1881 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XXIV. GP

 

Bericht

des Verfassungsausschusses

über die Regierungsvorlage (1725 der Beilagen): Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion zwischen dem Königreich Belgien, der Republik Bulgarien, dem Königreich Dänemark, der Bundesrepublik Deutschland, der Republik Estland, Irland, der Hellenischen Republik, dem Königreich Spanien, der Französischen Republik, der Italienischen Republik, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, dem Großherzogtum Luxemburg, Ungarn, Malta, dem Königreich der Niederlande, der Republik Österreich, der Republik Polen, der Portugiesischen Republik, Rumänien, der Republik Slowenien, der Slowakischen Republik, der Republik Finnland und dem Königreich Schweden

 

Entstehungsgeschichte des Vertrages:

Die Europäische Union (im Folgenden: EU) hat seit der ersten Jahreshälfte 2010 eine Reihe von Maßnahmen gesetzt, um die wirtschaftspolitische Steuerung im Euro-Währungsgebiet zu verbessern und die Bekämpfung der Staatsschuldenkrise im Euro-Währungsgebiet voranzutreiben. In der ersten Jahreshälfte 2011 wurde das Europäische Semester erstmals umgesetzt, welches durch eine integrierte Betrachtungsweise der Wirtschafts- und Haushaltspolitik höheres Wachstum und Beschäftigung sowie mehr Stabilität in der Union und vor allem auch im Euro-Währungsgebiet generieren soll. Am 13. Dezember 2011 trat das sog. „Sixpack“ in Kraft, welches die Regelungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts stringenter macht, ein neues Verfahren zu makroökonomischen Ungleichgewichten einführt und Mindeststandards für nationale fiskalische Rahmenwerke vorsieht. Zudem ist gegenwärtig das „Twopack“ in Verhandlung mit dem Europäischen Parlament, welches die Koordinierung der nationalen Haushaltspolitiken im Euro-Währungsgebiet weiter verstärkt und die Verfahren bei Ländern mit Krisenanpassungsprogrammen regelt. Im Zuge ihrer Tagung am 9. Dezember 2011 haben sich die Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets zudem auf weiterführende Maßnahmen geeinigt und haben u.a. die Vereinbarung getroffen, einen neuen fiskalpolitischen Pakt und eine verstärkte wirtschaftspolitische Koordinierung im Euro-Währungsgebiet auf den Weg zu bringen.

Nachdem Großbritannien der ursprünglich ins Auge gefassten Änderung der Gründungsverträge der EU zur Verankerung der dargestellten Ziele nicht zustimmte, wurde am 16. Dezember 2011 der Entwurf eines völkerrechtlichen Vertrages, der Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, vorgelegt. Auf Vorschlag der Bundesregierung (sh. Pkt. 43 des Beschl.Prot. Nr. 126 vom 10. Jänner 2012) hat der Bundespräsident am 12. Jänner 2012 eine Vollmacht zu Verhandlungen des Vertrages erteilt. Der Nationalrat und der Bundesrat wurden gemäß Art. 50 Abs. 5 B-VG von der Aufnahme der Verhandlungen unterrichtet. Das Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten hat dem Nationalrat und dem Bundesrat laufend über den Fortgang der Verhandlungen berichtet. Die Verhandlungen wurden von den 17 Euro-Staaten und neun Nicht-Euro-Staaten (alle außer Großbritannien) geführt. Der Vertrag wurde am 30. Jänner 2012 von den Staats- und Regierungschefs der Vertragsparteien am Rande der informellen Tagung des Europäischen Rates angenommen. Die Tschechische Republik entschied sich letztlich, unter Berufung auf innenpolitische Gründe, nicht Vertragspartei zu werden. Der Vertrag wurde am Rande des Europäischen Rates am 2. März 2012 unterzeichnet.

Zum Inhalt des Vertrages:

Zweck und Anwendungsbereich des Vertrages – Kohärenz mit und Verhältnis zum Unionsrecht

Der Vertrag findet auf die Vertragsparteien uneingeschränkt Anwendung, deren Währung der Euro ist und die ihn ratifiziert haben. Für die Vertragsparteien, für die eine Ausnahmeregelung gilt (da sie die Kriterien für die Einführung der gemeinsamen Währung nicht erfüllen) oder die auf Grund einer ausdrücklich primärrechtlich verankerten Freistellung den Euro nicht eingeführt haben, gilt der Vertrag nur in eingeschränktem Umfang.

Die Vertragsparteien, deren Währung der Euro ist, treten informell zu Euro-Gipfeln zusammen. Vertragsparteien, die den Vertrag ratifiziert haben und deren Währung nicht der Euro ist, nehmen an den Euro-Gipfeln teil, wenn Fragen der Wettbewerbsfähigkeit, der Änderung der allgemeinen Architektur des Euroraums sowie sonstiger grundlegender Regelungen betreffend den Euroraum auf der Tagesordnung stehen. Weiters wenn es als sachgerecht erachtet wird, zumindest jedoch einmal jährlich. Die Bestimmung über die Kooperation des Europäischen Parlamentes mit den nationalen Parlamenten gilt für alle Vertragsparteien.

Die Vertragsparteien, deren Währung nicht der Euro ist, können aber weiters auch bereits vor Einführung des Euro erklären, dass sie sich an alle oder an einige Bestimmungen der Titel III („Fiskalpolitischer Pakt“) und IV („Wirtschaftspolitische Koordinierung und Konvergenz“) gebunden erachten.

Uneingeschränkt gilt der Vertrag für Nicht-Euro-Staaten, die ihn ratifiziert haben, erst ab dem Tag, ab dem der Beschluss zur Aufhebung der Ausnahmeregelung (vom Euro) bzw. der primärrechtlichen Freistellung (vom Euro) wirksam wird.

Die Auslegung und Anwendung des Vertrags hat unter Wahrung der sich aus dem Primärrecht, insbesondere dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, sowie aus dem Sekundärrecht ergebenden Verpflichtungen zu erfolgen. Der Vertrag gilt nur insoweit, als er mit Unionsrecht vereinbar ist. Er lässt die Handlungsbefugnisse der EU auf dem Gebiet der Wirtschaftsunion unberührt.

Fiskalpolitischer Pakt

Kernaufgabe des Fiskalpolitischen Pakts der Vertragsparteien ist es, die wirtschaftliche und finanzielle Stabilität im Euro-Währungsgebiet und in der Union und damit eine Voraussetzung für Wachstum und Beschäftigung sicherzustellen. Dies erfolgt über Ergänzungen und Vertiefungen des bereits bestehenden Regelwerks der Union zur Wirtschafts- und Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten. Wesentliche Elemente dieses Fiskalpolitischen Pakts sind,

das Ziel, ausgeglichene Haushalte oder Überschüsse zu erzielen, wobei diese Bestimmung als erfüllt gilt, wenn der jährliche strukturelle Saldo des Gesamtstaates dem mittelfristigen Haushaltsziel des Stabilitäts- und Wachstumspakts entspricht und eine Untergrenze von minus 0,5% des Bruttoinlandsprodukts nicht unterschreitet,

ein automatischer Korrekturmechanismus unter voller Wahrung der Rechte der nationalen Parlamente bei signifikanten Abweichungen vom mittelfristigen Haushaltsziel oder dem Pfad dorthin,

die Verpflichtung, diese haushaltspolitischen Bestimmungen in nationales Recht verbindlich und dauerhaft zu übernehmen, vorzugsweise im Verfassungsrang,

die nochmalige Betonung der Wichtigkeit der bereits in der Verordnung (EG) Nr. 1467/97 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, ABl. Nr. L 209 vom 02.08.1997 S. 6 idF der Verordnung (EU) Nr. 1177/2011 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1467/97, ABl. Nr. L 306 vom 23.11.2011 S. 33, verankerten Schuldenregel,

die Vorlage von Partnerschaftsprogrammen zur Wirtschafts- und Haushaltspolitik nach Feststellung eines übermäßigen Defizits gemäß Art. 126 Abs. 6 AEUV,

eine Vereinbarung über das Stimmverhalten bei der Feststellung eines übermäßigen Defizits (nur bei Verletzung des Defizitkriteriums) durch eine Vertragspartei, deren Währung der Euro ist (nämlich den Empfehlungen der Kommission zu folgen, sofern sich nicht eine qualifizierte Mehrheit der Vertragsparteien dagegen ausspricht),

ex-ante Berichtspflichten über nationale Emissionspläne von Staatsschuldtiteln,

die Möglichkeit der Anrufung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) im Schiedsverfahren gem. Art. 273 AEUV bei Nichteinhaltung des Art. 3 Abs. 2 seitens einer Vertragspartei. Setzt die verurteilte Vertragspartei das Urteil des EuGH auf Grund einer Bewertung der Kommission oder nach Einschätzung einer anderen Vertragspartei nicht um, können über sie, über Antrag einer Vertragspartei oder mehrerer Vertragsparteien, auch finanzielle Sanktionen durch den EuGH im maximalen Ausmaß von 0,1% des Bruttoinlandsprodukts verhängt werden.

Wirtschaftspolitische Koordinierung und Konvergenz

Der Vertrag umfasst neben fiskalpolitischen Regelungen auch Vorschriften zur Verstärkung der Koordinierung der Wirtschaftspolitiken. Er beinhaltet einen eigenen Titel zur „Wirtschaftspolitischen Koordinierung und Konvergenz“. Die Vertragsparteien verpflichten sich, gemeinsam auf eine Wirtschaftspolitik hinzuarbeiten, die durch erhöhte Konvergenz und Wettbewerbsfähigkeit das reibungslose Funktionieren der Wirtschafts- und Währungsunion sowie das Wirtschaftswachstum fördert. In Verfolgung des Ziels, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung zu fördern, zur Stabilität und langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen beizutragen und die Finanzstabilität zu stärken, leiten die Vertragsparteien in allen für das reibungslose Funktionieren des Euro-Währungsgebiets wesentlichen Bereichen die notwendigen Schritte und Maßnahmen ein. Neben diesen Verpflichtungen umfasst Titel IV auch Bestimmungen zur verstärkten Zusammenarbeit auf Grundlage des Art. 20 EUV sowie zur Vorabkoordination größerer wirtschaftspolitischer Reformen.

Steuerung des Euro-Währungsgebietes

Der Vertrag sieht vor, dass die Staats- und Regierungschefs der Vertragsparteien, deren Währung der Euro ist, und der Präsident der Kommission, bei Bedarf, mindestens jedoch zweimal im Jahr, informell zu Euro-Gipfeln zusammentreten. Der Präsident der EZB ist zu jedem Treffen einzuladen. Unter den im Vertrag genannten Bedingungen und mindestens einmal im Jahr nehmen an den Treffen auch die Staats- und Regierungschefs der Vertragsparteien teil, die nicht der Euro-Zone angehören, sofern diese den Vertrag ratifiziert haben. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit zur Einladung des Präsidenten des Europäischen Parlaments und des Präsidenten der Eurogruppe. Weiters werden die Bestimmungen für die Wahl und Amtszeit des Präsidenten des Euro-Gipfels normiert, die Modalitäten der Vorbereitung der Euro-Gipfel festgelegt und Informationspflichten gegenüber dem Europäischen Parlament und den Vertragsparteien, deren Währung nicht der Euro ist, bzw. den Mitgliedstaaten der EU, die nicht Vertragsparteien sind, vorgesehen.

Allgemeine und Schlussbestimmungen

Der Vertrag tritt nach Ratifikation durch zwölf Staaten, deren Währung der Euro ist, in Kraft. Zieldatum für das Inkrafttreten ist der 1. Jänner 2013. Jenen Mitgliedstaaten der Union, die nicht Vertragspartei geworden sind, steht der Beitritt zum Vertrag jederzeit offen. Ziel bleibt allerdings die Überführung des Inhalts des Vertrags in den Rechtsrahmen der EU.

 

Der Vertrag hat gesetzesändernden bzw. gesetzesergänzenden Charakter und bedarf daher der Genehmigung des Nationalrats gemäß Art. 50 Abs. 1 Z 1 B-VG. Er hat nicht politischen Charakter. Es ist nicht erforderlich, eine allfällige unmittelbare Anwendung des Vertrags im innerstaatlichen Rechtsbereich durch einen Beschluss gemäß Art. 50 Abs. 2 Z 3 B-VG, dass dieser Staatsvertrag durch Erlassung von Gesetzen zu erfüllen ist, auszuschließen. Da durch den Vertrag Angelegenheiten des selbständigen Wirkungsbereichs der Länder geregelt werden, bedarf er überdies der Zustimmung des Bundesrats gemäß Art. 50 Abs. 2 Z 2 B-VG.

Der Verfassungsausschuss hat die gegenständliche Regierungsvorlage erstmals in seiner Sitzung am 28. Juni 2012 in Verhandlung genommen und beschlossen, gemäß § 37 Abs. 9 des Geschäftsordnungsgesetzes des Nationalrates ein öffentliches Hearing mit Mag. Peter Brandner, BMF, Univ.-Prof. Dr. Stefan Griller, UNI Salzburg, Univ.-Prof. MMag. Dr. Gottfried Haber, UNI Klagenfurt, Professor Dr. Wilhelm Hankel, Mag. Dr. Gerhard Hesse, Bundeskanzleramt-Verfassungsdienst, Rolf Baron von Hohenhau, Präsident der Taxpayers Association of Europe, Dr. Barbara Kolm, Hayek­Institut, Prof. Dr. Bernd-Thomas Ramb, UNI GHS Siegen, Mag. Alexandra Strickner, Attac und Dr. Gertrude Tumpel-Gugerell, Konsulentin am WIFO durchzuführen. Nach der Berichterstattung durch die Abgeordnete Mag. Sonja Steßl-Mühlbacher und einleitenden Statements des Staatssekretärs im Bundesministerium für Finanzen Mag. Andreas Schieder sowie den Expertinnen und Experten ergriffen in der Debatte die Abgeordneten Heinz-Christian Strache, Dr. Josef Cap, Dr. Alexander Van der Bellen, Dr. Martin Bartenstein, Josef Bucher, Dr. Sabine Oberhauser, MAS, Dr. Martin Strutz, Dr. Reinhold Lopatka, Mag. Daniela Musiol, Angela Lueger, Mag. Rainer Widmann, Dr. Peter Fichtenbauer und Kai Jan Krainer sowie die Bundesministerin für Finanzen Mag. Dr. Maria Theresia Fekter das Wort. Danach wurden die Beratungen vertagt.

Die Wiederaufnahme der Verhandlungen erfolgte am 2. Juli 2012. In dieser Debatte ergriffen die Abgeordneten Herbert Scheibner, Dr. Peter Fichtenbauer, Dr. Alexander Van der Bellen, Dkfm. Dr. Günter Stummvoll, Dr. Josef Cap, Mag. Albert Steinhauser und Dr. Martin Bartenstein sowie die Bundesministerin für Finanzen Mag. Dr. Maria Theresia Fekter und der Staatssekretär im Bundeskanzleramt Dr. Josef Ostermayer das Wort.

Bei der Abstimmung wurde mit Stimmenmehrheit (dafür: S, V dagegen: F, G, B) beschlossen, dem Nationalrat die Genehmigung des Abschlusses dieses Staatsvertrages zu empfehlen.

Ebenso wurde mit Stimmenmehrheit (dafür: S, V dagegen: F, G, B) beschlossen, dass die bulgarische, dänische, englische, estnische, finnische, französische, griechische, irische, italienische, lettische, litauische, maltesische, niederländische, polnische, portugiesische, rumänische, schwedische, slowakische, slowenische, spanische und ungarische Sprachfassung dieses Staatsvertrages gemäß Art. 49 Abs. 2 B-VG dadurch kundzumachen sind, dass sie zur öffentlichen Einsichtnahme im Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten aufliegen.

Als Ergebnis seiner Beratungen stellt der Verfassungsausschuss somit den Antrag, der Nationalrat wolle beschließen:

1. Der Abschluss des Staatsvertrages: Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion zwischen dem Königreich Belgien, der Republik Bulgarien, dem Königreich Dänemark, der Bundesrepublik Deutschland, der Republik Estland, Irland, der Hellenischen Republik, dem Königreich Spanien, der Französischen Republik, der Italienischen Republik, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, dem Großherzogtum Luxemburg, Ungarn, Malta, dem Königreich der Niederlande, der Republik Österreich, der Republik Polen, der Portugiesischen Republik, Rumänien, der Republik Slowenien, der Slowakischen Republik, der Republik Finnland und dem Königreich Schweden (1725 der Beilagen) wird gemäß Art. 50 Abs. 1 Z 1 B-VG genehmigt.

2. Die bulgarische, dänische, englische, estnische, finnische, französische, griechische, irische, italienische, lettische, litauische, maltesische, niederländische, polnische, portugiesische, rumänische, schwedische, slowakische, slowenische, spanische und ungarische Sprachfassung dieses Staatsvertrages sind gemäß Art. 49 Abs. 2 B-VG dadurch kundzumachen, dass sie zur öffentlichen Einsichtnahme im Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten aufliegen.

Wien, 2012 07 02

                    Mag. Sonja Steßl-Mühlbacher                                                 Dr. Peter Wittmann

                                 Berichterstatterin                                                                          Obmann