhandenen Rechtspflegedaten sind leider ungenügend, um
Entwicklungen im Bereich der Sachwalterschaft nicht nur quantitativ, sondern
auch qualitativ differenziert zu erfassen (dahingehend, welche sozialen
Konstellationen Sachwalterschaftsbedarf welcher Art entstehen lassen bzw.
lassen werden) und der Rechtspolitik die erforderliche Orientierung zu
geben.
[1] Hammerschick Walter/Pilgram Arno: Sachwalterschaftsverfahren und ihre gerichtliche Erledigung. Wien (Forschungsbericht des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie), Nov. 2002 (Text- und Tabellenband); vgl. auch: Pilgram Arno: Das neue Sachwalterrecht aus der Sicht der Sozialwissenschaft. Vortrag bei der Österr. Richterwoche 2005, http://www.irks.at/downloads/
[2] Von den >60jährigen hatten z.B. 1979 23% kein lebendes eigenes Kind, 1998 waren das nur 14%. Bei immerhin 71% der Altersgruppe wohnen Kinder sogar in näherer Umgebung. Zwar gibt es bei 5 % der >60jährigen keine lebenden Angehörigen, im Durchschnitt haben Personen dieser Alterskategorie heute mit 7,4 nahen Angehörigen aber eine vergleichsweise großes familiäres Umfeld. Vgl.: Hörl Josef/Kytir Josef: Private Lebensformen und soziale Beziehungen älterer Menschen. In: Bundesministerium für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz (Hrsg.): Seniorenbericht. Wien 2001