9325/AB XXIV. GP
Eingelangt am 07.12.2011
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BM für Gesundheit
Anfragebeantwortung

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Frau Präsidentin des Nationalrates Mag.a Barbara Prammer Parlament 1017 Wien |
Alois Stöger Bundesminister
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GZ: BMG-11001/0293-I/A/15/2011
Wien, am 5. Dezember 2011
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Ich beantworte die an mich gerichtete schriftliche parlamentarische
Anfrage Nr. 9464/J des Abgeordneten Dr. Karlsböck, Gartelgruber und weiterer Abgeordneter nach den mir vorliegenden Informationen wie folgt:
Einleitend darf ich zu der in der Anfrage angesprochenen Problematik Folgendes festhalten:
Im österreichischen Frauengesundheitsbericht 2010/2011 wurde von meinem Ressort das Thema Migrantinnen und psychische Gesundheit in einem eigenen Kapitel dargestellt. Migration ist ein wichtiger Faktor in der Genese psychischer und körperlicher Krankheiten, da ein Teil der Migrationsbevölkerung großen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt ist, wie z.B. kritische „life events“ (Identitätskrisen, Entwurzelungs- und Verlustgefühle), sozioökonomische Probleme,
prekäre Arbeits- und Wohnsituation, sprachliche Schwierigkeiten, belastende Spannungssituationen zwischen Rückkehr- und Verbleibentscheidung oder auch durch ethnische und kulturelle Diversifizierung verstärkte Generationenkonflikte. Frauen mit Migrationshintergrund haben zudem häufiger Schwierigkeiten, die richtigen Zugänge zu Gesundheitsförderung und ‑versorgung zu finden. Migrantinnen beurteilen ihre Lebensqualität und auch ihr psychisches Wohlbefinden generell schlechter als Personen ohne Migrationshintergrund.
In der vorliegenden Anfrage wird von deutschen Umständen auf Österreich geschlossen. Für Österreich liegen zwar derzeit keine Studien zu diesem Thema vor,
die Todesursachenstatistik der Statistik Austria erlaubt jedoch eine Analyse von Suiziden nach Alter und Staatsbürgerschaft:
In Österreich verstarben im Jahr 2010 zuletzt insgesamt 1.261 Menschen durch Suizid. Davon entfielen insgesamt 293 Suizide auf Frauen, davon wiederum wurden 15 Suizide in der Altersgruppe 0 - 24 Jahre registriert, worunter sich keine Mädchen/Frauen mit türkischer Staatsbürgerschaft fanden. Zieht man zur besseren Einschätzung die letzten 10 Jahre (2001 - 2010) heran, so zeigt sich, dass in der letzten Dekade 3.364 Suizide von Frauen registriert wurden, davon 189 Suizide in der Altersgruppe 0 - 24 Jahre; unter diesen waren 2 Suizide von türkischen Staatsbürgerinnen verzeichnet. Obschon selbstverständlich jeder einzelne Fall für sich tragisch ist, sind diese Zahlen nicht geeignet, um entsprechend verlässliche statistische Risikoberechnungen anzustellen.
Eine grobe Annährung kann durch Aggregation der Daten der letzten 37 Jahre
(1974 - 2010) erreicht werden. In diesem Zeitraum wurden insgesamt 12 Suizide von türkischen Mädchen/Frauen der Altersgruppe 0 - 24 Jahre registriert. Die entsprechende Zahl der österreichischen Mädchensuizide im selben Zeitraum war 1.262. Insgesamt ist somit festzuhalten, dass türkische Mädchen bzw. Frauen geringere Suizidraten haben als die restliche weibliche Bevölkerung gleichen Alters in Österreich (ich verweise dazu auf die als Beilage angeschlossene Tabelle 1).
Zu den Fragen im Einzelnen:
Fragen 1 und 2:
Es besteht kein derartiger Informationsaustausch, im Übrigen darf ich auf meine einleitenden Bemerkungen verweisen.
Frage 3:
Meinem Ressort liegen keine entsprechenden Studien vor, auch der Berufsverband Österreichischer Psychologinnen und Psychologen (BÖP) sowie die Österreichische Ärztekammer (ÖÄK), die zu dieser Thematik befasst wurden, geben in ihren Stellungnahmen an, dass es bis dato keine wissenschaftlichen Studien gibt, die explizit die Suizidrate von türkischsprachigen Migrant/inn/en analysiert haben.
Vom BÖP wurde jedoch auf eine geplante Studie mit dem Titel „Eine retrospektive Datenanalyse von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in der Akutpsychiatrie - transkulturelle Risikofaktoren und Resilienzfaktoren bei suizidalem und selbstverletzendem Verhalten“ der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie auf der Medizinischen Universität Wien (Ambulanz für transkulturelle Psychiatrie und migrationsbedingte Störungen im
Kindes- und Jugendalter) unter der Leitung von Dr. Türkan Akkaya-Kalayci verwiesen. Die Studie, die auch Gegenstand einer Dissertation werden soll, befasst sich mit den transkulturellen Risiko- und Resilienzfaktoren bei suizidalem und selbstverletzendem Verhalten.
Frage 4:
Allgemein kann hier festgehalten werden, dass psychosoziale Belastungen insbesondere für Migrantinnen zweiter Generation höher als für andere Gruppen sind. Die kulturelle Entwurzelung, das Spannungsfeld zwischen traditionellen Normen und westlicher Lebensweise, der an sie gestellte Anspruch der „Wahrung der Familienehre“ und die wahrgenommene soziale Kontrolle versus dem Wunsch nach Selbstbestimmung führen zu einer erhöhten Vulnerabilität. So wurde durch das Institut für Gesundheitsplanung (IGP) bereits 2005 festgehalten[1]:
Das Risiko für psychische und Verhaltensstörungen ist vor allem für Migrant/inn/en aus der Türkei wesentlich höher als für die inländische Bevölkerung (etwa doppelt so hoch). Aber auch bei Staatsbürger/inne/n der Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien ist die Wahrscheinlichkeit geringfügig höher als für Inländer/innen. Während unter den Inländer/inne/n auf 100.000 Erwerbstätige ca. 1.500 mit Krankenstandsmeldungen aufgrund von psychischen Störungen kommen, sind es bei Migrant/inn/en aus (Ex-)Jugoslawien ca. 2.000 und bei türkischen Migrant/inn/en ca. 3.000 pro 100.000 Erwerbstätige.
Wie die Erfahrungen in der Ambulanz für transkulturelle Psychiatrie und migrationsbedingte Störungen im Kindes- und Jugendalter an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Wien zeigen, können psychosoziale Faktoren, Identitätsprobleme, Lebensbedingungen im Aufnahmeland, Probleme bei der Akkulturation, stressige Lebensereignisse und ein als kontrolliert erlebtes Leben zu suizidalen Krisen bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund führen.
Fragen 5 bis 7:
Derzeit gibt es keine konkreten Arbeitsgruppen zu dieser Thematik. Ich darf jedoch darauf hinweisen, dass im Österreichischen Suizidpräventionsprogramm, dessen Ausarbeitung von mir in Auftrag gegeben wurde und das sich derzeit in Umsetzung befindet, Migrantinnen und Migranten als eine eigene Risikogruppe Berücksichtigung finden werden.
Die Forschungsgruppe um Univ.-Prof. Dr. Gernot Sonneck hat sich mit Suizidalität von Migrantinnen und Migranten beschäftigt und ihre Ergebnisse unter dem Titel „Consistency of immigrant suicide rates in Austria with country-of-birth suicide rates: a role für genetic risk factors for suicide?“ (Voracek M, Loibl LM, Dervic K, Kapusta ND, Niederkrotenthaler T, Sonneck G. Psychiatry Res. 2009 Dec 30;170(2-3): 286-9.) veröffentlicht. Daraus geht u.a. hervor, dass die Suizidraten von Migrant/inn/en meist jenen der Bevölkerung ihrer Ursprungsländer entsprechen.
Im Hinblick auf spezielle Forschung zu psychischen Faktoren bei jugendlichen Migrantinnen ist auch die Ambulanz für transkulturelle Psychiatrie und migrationsbedingte Störungen im Kindes- und Jugendalter, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Wien anzuführen.
Frage 8:
Zu berücksichtigen ist, dass Aufklärungskampagnen, die speziell auf Suizidalität bei Jugendlichen abzielen, mitunter fragwürdig sind, da ein besonders sensibler Umgang mit der Thematik erforderlich ist, um keine Nachahmungseffekte nach sich zu ziehen. Hier ist einer allgemeinen Information zur psychischen Gesundheit mit Nennung von Anlaufstellen der Vorzug zu geben.
Frage 9:
Es bestehen österreichweite Krisennotrufnummern, die kostenlos rund um die Uhr erreichbar sind, wie z.B. die Telefonseelsorge und Rat auf Draht (für Kinder und Jugendliche).
Frage 10:
Internetseiten wie www.hilfe-in-der-krise.at des Instituts für Suizidprävention und Forschung sowie www.suizidpraevention.at der Österreichischen Gesellschaft für Suizidprävention informieren Betroffene sowie Angehörige zum Thema Suizid und über Behandlungsangebote in ganz Österreich.
Ergänzend ist auch auf die Website der „Frauenratgeberin“ hinzuweisen (www.frauenratgeberin.at), auf der unter der Rubrik „Adressen“ sämtliche Beratungsstellen speziell für Migrantinnen österreichweit aufgelistet sind.
Frage 11:
Hier ist die bereits erwähnte Ambulanz für transkulturelle Psychiatrie und migrationsbedingte Störungen im Kindes- und Jugendalter an der Universitätsklinik für Kinder-und Jugendpsychiatrie auf der Medizinischen Universität Wien (http://www.meduniwien.ac.at/pkj/docs/transkulturellepsychiatrie.pdf) zu nennen. Die Leiterin, Frau Dr. Türkan Akkaya-Kalayci, ist eine türkisch- und kurdischsprachige Fachärztin für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Systemische Familientherapeutin, die sowohl an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Wien als auch im niedergelassenen Bereich türkischsprachige Patientinnen und Patienten behandelt.
Für den niedergelassenen Bereich ist festzuhalten, dass das Sozialversicherungsrecht im Allgemeinen keinen Unterschied zwischen Personen mit Migrationshintergrund und anderen Versicherten macht. Alle erhalten, sofern sie gegenüber einem Sozialversicherungsträger anspruchsberechtigt sind (Eintritt eines Versicherungsfalles, Erfüllung der erforderlichen Anspruchsvoraussetzungen), die gleichen Leistungen. Kriterien wie ethnische Herkunft oder kultureller Hintergrund sind hinsichtlich der Erbringung von Leistungen aus der Sozialversicherung nicht von Relevanz.
Dennoch hat etwa die WGKK einen speziellen Psychotherapievertrag mit dem Centrum für Binationale und Interkulturelle Paare und Familien (CBIF), Märzstraße 43/2/11, 1150 Wien, abgeschlossen. Zudem existieren im Rahmen der Psychotherapievereine Listen von Therapeut/inn/en, die Psychotherapie auch in türkischer Muttersprache durchführen können.
Die TGKK hat im Rahmen der psychotherapeutischen Versorgung nach dem Tiroler Modell eine eigene Therapiemöglichkeit für Personen mit Migrationshintergrund geschaffen; es können daher Personen mit Migrationshintergrund Psychotherapie auf Kosten der TGKK in Anspruch nehmen.
Weiters gibt es nach den meinem Ressort vorliegenden Informationen im Psychosozialen Zentrum Graz-Ost ein muttersprachliches, allgemeintherapeutisches Angebot für Bosnisch, Serbisch und Kroatisch. In anderen Einrichtungen erfolgen psychotherapeutische Maßnahmen im Rahmen des Teams unter Beiziehung von Dolmetscher/inne/n auch für türkisch-stämmige Patientinnen und Patienten. Bei ernsthafter und erheblicher Suizidgefahr erfolgt eine fachärztliche Abklärung bzw. die Einweisung in eine psychiatrische Klinik.
Als wichtige Anlaufstelle für Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund kann weiters das FEM Süd in Wien genannt werden, welches als Frauengesundheitszentrum Unterstützung und Beratung zur körperlichen und seelischen Gesundheit anbietet. Die interkulturelle Fragestellung steht dabei im Mittelpunkt und die Angebote werden in vielen Sprachen, so auch in türkischer Sprache, zur Verfügung gestellt. Schwerpunktthemen sind unter anderem Stressbewältigung und Lebenskrisen.
Frage 12:
Aufgrund der Ärzteausbildungsordnung sind Psychiater/innen speziell ausgebildet, um suizidgefährdete Personen zu unterstützen. Meist wird diese Ausbildung im Rahmen der Psychotherapie oder psychotherapeutischen Medizin gelehrt. Die ÖÄK verweist auf Fortbildungsangebote im Rahmen des Diplom-Fortbildungs-Programmes für Ärztinnen und Ärzte zu Themen wie:
· „Suizidprävention in der ärztlichen Praxis“
· „Andere Länder - andere Leiden. Somatische und psychiatrische Störungen im interkulturellen Blickfang“
· „Wie viel Deutsch braucht man, um gesund zu sein? Migration, Übersetzung und Gesundheit“
· „Suizidalität - Prävention und Intervention“
· „Schulärztliche Hilfestellung für gefährdete Jugendliche - Schulärztinnen/‑ärztefortbildung“
Auch der Wiener Krankenanstaltenverbund bietet regelmäßig Fortbildungen und Sonderausbildungen zum Thema Interkulturelle Kompetenz für medizinische, therapeutische und diagnostische Gesundheitsberufe an. Darüber hinaus gibt es Universitätslehrgänge in Salzburg, Wien sowie an der Donau-Universität Krems im Bereich Migration und Interkulturalität.
Frage 13:
Ich darf hier wieder auf das in Umsetzung befindliche Österreichische Suizidpräventionsprogramm verweisen, in dem diese Aspekte Berücksichtigung finden, wobei die darin vorgesehenen Maßnahmen die gesamte Gruppe der Migrantinnen und Migranten umfassen werden.
Frage 14:
Für die Ausarbeitung des vor kurzem (November 2011) fertiggestellten Österreichischen Suizidpräventionsprogrammes wurden € 27.888,-- aufgewendet.
Darüber hinaus sind in diesem Zusammenhang auch die Fördermittel, die seitens des Bundesministeriums für Gesundheit an die österreichischen Frauengesundheitszentren vergeben werden, zu nennen; diese beliefen sich im Jahr 2010 auf € 103.500,--.
Beilage
BEILAGE zu parl. Anfrage Nr. 9464/J
Tabelle 1. Suizide von Jugendlichen der Altersgruppe 10 bis 24 Jahre aus dem Zeitraum 1974-2010
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10 bis 24 Jahre |
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Staatsbürger- schaft |
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Absolute Anzahl von Suiziden |
Bevölkerung 2001 |
Suizidrate pro 100.000
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Türkei |
Frauen |
12 |
17.963 |
2.0 |
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Männer |
32 |
16.084 |
4.8 |
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Österreich + andere |
Frauen |
1262 |
659.215 |
5.4 |
|
Männer |
5264 |
631.248 |
21.6 |
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Die in der Tabelle angegebenen Raten sind aufgrund der kleinen Fallzahlen mit Vorbehalt zu interpretieren. Zur Schätzung der Suizidraten wurde die Bezugsbevölkerung aus dem Jahr 2001 herangezogen. Weitere Analysen nach 5-Jahres-Altersgruppen verbieten sich aufgrund der geringen Fallzahlen. Die Gruppe der 0 - 9-Jährigen türkischen Migrant/inn/en verzeichnete keine Suizide, daher wurden Mortalitätsraten für 10-24 Jährige dargestellt.