3420/AB XXIII. GP
Eingelangt am 27.03.2008
Dieser Text ist elektronisch textinterpretiert. Abweichungen vom Original sind
möglich.
Bundeskanzler
Anfragebeantwortung
Die
Abgeordneten zum Nationalrat Dr. Aspöck,
Kolleginnen und Kollegen haben am
31. Jänner 2008 unter der Nr. 3498/J an
mich eine schriftliche parlamentarische An-
frage betreffend "Aktuelle Defizite im Grundrechtsschutz" gerichtet.
Diese Anfrage beantworte ich wie folgt:
Die in der Anfrage genannten Maßnahmen gegenüber Individuen
beruhen allesamt
auf
Beschlüssen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen gemäß Kapitel VII der
Satzung der Vereinten Nationen (SVN). Gemäß Art. 25 SVN sind
solche Beschlüsse
des
Sicherheitsrats bindend für sämtliche
Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen.
Somit ist auch Österreich verpflichtet, den Anordnungen
des Sicherheitsrats Folge zu
leisten und entsprechende innerstaatliche
Exekutiv- und Legislativmaßnahmen zu
deren
Umsetzung zu ergreifen. Im Bereich wirtschaftlicher Sanktionen gegen
Individuen
besteht dabei allerdings gemäß Art. 60, 301 und 308
EGV eine
ausschließliche Kompetenz der Gemeinschaft zur
Ergreifung der erforderlichen
Legislativmaßnahmen. Auf
dieser Rechtsgrundlage hat der Gemein-
schaftsgesetzgeber
auch die hier in Rede stehende Verordnung (EG) Nr. 2580/2001
des
Rates vom 27. Dezember 2001 (ABI. L 344/70 vom 28. Dezember 2001) erlas-
sen.
Gesonderte innerstaatliche Rechtsakte wurden nicht erlassen, da hier nur eine
Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft besteht.
Zu den Fragen 1 und 2:
Ø Ist Ihnen die vorstehend angesprochene EU-Verordnung bekannt?
Ø Gilt diese auch für Österreich?
Die inzwischen mehrmals geänderte Verordnung (EG) Nr. 2580/2001
des Rates vom
27.
Dezember 2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und
Organisatio-
nen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des
Terrorismus gilt gemäß
Art.
249 Abs. 2 EGV unmittelbar in jedem Mitgliedstaat der Europäischen Union
und
somit auch in Österreich.
Zu den Fragen 3 und 4:
Ø
Wenn ja, welche Rechtsmittel stehen davon potenziell betroffenen Österreichern
in Österreich zur Verfügung, um sich gegen eine solche Maßnahme zu wehren?
Ø
Welche Rechtsmittel stehen davon potenziell betroffenen Österreichern
auf EU-
Ebene zur Verfügung, um sich gegen eine solche Maßnahme zu wehren?
Die Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 kann gemäß Art. 230 Abs.
4 EGV von natür-
lichen
und juristischen Personen bekämpft werden, die durch von der
Verordnung
bewirkte Maßnahmen „unmittelbar und individuell"
betroffen sind. Eine solche un-
mittelbare und individuelle Betroffenheit liegt nach der Rechtsprechung des
Euro-
päischen
Gerichtshofs jedenfalls bei jenen natürlichen oder
juristischen Personen
vor,
deren Gelder, finanzielle Vermögenswerte und wirtschaftliche
Ressourcen ge-
mäß Art. 2 Abs.
1 i.V.m. Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 eingefroren wer-
den. Von den durch
die Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 verhängten Sanktionen
betroffene Österreicher können daher gemäß Art. 230 Abs. 4 EGV eine Nichtigkeits-
klage beim Europäischen Gericht Erster Instanz (in
der Folge kurz „EuG") erheben.
Zu den Fragen 5 bis 8:
Ø
Erachten Sie die Möglichkeit von
Eingriffen in Grundrechte von Bürgern ohne
rechtsförmiges Verfahren als verfassungskonform?
Ø
Erachten Sie die angesprochene EU-Verordnung als mit dem österreichischen
Rechtsstaatlichkeitsprinzip
vereinbar?
Ø
Was haben
Sie bisher unternommen, um einer Geltung der angesprochenen EU-
Verordnung in Österreich entgegenzuwirken?
Ø
Stärkt eine solche EU-Verordnung Ihr Vertrauen
in den Grundrechtsschutz in der
EU?
Wie sich aus der Beantwortung der Fragen drei und vier ergibt, besteht ein effektiver
Rechtsschutz
im Rahmen der Europäischen Union. Das Europäische Gericht Erster
Instanz hat grundrechtliche Bedenken wahrgenommen und in seinem Urteil vom 12.
Dezember 2006 in der Rechtssache T-228/02
jenen Beschluss, mit dem die Klägerin
auf die Liste der
Personen gemäß Art. 2 Abs. 3 der Verordnung (EG)
Nr. 2580/2001
gesetzt wurde, für nichtig erklärt, soweit er die Klägerin betrifft. Das Gericht kommt
dabei zu dem Schluss, „dass der angefochtene Beschluss
nicht begründet ist und im
Rahmen eines Verfahrens erlassen wurde, in
dessen Verlauf die Verteidigungsrechte
der Klägerin nicht
gewahrt wurden." (EuG, Rs. T-228/02, Organisation des
Modjahedines du
peuple d'lran gegen Rat der Europäischen
Union, Rz. 173).
Zur Verordnung (EG) Nr. 881/2002 des Rates über die
Anwendung bestimmter
spezifischer
restriktiver Maßnahmen gegen bestimmte Personen und
Organisationen,
die mit Osama bin Laden in Verbindung stehen (Abl. L. 139/9 vom
29.
Mai 2002) gibt es Entscheidungen des Europäischen
Gerichts erster Instanz,
gegen
die beim Europäischen Gerichtshof ein Rechtsmittel eingebracht
wurde (vgl.
Rs.
C-402/05, 415/05). In seinen Schlussanträgen vom 16. Jänner 2008
(Rs.
C-402/05 P) sowie vom 23. Jänner 2008 (Rs. C-415/05 P) schlägt
Generalanwalt
Poiares Maduro dem Gerichtshof vor, die Urteile des EuG
aufzuheben,
da der vom Rechtsmittelführer vorgebrachte Rechtsmittelgrund,
dass
die
angefochtene Verordnung den Anspruch auf rechtliches Gehör, den
Anspruch
auf effektive
gerichtliche Kontrolle und das Eigentumsrecht verletze, begründet sei.
Der Gerichtshof soll, so Maduro, die angefochtene Verordnung (EG) Nr. 881/2002
daher für nichtig erklären, soweit sie die Rechtsmittelführer betrifft. Es bleibt jedoch
abzuwarten, wie der EuGH in diesen
Rechtssachen schlussendlich entscheiden wird.
Auch diese Vorfahren zeigen den effektiven europäischen Grundrechtsschutz.
Zu Frage 9:
Ø Erachten Sie
angesichts solcher Maßnahmen die durch den
"EU-Reformvertrag"
(Vertrag von Lissabon) steigende Kompetenzübertragung
auch im Justiz- und Po-
lizeibereich
an die EU für erstrebenswert?
Der
Vertrag von Lissabon sieht bedeutende Veränderungen im Bereich der polizeili-
chen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen vor. Diese Reformen konkre-
tisieren im Wesentlichen bereits bestehende
Kompetenzen der Union und bewirken
eine Effizienzsteigerung von Maßnahmen im Bereich des Raums der Freiheit, der Si-
cherheit und des Rechts. Insbesondere werden durch den Vertrag von
Lissabon im
Zuge der Einführung der Gemeinschaftsmethode gegenwärtig
bestehende Rechts-
schutzdefizite
innerhalb der bisherigen 3. Säule
weitgehend beseitigt. Durch die Ein-
führung des
ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens in weiten Teilen der polizeilichen
und
justiziellen Zusammenarbeit kommt es ungeachtet bestimmter Sonderregelun-
gen zur Aufwertung
der Rolle des Europäischen Parlaments, das nunmehr in
vielen
Materien der bisherigen 3. Säule im
Mitentscheidungsverfahren zu beteiligen sein
wird.
Es
ist somit festzuhalten, dass die im Vertrag von Lissabon vorgesehenen Maßnah-
men für den Justiz- und Polizeibereich
zu einer Verbesserung der Effizienz der
Rechtssetzung sowie signifikanten Ausweitung des (Grund)Rechtsschutzes führen
werden. Eine solche Entwicklung ist vor dem Hintergrund der der Verwirklichung
des
Raums der Freiheit, der Sicherheit und des
Rechts zugrundeliegenden Ziele zweifel-
los erstrebenswert.
Zudem weise ich in diesem Zusammenhang generell darauf
hin, dass gerade der
Vertrag von Lissabon
- entsprechend einem Anliegen der österreichischen
Bundes-
regierung auf den Regierungskonferenzen
2003/04 und 2007 - die primärrechtlichen
Grundlagen für den individuellen Rechtsschutz ganz
wesentlich verstärkt und abge-
sehen vom Bereich der bisherigen 3. Säule weitere für den
individuellen Rechts-
schutz
wesentliche und nicht zuletzt im Hinblick auf die gegenständliche
Anfrage be-
deutsame Verbesserungen bewirkt:
♦ Überprüfbarkeit von Sanktionsmaßnahmen gegen Individuen auch im Bereich
der
GASP (Art. 240a AEUV),
♦ Ausweitung
der Klagslegitimation von Einzelpersonen bei Nichtigkeitsklagen durch
den
Entfall der Erfordernis der individuellen Betroffenheit für Rechtsakte
mit Ver-
ordnungscharakter
(Art. 230 Abs. 4 AEUV) und nicht zuletzt
♦ Verbindlichkeit der Grundrechtecharta (Art. 6 EUV).