3371/AB XXIII. GP
Eingelangt am 20.03.2008
Dieser Text wurde elektronisch übermittelt. Abweichungen vom Original sind
möglich.
BM für Justiz
Anfragebeantwortung

DIE
BUNDESMINISTERIN
FÜR
JUSTIZ
BMJ-Pr7000/0022-Pr 1/2008
An die
Frau Präsidentin des Nationalrates
W i e n
zur Zahl 3567/J-NR/2008
Der Abgeordnete zum Nationalrat Mag. Albert Steinhauser, Freundinnen und Freunde haben an mich eine schriftliche Anfrage betreffend „Verurteilungen der Republik Österreich durch den EGMR wegen Verletzung von Art 10 EMRK“ gerichtet.
Ich beantworte diese Anfrage wie folgt:
Zu 1:
Derzeit sind – soweit eine Zustellung der Beschwerde an die österreichische Prozessvertretung erfolgte – fünf Menschenrechtsbeschwerden gegen die Republik Österreich beim EGMR wegen behaupteter Verletzung von Art 10 EMRK anhängig.
Zu 2 bis 4:
Im Hinblick auf die Fortentwicklung der Judikatur des EGMR zu Artikel 10 EMRK hat das Bundesministerium für Justiz in zwei Fällen bei der Generalprokuratur beim Obersten Gerichtshof nach § 33 Abs. 2 StPO idF BGBl Nr. 631/1975 bzw. § 23 Abs. 1 StPO idF BGBl I Nr. 109/2007 angeregt, die Erhebung einer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zu prüfen. In einem weiteren Fall wurde vom Bundesministerium für Justiz bei der Generalprokuratur die Prüfung eines Vorgehens nach § 362 Abs. 1 Z 2 StPO idF BGBl. Nr. 613/1975 (Rechtsbehelf der außerordentlichen Wiederaufnahme) angeregt. Weisungen wurden nicht erteilt.
Die Generalprokuratur ist diesen Anregungen gefolgt und hat in einem Fall bereits eine Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes beim Obersten Gerichtshof eingebracht und in einem anderen Fall einen Antrag auf außerordentliche Wiederaufnahme gestellt. Ein weiterer Fall wird derzeit von der Generalprokuratur noch geprüft. Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs dazu stehen bislang noch aus.
Zu 5:
Die Urteile des EGMR in Verfahren, in denen eine Verletzung von Art. 10 EMRK geltend gemacht wird, betreffen fast durchwegs Interessensabwägungen zwischen der Freiheit der Berichterstattung (Art. 10) einerseits und dem Schutzbedürfnis einzelner gegen Eingriffe in ihre Persönlichkeitsrechte.
Dies wird besonders deutlich an einem Urteil des EGMR vom 15.11.2007 (Appl. Nr. 12556/03): Der EGMR hat Österreich wegen Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienrechts (Art. 8 EMRK) verurteilt, weil die österreichischen Gerichte bestimmte Personen, gegen die der Beschwerdeführer eine Privatanklage wegen bestimmter medialer Äußerungen nach § 111 StGB (üble Nachrede) angerufen hatte, (unter ausdrücklicher Berufung auf Art. 10 MRK) freigesprochen hatten.
Das Urteil des EGMR im Fall Pfeifer gegen Österreich (ÖJZ 2008/2) besagt, dass zu den positiven Verpflichtungen des Art. 8 EMRK auch die Pflicht des Staates gehört, den guten Ruf einer in ihrer Ehre angegriffenen Person zu schützen. Dem vom EGMR in dieser Entscheidung betonten Recht, den Schutz des guten Rufes gewährleistet zu erhalten, dient gerade die Bestimmung des § 111 StGB.
Dass der EGMR in diesem Feld besonders weit in Bereiche vordringt, die sonst den nationalen Gerichten vorbehalten bleiben, ist schon vielfach festgehalten worden. Ebenso ist darauf hinzuweisen, dass die Judikatur des EGMR einer stetigen Entwicklung unterliegt. Im Zusammenhalt mit der langen Dauer der Verfahren in Strassburg bedeutet dies aber auch, dass die in letzter Zeit ergangenen Verurteilungen Österreichs sich vielfach auf Gerichtsentscheide beziehen, die schon mehrere Jahre zurückliegen. Es darf nicht unbesehen der Schluss gezogen werden, die österreichischen Gerichte hätten inzwischen nicht den Entwicklungen Rechnung getragen.
Die diffizile Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen kann nur von unabhängigen Gerichten in Wertentscheidungen getroffen werden, die die Besonderheiten des Einzelfalls (auch) im Lichte der Judikatur des EGMR berücksichtigt.
Der OGH hat schon in seiner Grundsatzentscheidung zur Erweiterung des Grundrechtsschutzes im Allgemeinen (1.8.2007, 13 Os 135/06m) als einen der Gründe, warum er sich zu einem weiten Verständnis der Vorschriften über die Erneuerung des Strafverfahrens (§ 363a StPO) berufen fühlt, auf die Problematik der gehäuften Verurteilungen Österreichs nach Art. 10 EMRK hingewiesen. In einem kurz darauf ergangenen Urteil in einer Mediensache (23.8.2007, 12 Os 36/07) hat er bereits von der erweiterten Befugnis zur Wahrnehmung von Grundrechtsverletzungen dahingehend Gebrauch gemacht, dass er unter mehrfachem Hinweis auf Judikatur des EGMR zu Art. 10 MRK eine Entscheidung des OLG Wien aufhob und damit das Ersturteil, das die gegen ein Medium gerichteten Anträge abgewiesen hatte, wieder herstellte.
Es besteht zwar kein unmittelbarer legistischer Handlungsbedarf, dennoch wird sich die im Regierungsprogramm vorgesehene Arbeitsgruppe zum Medienrecht auch mit diesem Themenkreis befassen. Die Arbeitsgruppe wird in nächster Zeit einberufen werden.
Auch für eine Änderung des § 1330 ABGB besteht aus meiner Sicht im Zusammenhang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kein unmittelbarer Anlass. Die Zivilgerichte nehmen die ihnen zukommende Verpflichtung zur Abwägung zwischen dem „zivilrechtlichen Ehrenschutz“ nach § 1330 ABGB und dem Recht auf freie Meinungsäußerung, das neben Art. 10 EMRK auch in Art. 13 StGG verfassungsmäßig abgesichert ist, nach meiner Auffassung sehr verantwortungsvoll wahr. In den zahlreichen gerichtlichen Entscheidungen ist zu beobachten, dass gerade die Grenzen zulässiger Kritik bei Politikern regelmäßig erheblich weiter gezogen werden als bei Privatpersonen. Die Gerichte messen bei der gebotenen Interessenabwägung im Konflikt des Rechts auf freie Meinungsäußerung mit dem absolut geschützten Gut der Ehre in diesem Zusammenhang gerade der Freiheit der politischen Debatte – als einem der Pfeiler des Konzepts einer demokratischen Gesellschaft – besondere Bedeutung zu (6 Ob 24/95; 4 Ob 2247/96m).
§ 1330 ABGB eröffnet den Gerichten den notwendigen Rahmen, dessen es für einen entsprechend verantwortungsvollen Umgang mit den hier einander gegenüberstehenden Rechtsgütern bedarf. Dass die Rechtsprechung der österreichischen Zivilgerichte in Einzelfällen nicht mit der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte übereinstimmt, liegt nicht zuletzt an der dynamischen Judikatur des Europäischen Gerichtshofs in diesem Bereich, in dem er – mehr als in anderem Zusammenhang – beispielsweise auch gesellschaftlichen (Weiter-)Entwicklungen besonderes Augenmerk widmet. Es liegt in der Natur der Sache, dass es in einzelnen Konstellationen zu verschiedenen Einschätzungen kommt.
Abschließend weise ich darauf hin, dass Fragen der Grundrechte – und damit auch der Meinungsfreiheit – in der Aus- und Fortbildung des Bundesministeriums für Justiz seit Jahren einen besonderen Themenschwerpunkt bilden.
Die Grund- und Menschenrechte sind auch Teil des Stoffes für die Richteramtsprüfung (§ 16 Abs 4 Z 6 RStDG) und werden ab diesem Jahr mittels neu entwickelter „Grundrechtsmodule für RichteramtsanwärterInnen“ geschult.
Im Rahmen der Fortbildung wird RichterInnen und StaatsanwältInnen die Teilnahme an internationalen Veranstaltungen zum Thema ermöglicht.
Ferner hat das Bundesministerium für Justiz zusammen mit dem Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte seit 2005 bereits zwei Mal eine Veranstaltung zu Art 10 EMRK durchgeführt. Im Jahr 2007 war die vom Bundesministerium für Justiz jährlich veranstaltete österreichische RichterInnenwoche dem Thema „Justiz und Menschenrechte“ gewidmet. Ein eigener Arbeitskreis beschäftigte sich mit dem Recht auf Meinungsfreiheit. Am 5. und 6. September 2007 veranstaltete die Fachgruppe „Grundrechte“ der Vereinigung österreichischer Richterinnen und Richter mit Unterstützung des Bundesministeriums für Justiz im Rahmen der Ars Electronica den ersten Grundrechtstag unter dem Titel „Goodbye Privacy – Grundrechte in der digitalen Welt“. Eine eintägige Folgeveranstaltung ist geplant.
. März 2008
(Dr. Maria Berger)