15224/AB XXIV. GP

Eingelangt am 10.09.2013
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BM für Justiz

Anfragebeantwortung

BMJ-Pr7000/0203-Pr 1/2013


Republik Österreich
die bundesministerin für justiz

 

 

Museumstraße 7

1070 Wien

 

Tel.: +43 1 52152 0

E-Mail: team.pr@bmj.gv.at

 

 

Frau
Präsidentin des Nationalrates

 

 

Zur Zahl 15554/J-NR/2013

Die Abgeordneten zum Nationalrat Ing. Robert Lugar, Kolleginnen und Kollegen haben an mich eine schriftliche Anfrage betreffend „dramatische Zunahme von sexuellen Übergriffen in Justizvollzugsanstalten“ gerichtet.

Ich beantworte diese Anfrage wie folgt:

Zu 1 und 2:

In meiner seit 2011 ausgeübten Funktion als Justizministerin wurden in zwei Fällen (2011, Justizanstalt Graz-Jakomini, Täter 14 Jahre alt, Opfer 16 Jahre alt, § 201 Abs. 1 StGB als führendes Delikt; 2011, Justizanstalt Gerasdorf, Täter 17 Jahre alt bzw. 18 Jahre alt, Opfer 17 Jahre alt, § 202 Abs. 1 StGB) Jugendliche wegen sexueller Übergriffe auf Mitinsassen verurteilt. In vier weiteren Fällen (alle im Jahr 2013, Justizanstalt Gerasdorf, Verdächtiger 17 Jahre alt, mutmaßliches Opfer 16 Jahre alt, § 201 Abs. 1 StGB; Justizanstalt Graz-Jakomini, Verdächtiger 17 Jahre alt, mutmaßliches Opfer 16 Jahre alt, § 201 Abs. 1 StGB; Justizanstalt Linz, Verdächtige 16 und 18 Jahre alt, mutmaßliches Opfer 16 Jahre alt, § 201 Abs. 1 StGB; Justizanstalt Wien-Josefstadt, Verdächtige 16, 16 und 17 Jahre alt, mutmaßliches Opfer 14 Jahre alt, § 201 Abs. 1 StGB) sind die Strafverfahren noch nicht abgeschlossen.


Ich gehe davon aus, dass unter „Wiederholungstäter“ im gegebenen Zusammenhang Personen verstanden werden, die nach einem erwiesenen sexuellen Übergriff auf einen anderen Jugendlichen in Haft neuerlich eine ebensolche Tat begangen haben. Ein solcher Fall ist mir nicht bekannt geworden.

Zu 3 bis 5:

Bei der angesprochenen „Studie des Ludwig Boltzmann Institutes für Menschenrechte und des Weißen Ringes“ handelt es sich um das EU-Projekt „Jugendliche im Strafvollzug – Gewalterfahrungen und Möglichkeiten der Veränderung aus Perspektive der Betroffenen“. Das Gesamtprojekt wurde primär aus Mitteln des EU DAPHNE III Programms finanziert, unter anderem auch vom Bundesministerium für Justiz gefördert und von der Children’s Rights Alliance for England (CRAE) geleitet.

Der Befundung liegen Interviews zu Grunde, die von insgesamt acht inhaftierten Jugendlichen mit 21 Insassen in den Justizanstalten Wien-Josefstadt und Gerasdorf im Alter von 14 bis 22 Jahren geführt worden waren. Diese Methodik hat infolge der notwendigen Anonymisierung eine Auseinandersetzung mit bzw. Aufklärung von einzelnen Vorwürfen oder Vorfällen nicht ermöglicht.

Im Anschluss an die Interviews wurden die bekannten Empfehlungen formuliert. Vergleichbare Studien wurden durch das Bundesministerium für Justiz nicht in Auftrag gegeben. Weitere rezente Unter­suchungen liegen allerdings vor (etwa für Österreich Friedrich/Gratz, Gewalt im Gefängnis, JSt 2008, 187 ff mit weiteren Nachweisen; für Deutschland Bieneck/Pfeiffer, Viktimisierungs­erfahrungen im Justizvollzug, Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. 2012, jüngst für den Jugendstrafvollzug in Deutschland mit vergleichbaren Ergebnissen Häufle/Schmidt/Neubacher, Gewaltopfer im Jugendstrafvollzug, BewHi 2013, 20 ff, wo darauf hingewiesen wird, dass sich die Täter- und Opfergruppen weitgehend überschneiden, also häufig Opfer von Gewalt zu Tätern werden und umgekehrt).

Ziele der genannten EU-Studie „Jugendliche im Strafvollzug – Gewalterfahrungen und Möglichkeiten der Veränderung aus Perspektive der Betroffenen“ des Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte waren im weiteren Sinn

•    die Untersuchung der Erfahrungen von inhaftierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Gewalt in Haft durch direkte Einbeziehung der Betroffenen,

•    die Erstattung konstruktiver und kooperativer Vorschläge für Verbesserungen bzw. Veränderungen sowie

•    die Unterstützung von Jugendlichen, jungen Erwachsenen und Entscheidungsträgerinnen und -trägern im Vollzug bei der Umsetzung dieser Verbesserungen bzw. Veränderungen.

Ziele im engeren Sinn waren die Einleitung erster Schritte, die Erarbeitung und Formulierung von Vorschlägen der jungen Insassen, die Setzung von Schwerpunkten und der Beginn einer Diskussion mit den Entscheidungsträgerinnen und -trägern im Vollzug.

Nach der Erhebung von Gewalterfahrungen und einem daran anschließenden Diskussions­prozess konnten als gemeinsame Anliegen der jungen Insassen der Justizanstalten Gerasdorf und Wien-Josefstadt folgende Punkte zur künftigen Konfliktvermeidung identifiziert werden:

a.  Kürzere Einschlusszeiten,

b.  Begrenzung der Haftraumbelegung auf maximal zwei Insassen,

c.  mehr Sport- und Gruppenaktivitäten sowie

d.  mehr Mitsprachemöglichkeiten und eine verbesserte Kommunikation.

Als direkte Umsetzungsmaßnahme der Studie wurden mit Durchführungserlass vom 4. Dezember 2012, BMJ-VD41704/0011-VD 2/2012, Mindeststandards für den Jugendvollzug und die Jugendabteilungen in österreichischen Justizanstalten erlassen.

Zu den konkreten, darüber hinausgehenden Umsetzungsmaßnahmen darf ich auf meine Beantwortung der Anfrage zur Zahl 15344/J-NR/2013 verweisen, die sich thematisch mit dieser Anfrage weitgehend überschneidet.

Zu 6:

Opfer von vorsätzlichen Gewaltdelikten und gefährlichen Drohungen sowie Opfer, deren sexuelle Integrität durch die Straftat beeinträchtigt worden sein könnte, haben auf ihr Verlangen gemäß § 66 Abs. 2 StPO Anspruch auf kostenfreie psychosoziale und juristische Prozessbegleitung, soweit dies zur Durchsetzung ihrer prozessualen Rechte unter Bedachtnahme auf ihre Betroffenheit erforderlich ist. Psychosoziale Prozessbegleitung umfasst die Vorbereitung auf die mit einem Strafverfahren verbundenen emotionalen Belastungen sowie die Begleitung zur Vernehmung im Ermittlungs- und Hauptverfahren. Das Bundesministerium für Justiz beauftragt spezialisierte Opferschutzeinrichtungen mit der Durchführung der Prozessbegleitung und kommt für deren Finanzierung auf.

Darüber hinaus darf auch auf die nicht in die Zuständigkeit des Bundesministeriums für Justiz fallenden Bestimmungen des Verbrechensopfergesetzes (VOG) zur Frage der Hilfeleistungen insbesondere für psycho­therapeutische Krankenbehandlung verwiesen werden.

Trotz des – im internationalen Vergleich – hohen Standards wird der Opferschutz in Österreich laufend ver­bessert, so etwa zuletzt mit dem Sexualstrafrechtsänderungsgesetz 2013, BGBl. I Nr. 116/2013 (in Kraft ab 1. Jänner 2014), womit für unmündige Opfer von Sexualstraftaten die psychosoziale Prozessbegleitung verpflichtend eingeführt wird.


Die Prüfung der Verpflichtungen zur Umsetzung aus der Richtlinie 2012/29/EU über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI[1] ist noch nicht abgeschlossen. Die Umsetzungsfrist für die spezielle Richtlinie endet mit 16. November 2015 (Art 27 Abs. 1).

Das Bestreben der Justiz, die Qualität der juristischen und psychosozialen Prozessbegleitung weiter zu steigern, drückt sich ferner in der Einsetzung einer Arbeitsgruppe zur Neukonzeption der Aus- und Weiterbildung der Prozessbegleiterinnen und Prozessbegleiter aus. Parallel dazu sollen die Qualitätsstandards für die Prozessbegleitung in der inter­ministeriellen Arbeitsgruppe Prozessbegleitung überarbeitet und damit noch besser auf die Bedürfnisse der einzelnen Opfergruppen abgestimmt werden.

Zu 7:

Eine Stellungnahme zu pauschalierten Entschädigungsleistungen für Opfer nach § 6a VOG ist mir – mangels Zuständigkeit für den Vollzug des VOG – verwehrt. Aus dem Rechnungswesen des Bundes ist nicht ermittelbar, ob eine Zahlung an eine Jugendliche bzw. einen Jugendlichen aus dem Titel des sexuellen Missbrauchs geleistet wurde. Statistisches Datenmaterial zu (etwaigen) Anerkenntnissen in diesem Zusammenhang aus dem Amtshaftungsgesetz (AHG ) steht mir nicht zur Verfügung. Eine Durchsicht händisch geführter Aufzeichnungen hat aber ergeben, dass es seit dem Jahr 2008 eine Anspruchsstellung nach dem AHG in Höhe von 25.000 Euro gegeben hat. Den – ausführlichen – Erhebungsergebnissen im Rahmen des administrativen Aufforderungsverfahrens zu Folge haben sich keine Anhaltspunkte für ein konkret rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten von Justizorganen ergeben. Zu einer gerichtlichen Geltendmachung des Ersatzbegehrens ist es in der Folge (bislang) nicht gekommen.

Was die Frage der Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen im Strafver­fahren betrifft, haben Opfer die Möglichkeit, sich dem Strafverfahren durch Erklärung als Privatbeteiligte anzuschließen und ihre zivilrechtlichen Ansprüche aus der Straftat gegenüber dem Beschuldigten geltend zu machen (§ 67 StPO). Das Ausmaß des Schadens ist von Amts wegen im Strafverfahren festzustellen, soweit dies auf Grund der Ergebnisse im Strafver­fahren oder weiterer einfacher Erhebungen möglich ist. Im Fall der Bestellung eines Sachverständigen zur Beurteilung einer Körperverletzung ist diesem die Feststellung der Schmerzperioden aufzutragen, wodurch die Festsetzung des Schmerzengeldes im Rahmen des Strafverfahrens erleichtert werden soll. Im Fall einer Verurteilung des Angeklagten hat das Gericht auch über die zivilrechtlichen Ansprüche des Privatbeteiligten zu entscheiden. Bietet aber das Strafverfahren keine ausreichende Grundlage für die (teilweise) Beurteilung des Anspruchs, ist der Privatbeteiligte auf den Zivilrechtsweg zu verweisen (§ 366 Abs. 1 StPO). Einfache, die Entscheidung über die Schuld- und Straffrage nicht erheblich verzögernde weitere Beweisaufnahmen, die für die Entscheidungsgrundlage erforderlich sind, sind vom Gericht dennoch durchzuführen. Auch besteht die Möglichkeit eines Vorschusses durch den Bund auf die Entschädigungssumme, die dem Privatbeteiligten wegen Tötung, Körperver­letzung oder Gesundheitsschädigung oder wegen Schädigung am Vermögen rechtskräftig zuerkannt wurde (§ 373a StPO). Der Vorschuss kann auf Antrag gewährt werden, wenn offenbar die baldige Zahlung der Entschädigungssumme oder eines entsprechenden Teils davon ausschließlich oder teilweise nicht möglich ist, weil die im selben Verfahren ausgesprochene Freiheits- oder Geldstrafe gegen den Verurteilten vollzogen wird. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn auch im Wege der Zwangsvollstreckung die Befriedigung der Forderung nicht zu erwarten ist (§ 373a Abs. 2 und 3 StPO).

Über die Höhe allfälliger Entschädigungszahlungen aufgrund zivilrechtlicher Zusprüche liegt mir aber kein Zahlenmaterial vor.

 

Wien,      . September 2013

 

 

 

Dr. Beatrix Karl



[1] ABl. L 315 vom 14.11.2012, S 57