5088/AB XXIV. GP

Eingelangt am 23.06.2010
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BM für Justiz

Anfragebeantwortung

 

 

DIE  BUNDESMINISTERIN
           FÜR  JUSTIZ

BMJ-Pr7000/0122-Pr 1/2010

 

An die

                                      Frau Präsidentin des Nationalrates

                                                                                                                           W i e n

 

zur Zahl 5151/J-NR/2010

 

Der Abgeordnete zum Nationalrat Ing. Norbert Hofer und weitere Abgeordnete haben an mich eine schriftliche Anfrage betreffend „Kinderrechte in Österreich“ gerichtet.

Ich beantworte diese Anfrage wie folgt:

Zu 1, 2, 7 und 9:

Generell ist festzuhalten, dass gerichtliche Besuchsrechtsentscheidungen und deren allfällige (zwangsweise) Durchsetzung aufgrund der Sensibilität und der Dynamik der dahinter stehenden Materie, nämlich der Regelung des Rechts auf persönlichen Verkehr eines minderjährigen Kindes und des Elternteils, mit dem das Kind nicht im gemeinsamen Haushalt lebt, im Vergleich zu sonstigen rechtsgestaltenden Gerichtsentscheidungen viele Besonderheiten aufweisen, die in den maßgeblichen Bestimmungen des geltenden materiellen und formellen Rechts an mehreren Stellen Berücksichtigung finden. Oberstes Prinzip der Gestaltung des Besuchsrechts ist das Wohl des Kindes. Allerdings müssen auch die Ansprüche beider Elternteile aus ihrem Grundrecht auf Privat- und Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK berücksichtigt werden. Diese beiden Grundrechte stehen bei einem Konflikt um das Besuchsrecht in einem Widerspruch zueinander. Der vom Kind getrennt lebende Elternteil hat ein Recht auf Kontakt zu seinem Kind und dieses zu jenem Elternteil, beide Elternteile und das Kind ein Recht auf ungestörtes Privat- und Familienleben, in das nur mit angemessenen Mitteln eingegriffen werden darf. Bereits daraus erhellt sich die vielschichtige Problematik solcher Gerichtsentscheidungen, da es zunächst zu ermitteln gilt, welche Besuchsregelung dem Kindeswohl entspricht, wofür in strittigen Fällen regelmäßig psychologische oder pädagogische Sachverständige herangezogen werden. Grundsätzlich ist überdies auch der Jugendwohlfahrtsträger vor Beschlussfassung beizuziehen. Zum Schutz der Kindesinteressen sieht das Gesetz vor, dass das Besuchsrecht eines Elternteils aus schwerwiegenden, im Wohl des Kindes liegenden Gründen eingeschränkt oder vorübergehend sogar untersagt („ausgesetzt“) werden kann, wenn durch dessen Ausübung eine konkrete Gefährdung des körperlichen oder seelischen Wohles des Kindes zu befürchten ist. Da menschliche Beziehungen, gerade in prekären familiären Situationen, oftmals einem raschen Wandel unterliegen, können derartige Umstände freilich auch nach einer (rechtskräftigen) gerichtlichen Besuchsrechtsregelung eintreten und der Fortsetzung bzw. Durchsetzung der im Beschluss getroffenen Regelung entgegenstehen. Jedenfalls sind die Gerichte zur Überprüfung eines derartigen Vorbringens einer Verfahrenspartei verpflichtet. Darüber hinaus sieht das geltende Recht selbstverständlich die Möglichkeit vor, Besuchsrechtsregelungen unter Anwendung angemessener Zwangsmittel nach § 79 Abs. 2 AußStrG, also insbesondere durch Verweise, Geldstrafen oder allenfalls Beugehaft, zwangsweise durchzusetzen. Doch auch diese Möglichkeit bedarf, wiederum unter Berücksichtigung des Aspekts des Kindeswohles, gesetzlicher Einschränkungen. So findet gegen den Willen eines mündigen Minderjährigen weder eine Besuchsregelung statt noch ist eine bereits bestehende Regelung durchsetzbar. Gerichtliche Zwangsmittel sind auch dann weder anzuordnen noch durchzusetzen, wenn dies dem Kindeswohl widerspricht. Andererseits kann eine beharrliche und grundlose Verweigerung von Besuchskontakten zum nicht betreuenden Elternteil eine Gefährdung des Kindeswohls im Sinne des § 176 ABGB darstellen und zur gerichtlichen Entziehung oder Einschränkung der Obsorge des betreuenden Elternteils führen. Schließlich können auch im Bereich der Regelung des Rechts auf persönlichen Verkehr vom Gericht vorläufige Maßnahmen („vorläufiges Besuchsrecht“) getroffen werden, wenn ein sofortiges gerichtliches Eingreifen zur Beseitigung einer konkreten Gefährdung des Kindes geboten ist. Überdies kann jeglichem Beschluss in diesem Bereich gemäß § 44 AußStrG vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zuerkannt werden, soweit dies zur Vermeidung erheblicher Nachteile für eine Partei für notwendig erachtet wird. In diesem Fall treten die vorläufigen Beschlusswirkungen ein, sobald der Beschluss über ihre Zuerkennung zugestellt wurde, also bereits vor dessen Rechtskraft.

Zur Überwindung von Schwierigkeiten bei der Ausübung des Besuchsrechts, insbesondere zur Neu- oder Wiederanbahnung des Kontakts zwischen einem Kind und dem nicht betreuenden Elternteil, kann das Gericht nach § 111 AußStrG auch die Beiziehung einer dritten, hiezu geeigneten und bereiten Person als Besuchsbegleiter verfügen. Dieses Instrumentarium soll in den entsprechenden Fällen eine kindgerechte Ausübung des Besuchsrechts des nicht betreuenden Elternteils sicherstellen.

Zuletzt sei noch erwähnt, dass durch das mit 1. Juli 2010 in Kraft tretende neue Institut des Kinderbeistands dem Kind in eskalierten und das Wohl des Kindes besonders belastenden Verfahrenssituationen eine speziell ausgebildete Person zur Seite gestellt wird, die das Kind entlastet und „der Stimme des Kindes“ im Verfahren Geltung verschafft.

Sämtliche genannten Instrumentarien sind von den Richterinnen und Richtern im Lichte der grundrechtlichen Garantien der Artikel  8 MRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und Artikel 6 MRK (Recht auf ein faires Verfahren) insbesondere unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im jeweiligen Einzelfall anzuwenden und im Falle geänderter faktischer Gegebenheiten entsprechend anzupassen.

Zu 3, 6, 8, 14 und 15:

Mir ist freilich bewusst, dass es sich bei der Thematik des Besuchsrechts um eine gesellschaftspolitisch höchst sensible Materie handelt. Deshalb bin ich besonders bemüht, Verbesserungspotenzial sowohl auf legislativer Ebene als auch auf organisatorischer Ebene und im Rahmen der Aus- und Fortbildung der Richterinnen und Richter auszuloten und – soweit es die angespannte budgetäre Situation zulässt – entsprechende Maßnahmen zur Umsetzung von Verbesserungen zu setzen. Insbesondere ist es mir ein Anliegen, gerichtliche Verfahren in diesem Bereich zu beschleunigen. Dieses Ziel kann jedoch nur gelingen, wenn ausreichende personelle Ressourcen sowohl im Bereich der Familienrichterinnen und Familienrichter als auch im Bereich der psychologischen und pädagogischen Sachverständigen und der Sozialarbeiter zur Verfügung stehen. Entsprechende Ideen sind in meinem Haus seit langem vorhanden. Damit meine ich insbesondere den bundesweiten Ausbau der Gerichtshilfe für den Pflegschaftsbereich (Schlagwort: „Familiengerichtshilfe“). Dadurch würden die Richterinnen und Richter die Möglichkeit bekommen, geeignete Fachkräfte (Psychologen, Sozialarbeiter) bei Bedarf sofort mit konkreten Erhebungstätigkeiten vor Ort zu beauftragen. Durch das Bereitstellen einer solcherart qualifizierten Unterstützung könnten sich die Richter überdies stärker auf die rechtlichen Aspekte eines Falles konzentrieren und wären weniger mit Fragen der Fürsorge, der Streitschlichtung oder anderen Fragen auf der „metarechtlichen Ebene“ belastet. Dadurch könnte die Qualität der Verfahren und der gerichtlichen Entscheidungen erheblich verbessert werden. Überdies könnte vielfach die Einholung von Sachverständigengutachten vermieden werden, die unmittelbare Folge der Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsermittlung ist. Auf diese Weise ließen sich Kosten einsparen und auch positive Effekte auf die Verfahrensdauer erzielen. Daneben werden bereits derzeit auch mögliche legislative Anpassungen im Obsorge- und Besuchsrecht überlegt. Mögliche Zielrichtungen von Gesetzesänderungen in dieser heiklen Materie müssen jedoch zunächst zweckmäßigerweise auf breiter wissenschaftlicher, politischer und praxisbezogener Basis diskutiert werden. Dabei werden auch die Ergebnisse der parlamentarischen Enquete vom 24. Juni 2010 in die weiteren legislativen Überlegungen des Bundesministeriums für Justiz einfließen. Der diesbezügliche Meinungsbildungsprozess befindet sich derzeit im Anfangsstadium.

Die mögliche Implementierung einer verpflichteten Obsorge beider Elternteile steht jedoch nicht in direktem Zusammenhang mit der angesprochenen Besuchsrechtsproblematik. Letztere ist nämlich in allererster Linie eine Konsequenz des Faktums, dass die Eltern eines Kindes getrennt leben und folglich ein Modus gefunden werden muss, der die Betreuungszeiten des einen und des anderen Elternteiles festlegt. An den zeitlichen Schnittstellen dieser Regelung muss es zwangsläufig und unvermeidlich zu Übergabesituationen des Kindes kommen; die Frage der Zuordnung der elterlichen Obsorge kann diese Problemstellung und die daraus resultierenden Schwierigkeiten nicht erleichtern.

Zu 4, 10, 12 und 13:

Diese Fragen betreffen konkrete Gerichtsverfahren und somit den Bereich der unabhängigen Rechtsprechung, der von mir aufgrund des Grundsatzes der Gewaltentrennung nicht zu kommentieren ist.

Zu 5 und 11:

Angelegenheiten der Jugendwohlfahrt ressortieren weder legislativ noch in der Vollziehung, insbesondere nicht in den Bereichen der Dienst- und Fachaufsicht, beim Bundesministerium für Justiz, weshalb mangels Zuständigkeit hiezu nicht Stellung genommen werden kann.

 

. Juni 2010

 

(Mag. Claudia Bandion-Ortner)