873/J XXIII. GP
Eingelangt am 30.05.2007
Dieser Text ist elektronisch textinterpretiert. Abweichungen vom Original sind
möglich.
Anfrage
der
Abgeordneten Dr. Hannes Jarolim, Alexander Zach und weiterer Abgeordneter
an die
Bundesministerin für Justiz
betreffend Unklarheiten bei der Interpretation des Anerkennungsgesetzes 2005, insbesondere im Hinblick auf österreichische Deserteure aus der Wehrmacht.
Wie Sie, sehr geehrte Frau Ministerin, bereits 1997 auf einer Gedenkfeier zu Ehren von Kriegs- dienstverweigerern und Deserteuren in Mauthausen feststellten, gehören das Recht auf Wehr- dienstverweigerung und Desertion zur unverzichtbaren Grundausstattung eines demokratischen Staates. Weiters sagten Sie, Kriegsdienstverweigerer, die ihrem Gewissen folgten, hätten als Zwangsrekrutierte der deutschen Wehrmacht dieses Recht nur unter Todesdrohung durch Fahnenflucht wahrnehmen können. Zu Recht setzten Sie sich für die volle Rehabilitierung von Deserteuren aus der Wehrmacht ein. Die diesbezügliche Situation in Österreich ist jedoch nach wie vor nicht eindeutig geklärt.
Die rückwirkende Aufhebung von Unrechtsurteilen der NS-Militärjustiz ist generell durch das AEG 2005 rechtskräftig. Da österreichische Wehrmachtsdeserteure aber keine ausdrückliche Erwähnung finden, bleibt die Frage bestehen, ob gegen sie gefällte Urteile pauschal als „typisch nationalsozialistisches Unrecht" zu betrachten sind. Diese Frage ist deswegen nicht rein akademisch, weil damit versorgungsrechtliche Ansprüche verknüpft sind.
Der Linzer Strafrechtsprofessor Reinhard Moos, der bis jetzt als Einziger relevante juristische Forschung zum AEG 2005 betrieben hat, fasst seine Kritik folgendermaßen zusammen:
„Auch die Erwähnung ,anderer nationalsozialistischer Unrechtsakte' neben den Gerichtsurteilen ist rechtlich unerheblich, denn zum einen wird nicht gesagt, was unter diesem unbegrenzt weiten Begriff im Einzelnen zu verstehen sein soll, wenn auch die ,politischen Verfolgungsakte' - was immer das im Einzelnen sein soll - hervorgehoben werden, und zum anderen werden solche "Unrechtsakte" durch das Anerkennungsgesetz (Art I § 1) nicht aufgehoben. "1
Des Weiteren stellt er fest:
„Die trotzdem weiterhin
verbleibende Rechtsunklarheit besteht zum einen darin, dass jene
Bestimmungen
von 1945/46 [Aufhebungs- und Einstellungsgesetz und Befreiungsamnestie, Anm.]
1 Moos, Reinhard (2006): Das
Anerkennungsgesetz 2005 und die Vergangenheitsbewältigung der NS- Militärjustiz in Österreich. In: Journal für
Rechtspolitik, Jahrgang 14, Heft 3.
auf die
heutige Situation teilweise nicht mehr richtig passen. Sie sind unvollständig, teils
zu weit,
teils zu eng, teilweise in sich widersprüchlich und
verwirrend oder sie überschneiden sich.
Darum
hätte es im Anerkennungsgesetz statt des bloßen Verweises auf diese Gesetze
eines
korrigierenden und ergänzenden
Gesetzgebungsaktes bedurft, wie ihn im Prinzip der geänderte
Initiativantrag Stoisits vom April 2005 vorgeschlagen hatte “2
Für österreichische Deserteure aus der Wehrmacht ist also nicht zur Gänze geklärt, ob sie rehabilitiert sind und zum Beispiel aufgrund von Desertion abgesessene Haftstrafen als Pensionsersatzzeit angerechnet bekommen.
In diesem Zusammenhang stellen die unterzeichneten Abgeordneten nachstehende
Anfrage
1) Gelten die Urteile der NS-Militärjustiz gegen österreichische Deserteure aus der deutschen Wehrmacht ungeachtet deren Motive als Ausdruck typisch nationalsozialistischen Unrechts und sind sie damit gemäß Anerkennungsgesetz 2005 rückwirkend aufgehoben?
1a) Wenn nein, wird bei der Rehabilitierung von österreichischen Deserteuren aus der Wehrmacht anhand bestimmter Kriterien differenziert? Was sind diese Kriterien? Und wie werden sie angewendet, da es ja einer gesonderten, amtswegigen Prüfung und Feststellung laut Anerkennungsgesetz 2005 nicht bedarf?
2) Wie lautet die Definition von typisch nationalsozialistischem Unrecht, anhand welcher für die Ämter der Landesregierungen, die für den Vollzug des AEG 2005 zuständig sind, feststellbar ist, ob eine Person rehabilitiert ist?
3) Welche Urteile der NS-Militärjustiz sind nicht als typisch nationalsozialistisches Unrecht zu bewerten?
4) Muss die Desertion aus der Wehrmacht im Sinne der Moskauer Deklaration als Beitrag für ein unabhängiges Österreich gewertet werden? Wenn nein, warum nicht?
5) Sind Mörder, Vergewaltiger und andere Straftäter, die von der NS-Militärjustiz verurteilt wurden, durch das AEG 2005 und den darin enthaltenen Verweis auf die Befreiungsamnestie ebenfalls rehabilitiert? Begründen Sie bitte.
2 Moos,
Reinhard (2006): Das Anerkennungsgesetz 2005 und die Vergangenheitsbewältigung der
NS- Militärjustiz in Österreich.
In: Journal für Rechtspolitik, Jahrgang 14, Heft 3.
6) „Mit der unveränderten Aufrechterhaltung des Aufhebungsgesetzes widerspricht das Anerkennungsgesetz jedoch seiner eigenen Intention, eine pauschale Rehabilitation ohne Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles herbeizuführen", schreibt der Strafrechtler Reinhard Moos.3
Hebt die Feststellung im Artikel 1, § 1 des AEG, wonach es keiner gesonderten, amtswegigen Prüfung und Feststellung bedarf, die durch das Aufhebungs- und Einstellungsgesetz, StGBI. Nr. 48/1945, vorgesehenen Einzelfallprüfungen auch für alle Wehrmachtsdeserteure restlos auf?
7) Gilt die Rehabilitierung auch für erfolgreiche Deserteure, die von der NS-Militärjustiz in Abwesenheit verurteilt wurden?
8) Sind Sie der Ansicht, dass die Desertion aus der Wehrmacht eine moralisch gebotene, achtenswerte Handlung war?
9) Ist aufgrund der aufgezeigten Widersprüche und aufgrund der scharfen Kritik des Personenkomitees „Gerechtigkeit für die Opfer der NS-Militärjustiz" am AEG 2005 aus Ihrer Sicht eine Neufassung oder Änderung des Gesetzes erforderlich?
10) Ist aufgrund der aufgezeigten Widersprüche und Unklarheiten des AEG 2005 eine gleichmäßige Vollziehung des Gesetzes überhaupt gewährleistet?
11) Wie wurden die Betroffenen respektive deren Hinterbliebene von der juristischen Reha- bilitierung in Kenntnis gesetzt?
12) Wie wurde die Öffentlichkeit von der juristischen Rehabilitierung in Kenntnis gesetzt? Welche publizistischen Maßnahmen wurden getroffen? Listen Sie bitte im Detail auf.
13) Zum AEG 2005 existieren ein Abänderungsantrag und ein geänderter Initiativantrag, eingebracht von Terezija Stoisits (Grüne) und Hannes Jarolim (SP). Halten Sie die Beschlussfassung dieser Anträge für ein geeignetes Mittel, die evidenten Probleme und Unklarheiten des AEG 2005 wirksam zu beheben? Ein entsprechendes Vorgehen würde sowohl vom Personenkomitee „Gerechtigkeit für die Opfer der NS-Militärjustiz" als auch von Univ.-Prof. Dr. Reinhard Moos unterstützt.
3 Moos, Reinhard (2006): Das
Anerkennungsgesetz 2005 und die Vergangenheitsbewältigung der NS- Militärjustiz in Österreich. In: Journal für Rechtspolitik, Jahrgang 14, Heft 3.