2916/AB XXIV. GP

Eingelangt am 29.10.2009
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BM für Justiz

Anfragebeantwortung

DIE  BUNDESMINISTERIN
           FÜR  JUSTIZ

BMJ-Pr7000/0217-Pr 1/2009

 

An die

                                      Frau Präsidentin des Nationalrates

                                                                                                                           W i e n

 

zur Zahl 2948/J-NR/2009

 

Der Abgeordnete zum Nationalrat Mag. Harald Stefan und weitere Abgeordnete haben an mich eine schriftliche Anfrage betreffend „Überprüfung von Geschworenenurteilen“ gerichtet.

Ich beantworte diese Anfrage wie folgt:

Zu 1:

Gegen Urteile des Bezirksgerichts bzw. des Einzelrichters des Landesgerichts gibt es das Rechtsmittel der Berufung (§§ 464, 489 StPO). Die Berufung kann wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe, wegen des Ausspruchs über die Schuld und die Strafe sowie wegen des Ausspruchs über privatrechtliche Ansprüche ergriffen werden. Werden alle genannten Bereiche bekämpft, spricht man von einer sogenannten „vollen Berufung“, welche nicht nur die Nichtigkeitsbeschwerde und die Strafberufung im Verfahren vor Kollegialgerichten umfasst, sondern darüber hinaus der Bekämpfung der sonst unanfechtbaren Entscheidungen der Beweisfrage (Schuldberufung) dient. In diesem Rahmen können unrichtige Feststellungen des Gerichts geltend gemacht und die Beweiswürdigung uneingeschränkt sowohl zum Vorteil als auch zum Nachteil des Angeklagten bekämpft werden (§§ 464 Z 2, 489 Abs. 1 StPO). Dabei können auch neue Tatsachen und Beweismittel durch die Parteien vorgebracht werden; ein Neuerungsverbot besteht nicht.

Zu 2:

Gegen Urteile der Geschworenengerichte steht gemäß § 344 StPO das Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde offen, die materielle und formelle Fehler (§§ 281, 281a und 345 StPO) erfasst. Berufung kann nur gegen die Strafart, das Strafmaß oder gegen die Verhängung einer Maßnahme sowie gegen den Ausspruch über die privatrechtlichen Ansprüche ergriffen werden (§§ 283, 346 StPO).

Die Beweiswürdigung eines Urteils eines Geschworenengerichts lässt sich nur im eingeschränkten Umfang mit dem Nichtigkeitsgrund des § 345 Abs. 1 Z 10a StPO (erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit der im Wahrspruch der Geschworenen festgestellten entscheidenden Tatsachen) bekämpfen.

Dieser Unterschied zu den Rechtsmittelmöglichkeiten gegen Urteile des Bezirksgerichts bzw. des Einzelrichters des Landesgerichts ergibt sich nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass Grundlage des Urteils im Geschworenenverfahren allein der Wahrspruch der Geschworenen ist. Eine (anfechtbare) Begründung ist hiefür nicht vorgesehen und kann Laien mangels juristischer Fachkenntnisse in diesem Umfang auch nicht zugemutet werden.

Zu 3:

Die mangelnde Begründung von Urteilen des Geschworenengerichts erscheint auch im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Bezug auf das Grundrecht auf ein faires Verfahren bedenklich. Es bedarf meiner Ansicht nach einer Weiterentwicklung der Laiengerichtsbarkeit mit dem Ziel, die hohe Qualität der Rechtsprechung zu erhalten, nachvollziehbare und überprüfbare Urteilsbegründungen zu gewährleisten sowie effektiven Rechtschutz zu ermöglichen. So könnte durch die Einbindung der Berufsrichter in die Entscheidungsfindung über die Schuldfrage eine anfechtbare Begründung der Urteile ermöglicht werden.

Zu 4 und 5:

Zu den erwähnten Reformüberlegungen haben schon breite Diskussionen stattgefunden. Zuletzt wurde dieses Thema in einer Veranstaltung der Fachgruppe Strafrecht der Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter mit dem Thema „Geschworenengericht, Bereicherung oder Bürde des Rechtsstaats?“ aufgegriffen, wobei der Reformbedarf überwiegend als dringend bezeichnet wurde.

Auch im Lichte der Ergebnisse dieser Tagung habe ich mich entschieden, eine Arbeitsgruppe mit hochrangigen Experten aus unterschiedlichen Bereichen einzusetzen, die bis Anfang des kommenden Jahres die verschiedenen Reformmöglichkeiten unter Einbeziehung der vorhandenen Meinungen ausloten und Vorschläge für eine ausgewogene und zeitgemäße Lösung erarbeiten soll. Als deren Mitglieder sind folgende Personen vorgesehen:

Mag. Friedrich Forsthuber, Richter des Oberlandesgerichts Wien und Mitglied der Fachgruppe Strafrecht der österreichischen Richtervereinigung; Univ. Prof. Dr. Helmut Fuchs, Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht und Forschung des Instituts für Strafrecht und Kriminologie; Dr. Christoph Kotanko, Chefredakteur Kurier, ehemaliger Laie in einem Geschworenengericht; Dr. Rudolf Mayer, Strafverteidiger und Vorstandsmitglied der Vereinigung österreichischer Strafverteidiger; Dr. Elisabeth Rech, Strafverteidigerin und Vizepräsidentin der Wiener Rechtsanwaltskammer; Dr. Gerald Ruhri, Rechtsanwalt, nominiert von der Vereinigung österreichischer Strafverteidiger; Dr. Wolfgang Swoboda, Leiter der Staatsanwaltschaft Eisenstadt und Präsident der Vereinigung österreichischer Staatsanwältinnen und Staatsanwälte; Prof. Winfried R. Garscha sowie Mag. Christian Pilnacek als Vorsitzender der Arbeitsgruppe, Leitender Staatsanwalt im Bundesministerium für Justiz.

Zu 6 und 7:

Der österreichische Strafprozess ist vom Grundsatz der materiellen Wahrheit geprägt (§ 258 StPO). Ziel des Verfahrens ist es demnach, den wahren Sachverhalt zu ermitteln und so eine materiell richtige Entscheidung zu ermöglichen. Über die Frage, ob eine Tatsache als erwiesen anzunehmen ist, entscheiden die Richter nicht nach gesetzlichen Beweisregeln, sondern nur nach ihrer freien, aus der gewissenhaften Prüfung aller Beweismittel gewonnenen Überzeugung, wobei dieser Grundsatz für Berufs- und Laienrichter gleichermaßen gilt.

Die Strafprozessordnung enthält demnach auch keine taxative Aufzählung möglicher Beweismittel, sie beschränkt diese jedoch auch nicht. Grundsätzlich kann daher jede Erkenntnisquelle, durch die sich das Gericht von der Wahrheit oder Unwahrheit einer Tatsache oder Behauptung überzeugen kann, als Beweismittel dienen (Lendl, WK-StPO § 258 Rz 16 ff).

Dieser Grundsatz wird lediglich durch punktuelle Beweisverbote eingeschränkt, die den nötigen Ausgleich zwischen dem staatlichen Interesse der Wahrheitsermittlung einerseits und den fundamentalen Rechten von Einzelpersonen anderseits schaffen sollen. Der zusammenfassende Ausdruck „Beweisverbote“ umfasst nach heutigem Verständnis Beweiserhebungsverbote und Beweisverwertungsverbote. Innerhalb der Beweiserhebungsverbote werden Beweismittel-, Beweisthemen- und Beweismethodenverbote unterschieden. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass Beweiserhebungsverbote die Heranziehung bestimmter Beweismittel zur Beweisaufnahme überhaupt oder zu bestimmten Themen oder auf bestimmte Weise als unzulässig erklären. So ist etwa die Vernehmung Zeugnisunfähiger schlechthin verboten (§ 155 Abs. 1 Z 4), die Vernehmung Geistlicher nur über den Inhalt der ihnen unter dem Siegel geistlicher Amtsverschwiegenheit anvertrauten Informationen (§ 155 Abs. 1 Z 1) und die Vernehmung des Beschuldigten mit Fangfragen (§ 164 Abs. 4 letzter Satz). Offenkundige und gerichtskundige, sogenannte notorische Tatsachen bedürfen generell keines Beweises.

Beweisverbote lassen sich mit Blick auf die gesetzliche Systematik nur nach verschiedenen Gesichtspunkten einteilen. Man kann danach unterscheiden, ob sie ausdrücklich im Gesetz verankert sind oder nicht, ob sie nur zum Vorteil oder zum Nachteil des Beschuldigten wirken und ob sie nur als Erhebungsverbote, nur als Verwertungsverbote oder mit Blick in beide Richtungen angelegt sind. An die Zuordnung eines Beweisverbotes zu den Beweismittel- oder Beweisthemenverboten sind jedoch keine Konsequenzen in Bezug auf die Verwertbarkeit eines verbotswidrig gewonnenen Beweises verknüpft, sodass sich aus der akademischen Qualifikation eines Beweisverbotes in der Praxis nichts gewinnen lässt.

Ausdrücklich geregelte Beweisverbote ergeben sich in der Strafprozessordnung unter anderem hinsichtlich der „Nichtigkeit“ von Aussagen aus §§ 155 Abs. 1, 159 Abs. 3 iVm 156 Abs. 1 Z 1, 157 Abs. 1 Z 2 bis 5 und Abs. 2 StPO, durch das beschränkte Verlesungs- und Vorführungsverbot nach § 252 Abs. 1 StPO, die Umgehungsverbote nach §§ 144 Abs. 1, 157 Abs. 2 und 252 Abs. 4 StPO sowie das bedingte Aussageverweigerungsrecht nach § 158 StPO.

Ein explizit geregeltes Beweisthemenverbot findet sich in § 112 StGB, wonach in Bezug auf Tatsachen des Privat- oder Familienlebens und über strafbare Handlungen, die nur auf Verlangen eines Dritten verfolgt werden, der Wahrheitsbeweis gemäß § 112 Satz 2 StGB nicht nur bei qualifizierter öffentlicher (§ 111 Abs 2 StGB), sondern auch bei einfacher übler Nachrede (§ 111 Abs. 1 StGB) ausgeschlossen ist.

Neben den ausdrücklich geregelten Beweisverboten können sich jedoch weitere durch wertende Betrachtung ergeben. Deren Basis können insbesondere Verfahrensgrundsätze und Grundrechte bilden.

Zu 8:

Durch die Bestimmung des § 3h Verbotsgesetz ist ex lege klargestellt, dass der nationalsozialistische Völkermord und die anderen nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit insgesamt als historische Tatsache notorisch sind und daher im Strafverfahren keiner weiteren beweismäßigen Erörterung bedürfen. Dieses Beweisthema ist somit jeglicher Beweisführung entzogen. Insoweit ergibt sich damit aus § 3h Verbotsgesetz verfahrensrechtlich ein Beweisthemenverbot.

 

. Oktober 2009

 

(Mag. Claudia Bandion-Ortner)