9887/AB XXIV. GP

Eingelangt am 30.01.2012
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BM für Justiz

Anfragebeantwortung

 

BMJ-Pr7000/0339-Pr 1/2011


Republik Österreich
die bundesministerin für justiz

 

 

Museumstraße 7

1070 Wien

 

Tel.: +43 1 52152 0

E-Mail: team.pr@bmj.gv.at

 

 

Frau
Präsidentin des Nationalrates

 

 

Zur Zahl 10006/J-NR/2011

Die Abgeordneten zum Nationalrat Mag. Helene Jarmer, Freundinnen und Freunde haben an mich eine schriftliche Anfrage betreffend „blinde RichterInnen in Österreich“ gerichtet.

Ich beantworte diese Anfrage wie folgt:

Zu 1 bis 8:

Die Justiz ist nachdrücklich bemüht, auch behinderte Menschen in den Betrieb der Gerichte und Staatsanwaltschaften sowie der übrigen Justizeinrichtungen zu integrieren und so die Zielvorgaben des Behinderten-Einstellungsgesetzes möglichst lückenlos zu erfüllen.

Per Dezember 2011 waren insgesamt 21 Richterinnen und Richter mit Behinderungsgraden zwischen 20 % und 100 % (die meisten zwischen 50 % und 60 %) im PM-SAP-Personalverwaltungs­system der Justiz erfasst. Vier weisen einen Behinderungsgrad von 100 % auf (darunter drei Rollstuhlfahrer), keiner ist blind.

1998 wurde im Bundeskanzleramt eine Arbeitsgruppe zur Durchforstung der österreichischen Bundes­rechtsordnung hinsichtlich benachteiligender Bestimmungen eingerichtet, in der auch das Bundesministerium für Justiz vertreten war.


2003 wurden in das Regierungsprogramm die Erarbeitung eines Bundes-Behindertengleich­stellungsgesetzes und die Vorlage eines Bündelgesetzes auf der Grundlage der Ergebnisse der oben bereits angeführten Arbeitsgruppe sowie die Durchforstung der Berufsausbildungs-, Ausübungs- und Zugangsgesetze auf Diskriminierung behinderter Menschen aufgenommen.

Um den von Behindertenvertretern als diskriminierend empfundenen Wortlaut von § 2 RDG („geistige und körperliche Eignung“) anzupassen, wurde schließlich im Ende 2005 vom BMSG und vom BKA zur Begutachtung versandten Entwurf eines Bundesbehindertengleichstellungs-Begleitgesetzes dieser Wortlaut von § 2 Abs. 1 Z 3 RDG insofern geändert, als (ähnlich der Formulierung in § 4 Abs. 1 Z 3 BDG 1979) auf die persönliche und fachliche Eignung für die mit der Ausübung des richterlichen Amtes verbundenen Aufgaben“ abgestellt wurde.

Diese Änderung des § 2 Abs. 1 Z 3 RDG trat am 24. Juni 2006 in Kraft (BGBl. I Nr. 90/2006):

In die Erläuterungen wurde ein Hinweis auf den 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 aufgenommen, der lautet: „Unbeschadet der Verpflichtung, für Menschen mit Behinderung angemessene Vorkehrungen zu treffen, wird durch die vorgesehenen Änderungen nicht die Einstellung oder Ernennung einer Person vorgeschrieben, wenn diese Person – nach einem auch durch das verfassungs­rechtliche Diskriminierungsverbot gebotenen strengen Maßstab – für die Erfüllung der wesentlichen Funktionen des Arbeitsplatzes oder zur Absolvierung einer bestimmten Aus­bildung nicht kompetent, fähig oder verfügbar ist.“

Eine Anpassung erfolgte schließlich mit BGBl. I Nr. 147/2008 (Ergänzung der „sozialen Fähig­keiten“). Seit 1. Jänner 2009 lautet die Bestimmung somit:

§ 2. (1) Erfordernisse für die Aufnahme in den richterlichen Vorbereitungsdienst sind:

[…]

2.   die volle Handlungsfähigkeit;

3.   die uneingeschränkte persönliche und fachliche Eignung einschließlich der erforderlichen sozialen Fähigkeiten (§ 14 Abs. 2) für die mit der Ausübung des richterlichen Amtes verbundenen Aufgaben;

[…]

 

§ 2 Abs. 1 RStDG, der die Erfordernisse für die Aufnahme in den richterlichen Vorbereitungs­dienst regelt und damit – zumal diese Voraussetzungen bei jeder Ernennung neu zu prüfen sind – auch für Richterinnen und Richter (sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte) Anwendung findet, stellt keine isoliert dienstrechtlich zu betrachtende Eignungsanforderung dar, sondern folgt vielmehr zwingend aus den für das Richteramt geltenden verfassungsrechtlichen und prozessualen Vorschriften. Die Richterin bzw. der Richter hat strittige Sachverhalte zu entscheiden, zu deren Aufklärung es notwendig ist, sich einen persönlichen und unmittelbaren Eindruck zu verschaffen, was - neben einer gewissen Mobilität - vor allem die uneingeschränkte Fähigkeit zu unmittelbarer eigener Wahr­nehmung (und zwar auch in optischer und akustischer Hinsicht) erfordert. In der mündlichen Verhandlung etwa setzt die Pflicht zur Verfahrensführung eine entsprechende Wahrnehmungs- und akustische Artikulationsfähigkeit voraus. Dies gilt aber vor allem auch für das Prinzip der freien Beweiswürdigung, das zu den ureigensten und zugleich wichtigsten Merkmalen der richterlichen Tätigkeit zählt und eine der wesentlichen Grundlagen für die richterliche Entscheidungsfindung bildet; es setzt die Fähigkeit zu unmittelbarer Kenntnisnahme akustischer und auch visueller Eindrücke voraus (etwa persönlicher Eindruck von Zeugen und Parteien; Augenschein; Rekonstruktion des Tather­ganges; Einsichtnahme in Beilagen, Bilder, Skizzen, etc).

Ein richterliches Entscheidungsorgan, das die Geschehnisse im Verhandlungssaal nicht umfassend wahrnehmen kann, vermag seiner zentralen Aufgabe der Sitzungspolizei (§§ 233 ff StPO, §§ 197 ff ZPO) nicht nachzukommen. Versucht etwa jemand im Verhandlungssaal, einen Zeugen durch akustische oder optische Signale zu beeinflussen, bleibt dies der Richterin bzw. dem Richter verborgen, die bzw. der deshalb darauf weder ad hoc (Sitzungspolizei) noch im Rahmen der freien Beweis­würdigung reagieren kann. Eine „Auslagerung“ der fehlenden Wahrnehmungen an eine Hilfsperson ist nicht möglich, weil mit der Wahrnehmung untrennbar deren Wertung und Würdigung verbunden ist und sein muss.

Das österreichische Richterbild ist universell, "Spezialrichter" nur für bestimmte beschränkte Aufgaben sind nicht vorgesehen. Diese bereits aus dem verfassungsrechtlichen Grund­verständnis des Richterberufs heraus und sich wegen der Erfordernisse des Zivil- und Straf­prozessrechts ergebenden Gründe sprechen – neben einer Vielzahl organisatorischer Probleme – gegen Änderungen in diesem Bereich, ja schließen solche Änderungen geradezu aus. An den normierten, in Bezug auf die besonderen Anforderungen an den Richterberuf sachgerechten und notwendigen Voraussetzungen muss daher unbedingt festgehalten werden.

Die uneingeschränkte persönliche und fachliche Eignung stellt eine wesentliche und unverzichtbare Voraussetzung gerade für den Richterberuf dar, bei deren Fehlen er schon faktisch und daher auch dienstrechtlich nicht ausgeübt werden kann.

Richtig ist, dass sich in der Praxis Abgrenzungsfragen hinsichtlich des Ausmaßes einer (Seh-) Behinderung ergeben können. In solchen Fällen muss im Einzelfall geprüft werden, ob z.B. eine in ihrer Sehfähigkeit beeinträchtigte Person noch die in den verfassungsrechtlichen und prozessualen Vorschriften wiedergegebenen Anforderungen an den Richterberuf (wie z.B. Pflicht zur Verfahrensführung, Prinzip der freien Beweiswürdigung, Augenschein, Aufgabe der Sitzungspolizei etc.) zu erfüllen vermag.

Wien,        . Jänner 2012

Dr. Beatrix Karl