3152/AB XXIV. GP
Eingelangt am 01.12.2009
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BM für Wissenschaft und Forschung
Anfragebeantwortung

BMWF-10.000/0296-III/FV/2009
Frau Präsidentin
des Nationalrates
Mag. Barbara Prammer
Parlament
1017 Wien
Wien, 30. November 2009
Die schriftliche parlamentarische Anfrage Nr. 3153/J-NR/2009 betreffend die Bedeutung des Gesundheitswesens bei der Erkennung, Hilfestellung, Dokumentation, Spurensicherung und Prävention von "Gewalt in der Familie", die die Abgeordneten Mag. Judith Schwentner, Kolleginnen und Kollegen am 30. September 2009 an mich richteten, wird wie folgt beantwortet:
Zu Frage 1:
Eine koordinierte Zusammenarbeit und optimierte interministerielle Strategie erscheint besonders auf dem Gebiet der häuslichen Gewalt unverzichtbar. Diesem Erfordernis tragen die einzelnen Verantwortungsträger regelmäßig bereits durch enge Kooperationen bestmöglich Rechnung.
Zu Fragen 2 und 3:
Seitens des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung selbst sind keine Studien über „Gewalt in der Familie“ im Gesundheitswesen geplant. Bezüglich der auf Universitätsebene laufenden Hilfsangebote siehe Antwort zu den Fragen 6 und 8. In diesem Zusammenhang kann darauf hingewiesen werden, dass sich das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung auf unterschiedlichen Ebenen mit verschiedenen Gesprächspartnern koordiniert, um die Sensibilität für diese wichtige Thematik zu erhöhen.
Zu Fragen 4 und 5:
Diesbezüglich verweise ich auf die Beantwortung der Anfrage Nr. 3152/J-NR/2009 durch den für die Erstellung des zitierten Leitfadens zuständigen Herrn Bundesminister für Wirtschaft, Familie und Jugend.
Zu Frage 6:
Die Gestaltung von Studienplänen bzw. Curricula fällt in den autonomen Wirkungsbereich der Universitäten. Aber auch ohne „verbindliche Vorgabe“ haben die Medizinischen Universitäten die gesellschaftspolitisch wichtige Themenstellung „Gewalt in der Familie“ in unterschiedliche Lehrveranstaltungsinhalte integriert. Das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung befürwortet und unterstützt diese universitären Initiativen.
So hat z.B.
die Medizinische Universität Wien diese Bereiche im Block 6, Kapitel 3: „Psyche,
Lebenszyklus und Familie“ sowie im Block 15, Kapitel 9: „Ethik,
Rechts- und Gerichtsmedizin“ sowie im Rahmen der Ringvorlesungen „Gender
Ring: Gewalt im Lebenszyklus der Frau,
Therapien des sexuellen Missbrauchs und körperliche und sexuelle Gewalt
gegen Frauen und Kinder“ umfassend miteinbezogen.
Die Medizinische Universität Graz hat auf Rückfrage folgende detaillierte Befassung mit dem Themenbereich bekannt gegeben:
„Das genannte Thema ist eine Querschnittsmaterie, die insbesondere von Gerichtsmedizin, Kinderchirurgie und Medizinischer Psychologie behandelt wird. An der Medizinischen Universität Graz erfolgt die Lehre zum Thema Gewalt an Lebenden, häusliche Gewalt und Gewalt gegen Kinder bereits jetzt durch das in Kooperation mit der Medizinischen Universität Graz errichtete Ludwig Boltzmann Institut für Klinisch-Forensische Bildgebung. Im Jahr 2000 wurde das Curriculum für Medizinstudent/inn/en (Gerichtsmedizin-Praktikum) diesbezüglich angepasst und um das Thema der klinischen Rechtsmedizin ergänzt. Inhaltlich wird ein hoher Wert auf das Erkennen von Gewalt an Lebenden sowie die Untersuchung von Gewaltopfern, Spurensicherung und Dokumentation gelegt. Seit 2008 findet in Graz auch eine über das Institut für Gerichtliche Medizin organisierte, regelmäßig stattfindende mehrtägige Schulung von Polizeischüler/innen statt, welche ebenfalls umfassend über den Bereich der körperlichen und sexuellen Gewalt an Lebenden und die Vorgehensweise in solchen Fällen geschult werden.
Zudem bietet das Ludwig Boltzmann Institut für Klinisch-Forensische Bildgebung umfassende Fortbildungen in den regionalen Krankenhäusern an (Zielgruppen: Ärzt/innen und Pflege-personal). Regelmäßig erfolgen freiwillige Fortbildungen auch für Jurist/innen (Staats-anwält/innen, Richter/innen) und Mitarbeiter/innen von Opferhilfsstellen (z.B. Netzwerk gegen Gewalt, Weißer Ring, Frauenhäuser etc.). Eine verpflichtende Lehre zum Gebiet der klinischen Rechtsmedizin besteht bislang lediglich für Medizinstudierende und seit 2008 für Polizei-schüler/innen. Eine verpflichtende Teilnahme an Fortbildungsveranstaltungen, insbesondere für Jurist/innen, Pflegepersonal in Spitälern, Altersheimen etc. sowie Mitarbeiter/innen von Jugendämtern und Opferhilfseinrichtungen wäre sehr wünschenswert und würde dementsprechend unterstützt.
Derzeit ist der Gewaltschutz, was die Kinder betrifft, auch Teil der kinderchirurgischen Vor-lesungen. Zweifelsohne wäre es auch wichtig, diese Kenntnisse bei anderen Berufsgruppen (Hebammen, Geburtshelfer/innen, Krankenpflegepersonen, etc.) zu verbreiten, bzw. bestehende Kenntnisse zu vertiefen.
Darüber hinaus werden im Rahmen der neuen Studienordnung Humanmedizin an der Medizinischen Universität Graz Pflicht-Seminare mit Inhalten angeboten, die als studienbegleitender „track“ vom 3. bis zum 10. Semester Wissen und Fertigkeiten vermitteln zu den Bereichen „Kommunikation / Supervision / Reflexion (einschließlich „Ethik in der Medizin"). In dieser Präsenzlehre im Ausmaß eines ganzen Moduls (ca. 100 AE) geht es randständig auch um krankheitsgenerierende Konflikte und Krisen in- und außerhalb der Familie. Dabei werden die Studierenden nicht nur mit den Phänomenen von psychosozialen Stressoren (auch Ausübung von Macht und Gewalt gegenüber anderen) konfrontiert, sondern – was für eine Problemlösung noch wesentlicher ist – auch Fertigkeiten ansatzweise trainiert, mit derartigen Ereignissen konstruktiv umgehen zu können. Um diesen Soft Skills im Rahmen einer wissenschaftlichen Berufsvorbereitung auch genügend Bedeutung zu verleihen, hat die MUG für diesen Lehrbereich eine eigene Teaching Unit errichtet: Der zukünftige Arzt sollte psychosoziale Krisen (und dabei auch Gewaltphänomene in Familienstrukturen) besser als bisher erkennen und Schritte zur Problemlösung einleiten können. Dies wird als kommunikative Kompetenz in der Arzt-Patient-Beziehung vermittelt.
Zusätzlich wird seit dem Sommersemester 2009 eine eigene, über zwei Semester reichende Lehrveranstaltung „psychosoziale Krisenintervention und StressbewäItigung“ als Wahlfach angeboten, in welcher interessierte Studierende der Medizin sich in den Bereichen Konflikt- und Problemlösung vertiefen können. Auch hier ist das Phänomen Machtmissbrauch und Gewalt – allerdings nicht so einseitig wie in der Anfrage definiert – unter anderem Thema der inhaltlichen wie praktischen Ausbildung.
Die insgesamt größte Aufmerksamkeit erlangt das Thema in seit 1991 konsekutiv angebotenen postgradualen PSY-Diplom-Curricula „Psychosoziale Medizin" (PSYI ‚ 1 Semester), „Psycho-somatische Medizin" (PSY2, 4 Semester) und insbesondere „Psychotherapeutische Medizin (PSV3, 6 Semester). Diese haben das Ziel, Ärzt/innen die Kompetenzen für eine „psychosomatische Grundversorgung (PSY2), für das Erkennen und die konkrete Einflussnahme auf psychosoziale Krankheitsfaktoren bei ihren Patient/innen (PSY3) zu vermitteln (inkl. der für die Fragestellung relevanten Emotionsregulation bzw. Aggressionsabbau sowie der Unterstützung von psychosozialen Kompetenzen bzw. Friedfertigkeit).“
Für den Bereich der Fachhochschulen und Privatuniversitäten ist dazu Folgendes anzumerken: Gemäß den gesetzlichen Vorgaben (Fachhochschul-Studiengesetz 1993 sowie Universitäts-Akkreditierungsgesetz 1999) gilt für die Gestaltung der Curricula das Prinzip der Freiheit der Lehre sowie der Grundsatz der Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre (siehe § 3 Abs. 2, Z. 1 FHStG 1993 idgF sowie § 2 Abs. 1, Z. 5 UniAkkG 1999 idgF). Die Gestaltung der Curricula obliegt daher den Organen der Erhalter der Fachhochschulen und Privatuniversitäten, eine Evaluierung dieser Curricula wird vom Fachhochschulrat bzw. vom österreichischen Akkreditierungsrat im Rahmen der Akkreditierungsverfahren durchgeführt.
Eine direkte Einflussnahme in die Curricula der Fachhochschulen und Privatuniversitäten in Form der Aufnahme bestimmter Lehrinhalte durch das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung ist daher derzeit nicht möglich.
Zu Frage 7:
Die finanzielle Bedeckung der oben dargestellten Lehrveranstaltungen der Medizinischen Universitäten erfolgt aus dem den Universitäten im Rahmen der jeweils für drei Jahre abgeschlossenen Leistungsvereinbarungen zur Verfügung gestellten Globalbudget.
Für den Bereich der Fachhochschulen und Privatuniversitäten siehe Antwort zu Frage 6.
Zu Frage 8:
Die Implementierung von klinisch-forensischen Ambulanzen im Gesundheitswesen fällt nicht in den Kompetenzbereich des Bundesministers für Wissenschaft und Forschung. Doch ist darauf hinzuweisen, dass im Bereich des Ludwig Boltzmann-Institutes für Klinisch-forensische Bildgebung in Graz die derzeit einzige forensische Ambulanz für die Untersuchung von lebenden Gewaltopfern eingerichtet ist.
Dazu hat die Medizinische Universität Graz Folgendes ausgeführt:
„An der Medizinischen Universität Graz besteht die österreichweit bislang einzige forensische Ambulanz für die Untersuchung von lebenden Gewaltopfern. Die Grazer Ambulanz wird durch Ärzt/innen aus dem Fachgebiet der Gerichtsmedizin betrieben, welche einen 24-Stunden-Dienst zur Untersuchung lebender Opfer anbieten, unabhängig davon, ob diese vorgängig Anzeige erstattet haben. Die Klinisch-Forensische Ambulanz in Graz steht nicht nur für Opfer nach häuslicher Gewalt, sexueller Gewalt, Kindesmisshandlung oder Kindesmissbrauch offen, sondern auch zur Untersuchung, Dokumentation und Spurensicherung nach Gewalt gegen alte Menschen, nach Unfällen mit aufwendigen rekonstruktiven Fragestellungen, überlebten Behandlungsfehlern oder zur Untersuchung von Tatverdächtigen. Die verantwortliche Leitung der Ambulanz durch Fachärzt/innen für Gerichtsmedizin ist deshalb wesentlich, da diese als einzige Medizinische Fachdisziplin im Rahmen der Facharztausbildung zu allen Formen der überlebten und nicht überlebten Gewalt, deren Erkennung, der Untersuchung und Begutachtung solcher Fälle einschließlich der Durchführung einer professionellen Spurensicherung ausgebildet werden. Klinisch-forensische Ambulanzen sollten deshalb an den bestehenden Gerichtsmedizinischen Instituten betrieben werden, wobei aber eine sehr enge Zusammenarbeit mit klinischen Einrichtungen (z.B. Kinderkliniken, Gynäkologische Abteilungen) unbedingt anzustreben ist.
Der Bedarf nach einer breiten klinisch-forensischen Versorgung der Bevölkerung ist in Österreich zweifellos gegeben. Da klinisch-forensische Ambulanzen gemäß den Erfahrungen in Graz sowie den Erfahrungen an vergleichbaren ausländischen Institutionen unbedingt auch für Gewaltopfer offen stehen müssen, die das Ereignis zum Untersuchungszeitpunkt nicht oder noch nicht angezeigt haben, besteht das Problem, dass diese Untersuchungen derzeit nicht bezahlt werden. Eine Verrechnung kann lediglich dann erfolgen, wenn ein Auftrag seitens der Staatsanwaltschaft vorliegt. Die Finanzierung der Klinisch-Forensischen Ambulanz in Graz erfolgt über das Ludwig Boltzmann Institut, welches die Ambulanz im Rahmen des wissenschaftlichen Programms betreibt. Da andere Standorte in Österreich nicht über derartige Möglichkeiten verfügen, ist die Sicherstellung einer Finanzierung der Untersuchungen auch in nicht angezeigten Fällen unabdingbare Voraussetzung für die Implementierung von klinisch-forensischen Ambulanzen mit 24-Stunden-Diensten von Gerichtsmedizinern.
Für das Kindesalter ist eine Implementierung in das Gesundheitswesen insofern erfolgreich gelungen, als dass es für Kinderspitäler gesetzlich verpflichtend ist, eine Kinderschutzgruppe einzurichten, die sich mit der Diagnostik und Ersttherapie, sowie in enger Zusammenarbeit mit dem zuständigen Jugendamt um das weitere Wohlergehen dieser Kinder einsetzt. Gerichts-mediziner/innen werden bei Bedarf immer miteinbezogen.
Die strengen nationalen Datenschutzrichtlinien, die Verschwiegenheitspflicht von klinischen Psycholog/innen und Psychotherapeut/innen sowie die Regeln im Umgang mit schützenswerten Daten auch im ärztlichen Bereich machen eine Dokumentation derartiger Ereignisse schwierig. Wenn dies ein nationales Anliegen sein soll, dann ist jedenfalls sicherzustellen, dass alle Formen häuslicher Gewalt bzw. Missbrauchs in Familienverbänden dokumentiert werden, nicht nur die in der Anfrage fokussierten.“
Der Bundesminister:
Dr. Johannes Hahn e.h.