6641/AB XXIV. GP

Eingelangt am 21.12.2010
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BM für Justiz

Anfragebeantwortung

DIE  BUNDESMINISTERIN
           FÜR  JUSTIZ

BMJ-Pr7000/0266-Pr 1/2010

 

An die

                                      Frau Präsidentin des Nationalrates

                                                                                                                           W i e n

 

zur Zahl 6728/J-NR/2010

 

Die Abgeordneten zum Nationalrat Dietmar Keck, Kolleginnen und Kollegen haben an mich eine schriftliche Anfrage betreffend „Prozesshilfe und Opferschutzorganisationen“ gerichtet.

Ich beantworte diese Anfrage wie folgt:

Zu 1:

Gemäß § 66 Abs. 2 StPO ist Opfern im Sinne des § 65 Z 1 lit. a StPO, das sind Personen, die durch eine vorsätzlich begangene Straftat Gewalt oder gefährlicher Drohung ausgesetzt oder in ihrer sexuellen Integrität beeinträchtigt worden sein könnten oder gemäß § 65 Z 1 lit. b StPO, das sind der Ehegatte, der eingetragene Partner, der Lebensgefährte, die Verwandten in gerader Linie, der Bruder oder die Schwester der Person, deren Tod durch eine Straftat herbeigeführt worden sein könnte, oder anderen Angehörigen, die Zeugen der Tat waren, auf ihr Verlangen psychosoziale und juristische Prozessbegleitung zu gewähren, soweit dies zur Wahrung der prozessualen Rechte der Opfer unter größtmöglicher Bedachtnahme auf ihre persönliche Betroffenheit erforderlich ist.

Einerseits wird der berechtigte Personenkreis (§ 65 Z 1 lit. a oder b StPO) klar umschrieben, andererseits wird durch die Wortfolge „auf ihr Verlangen“ zum Ausdruck gebracht, dass es zur Gewährung der Prozessbegleitung immer eines darauf gerichteten und ausdrücklichen Ersuchens des Opfers bedarf. Die Entscheidung, inwieweit Prozessbegleitung zur Wahrung der prozessualen Rechte der Opfer unter größtmöglicher Bedachtnahme auf ihre persönliche Betroffenheit erforderlich ist, kann jedoch immer nur eine Einzelfallentscheidung sein. Das Bundesministerium für Justiz kann bewährte geeignete Einrichtungen vertraglich beauftragen, Opfern nach Prüfung des Vorliegens der oben beschriebenen gesetzlichen Voraussetzungen Prozessbegleitung zu gewähren.

Zu 2 bis 5:

Juristische Prozessbegleitung umfasst gemäß § 66 Abs. 2 StPO die rechtliche Beratung und Vertretung des Opfers durch einen Rechtsanwalt. Im Ermittlungs- und Hauptverfahren steht dabei die juristische und zweckdienliche Durchsetzung der Opferrechte (§ 66 Abs. 1 StPO) im Vordergrund. Auch die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche kann – sofern nicht ein Fall der Verfahrenshilfe des Privatbeteiligten im Sinne des § 67 Abs. 7 StPO vorliegt – von der juristischen Prozessbegleitung betrieben werden. Die Tätigkeit ist grundsätzlich nur einer Rechtsanwältin/einem Rechtsanwalt im Sinne der Bestimmungen der Rechtsanwaltsordnung vorbehalten (s. auch Kier, WK-StPO, § 66, Rz 15 ff).

Wie bereits ausgeführt, ist die Gewährung von Prozessbegleitung davon abhängig zu machen, dass sie wegen der persönlichen Betroffenheit erforderlich ist und das Opfer seine prozessualen Rechte auch tatsächlich wahrnehmen kann. Juristische Prozessbegleitung wird daher in Fällen, in denen es sich beim Opfer selbst um eine juristisch ausgebildete Person handelt oder bei bereits anwaltlich vertretenen Opfern nicht zwingend erforderlich sein, wobei dennoch ein Anspruch auf psychosoziale Prozessbegleitung zuerkannt werden kann. Eine abschließende Beurteilung kann jedoch letztendlich nur im Einzelfall vorgenommen werden.

Zu 6 und 7:

Psychosoziale und juristische Prozessbegleitung ist dem Opfer bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen unabhängig von seinen Vermögensverhältnissen zu gewähren. Eine zeitliche Beschränkung für ein derartiges Ansuchen ist in § 66 Abs. 2 StPO nicht vorgesehen, sodass es grundsätzlich bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens gestellt werden kann.

Subsidiär zu einem allfälligen Anspruch auf juristische Prozessbegleitung steht Privatbeteiligten die Möglichkeit zu, gemäß § 67 Abs. 7 StPO Verfahrenshilfe zu beantragen. Sie ist vom Gericht zu gewähren, wenn die Vertretung eines Privatbeteiligten durch einen Rechtsanwalt im Interesse der Rechtspflege, vor allem im Interesse einer zweckentsprechenden Durchsetzung seiner Ansprüche zur Vermeidung eines nachfolgenden Zivilverfahrens erforderlich ist und der Privatbeteiligte außerstande ist, die Kosten seiner anwaltlichen Vertretung ohne Beeinträchtigung des für sich und seine Familie zur einfachen Lebensführung notwendigen Unterhalts zu bestreiten.

Zu 8:

Ja.

Zu 9:

Die Gewährung von Prozessbegleitung kann (unter der Nummer 0810 112 112) im Wege des Opfernotrufes, der das Opfer an eine örtlich und sachlich geeignete Einrichtung verweisen kann, oder direkt bei einer vom Bundesministerium für Justiz mit der Durchführung der psychosozialen und juristischen Prozessbegleitung betrauten Opferhilfeeinrichtung beantragt werden.

Zu 10:

Die Entscheidung über die Gewährung von Prozessbegleitung liegt bei der jeweiligen Opferschutzeinrichtung. Eine gerichtliche Entscheidung bei Verweigerung der Prozessbegleitung ist gesetzlich nicht vorgesehen. Als Kontrollinstanz überprüft das Bundesministerium für Justiz die Einhaltung der vertraglichen Verpflichtungen durch die Opferschutzeinrichtungen.

Zu 11 bis 13 und 35:

Mangels formeller Entscheidung kann die Verweigerung der Prozessbegleitung nicht durch ein Rechtsmittel bekämpft werden. Es könnte jedoch beim Bundesministerium für Justiz die Überprüfung der Einhaltung der vertraglichen Verpflichtungen durch die Opferhilfeeinrichtung angeregt werden.

Zu 14 und 15:

Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte sind verpflichtet, über den Anspruch auf psychosoziale und juristische Prozessbegleitung zu informieren und das Opfer auf eine oder mehrere örtlich in Betracht kommende Opferschutzeinrichtungen hinzuweisen. 

Vom äußerlichen Erscheinungsbild sind die vom Bundesministerium für Justiz beauftragten Opferschutzeinrichtungen nicht von anderen privatrechtlichen Vereinen oder Organisationen zu unterscheiden.

Zu 16 bis 18:

Aufgrund der gewählten Konstruktion, wonach die vertraglich beauftragten Opferschutzeinrichtungen über die Gewährung der Prozessbegleitung zu entscheiden haben, sind dem Bundesministerium für Justiz die Zahl der tatsächlich gestellten Anträge, die Zahl der abgelehnten Anträge und die Ablehnungsgründe nicht bekannt.

Zu 19:

Grundsätzlich soll Opfern möglichst unbürokratisch Hilfe geleistet werden; diesem Ziel dient die geltende Regelung, wonach grundsätzlich die jeweilige Einrichtung nach den vertraglichen Bedingungen über die Voraussetzungen der Prozessbegleitung zu entscheiden hat.

Schon aus diesem Grund, aber auch vor dem Hintergrund der prozessualen Situation, dass die Staatsanwaltschaft in vielen Fällen erst durch die Vorlage eines kriminalpolizeilichen Abschlussberichts vom Verfahren Kenntnis erlangt, würde ich eine Änderung in der von der Frage intendierten Richtung nicht befürworten.

Zu 20:

Das Bundesministerium für Justiz schließt nur mit anerkannten in den einschlägigen Bereichen tätigen Einrichtungen Förderungsverträge ab. In den Förderungsverträgen werden die Opferschutzeinrichtungen zur Qualitätssicherung der im Rahmen der Prozessbegleitung zu erbringenden Leistungen verpflichtet, wobei sich die Qualitätsmerkmale an den von der Interministeriellen Arbeitsgruppe Prozessbegleitung ausgearbeiteten Standards für Prozessbegleitung orientieren.

Zu 21:

Im Zeitraum 1. Oktober 2009 bis 30. September 2010 hat das Bundesministerium für Justiz mit 42 Opferschutzeinrichtungen Förderungsverträge abgeschlossen.

Zu 22:

Das Bundesministerium für Justiz fördert die von den Opferschutzeinrichtungen im Rahmen der Prozessbegleitung erbrachten Leistungen. Von den Gerichten erhalten die Opferschutzeinrichtungen keine Geldleistungen.

Zu 23:

Die Förderungen basieren auf den mit den einzelnen Opferschutzeinrichtungen abgeschlossenen Förderungsverträgen.

Zu 24:

Die im Rahmen der juristischen oder psychosozialen Prozessbegleitung erbrachten Leistungen werden für jeden einzelnen Fall auf Basis der geleisteten Stunden abgerechnet.

Zu 25:

Die vom Bundesministerium für Justiz beauftragten Opferschutzorganisationen haben folgende Leistungen erhalten:

§  2009: 4.460.515,99 Euro

Zu 26 und 27:

Für die Förderungsperiode 1. Oktober 2007 bis 30. September 2008 erhielt die Interventionsstelle Wien mit 530.208,86 Euro die höchste Förderung, für die Förderungsperiode 1. Oktober 2008 bis 30. September 2009 erhielt ebenfalls die Interventionsstelle Wien mit 584.508,88 Euro die höchste Förderung.

Zu 28 und 29:

Auf Grund der vertraglichen Beauftragung durch das Bundesministerium für Justiz gewähren die Opferschutzorganisationen den Opfern bei Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen im Strafverfahren psychosoziale und/oder juristische Prozessbegleitung, darüber hinaus im Zivilverfahren psychosoziale Prozessbegleitung, soweit darauf ein Anspruch besteht.

Zu 30:

Psychosoziale ProzessbegleiterInnen müssen über eine psychosoziale Grundausbildung verfügen. Als Nachweis gilt der Abschluss eines einschlägigen Hochschulstudiums, der Abschluss einer Fachhochschule/Akademie für Sozialarbeit, einer Lehranstalt für Sozialpädagogik oder einer wissenschaftlich anerkannten psychotherapeutischen Ausbildung bzw. einer anderen gleichwertigen Ausbildung. Als Grundqualifikation wird eine mindestens zweijährige Praxiserfahrung mit eigenständiger Beratungstätigkeit in einer Opferhilfeeinrichtung als „Learning by doing“-Grundqualifikation anerkannt. Darüber hinaus müssen psychosoziale ProzessbegleiterInnen insbesondere Beratungskompetenz aufweisen, über Reflektions- und Entwicklungsbereitschaft verfügen und sich zur kontinuierlichen Fortbildung im juristischen und psychosozialen Bereich sowie zur laufenden Supervision verpflichten.

Bei den juristischen ProzessbegleiterInnen handelt es sich um Rechtsanwälte/Rechtsanwältinnen, die eine in Zusammenarbeit mit den Prozessbegleitungseinrichtungen von den Rechtsanwaltskammern angebotene und organisierte Schulung absolviert haben. Auch sie sind zur kontinuierlichen Weiterbildung verpflichtet.

Zur Sicherung der Qualitätskriterien werden die Opferschutzeinrichtungen in den Förderungsverträgen verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die für die Durchführung von Prozessbegleitung herangezogenen Personen die vom Bundesministerium für Wirtschaft, Familie und Jugend geförderten Aus- und Fortbildungsveranstaltungen in Anspruch nehmen.

Zu 31:

Neben den in der Antwort zu Fragepunkt 30 angeführten Aus- und Fortbildungsverpflichtungen unterliegen die juristischen und psychosozialen ProzessbegleiterInnen ihren jeweiligen berufsrechtlichen Verschwiegenheits-pflichten.

Zu 32:

Ehrenamtliche MitarbeiterInnen werden in der Prozessbegleitung nicht eingesetzt. Die Prozessbegleitung wird ausschließlich von den in der Antwort zu Fragepunkt 30 angeführten besonders qualifizierten Personen ausgeübt.

Zu 33 und 34:

Das Bundesministerium für Justiz kontrolliert die von den Opferschutzeinrichtungen im Rahmen der juristischen oder psychosozialen Prozessbegleitung erbrachten Leistungen im Wege einer Einzelfallabrechnung auf Basis der geleisteten Stunden. In diesem Zusammenhang wird etwa auch die Übereinstimmung der Dokumentation der Opferschutzeinrichtung mit den Gerichtsregistern überprüft. Als Maßnahmen der Qualitätssicherung sind die von der IMAG Prozessbegleitung ausgearbeiteten Standards und die Einrichtung eines Kompetenzzentrums Opferhilfe anzuführen. Darüber hinaus werden von den mit Strafsachen befassten Landesgerichten regelmäßig „runde Tische“ zur Vernetzung der beteiligten Berufsgruppen organisiert.

Zu 36:

Nein.

Zu 37:

Die juristische Prozessbegleitung wird ausschließlich von RechtsanwältInnen, die eine entsprechende Ausbildung absolviert und sich zur regelmäßigen Fortbildung verpflichtet haben, ausgeübt. Die dadurch erreichte hohe Qualität der juristischen Prozessbegleitung könnte bei freier Wahl eines beliebigen Rechtsanwalts nicht aufrechterhalten werden.

 

 

. Dezember 2010

 

(Mag. Claudia Bandion-Ortner)