10094/J XXIV. GP

Eingelangt am 07.12.2011
Dieser Text ist elektronisch textinterpretiert. Abweichungen vom Original sind möglich.

Anfrage

 

der Abgeordneten Gerhard Huber,

Kolleginnen und Kollegen

 

an Herrn Bundesminister für Wissenschaft und Forschung

o. Univ.-Prof. Dr. Karlheinz Töchterle

 

betreffend die Enteignung der Tiroler Stammliegenschaftsbesitzer und eine moderne Form der „Hexenverfolgung in Tirol“ im 21. Jahrhundert

 

Demagogen wie Fritz Dinkhauser haben in Tirol seit 2005 in Tirol systematisch ein Umfeld geschaffen, in welchem heute ein Kesseltreiben gegen 18.000 Tirolerinnen und Tiroler veranstaltet wird, die Anteile an Agrargemeinschaften besitzen. Jahrelang wurde in Tirol die seit dem Jahr 1909 betriebene Reorganisation der historischen Bauernwälder in den Agrargemeinschaften als „Landraub“ und „Diebstahl“ zu Lasten des Staates (der politischen Ortsgemeinden) dargestellt. Seitens der Wissenschaft blieben diese Behauptungen unwidersprochen.

 

Insbesondere die Tiroler Printmedien haben bei einer systematischen Falschinformation der Tiroler Bevölkerung durch die politische Bewegung um Fritz Dinkhauser bestimmend mitgewirkt. In völliger Unkenntnis der reichsgesetzlichen Maßnahmen betreffend die Teilung und Regulierung der Gemeinschaftsliegenschaften aus dem Jahr 1883 (TRRG 1883 RGBl 1883/94) und in völliger Unkenntnis der landesgesetzlichen Maßnahmen seit dem Jahr 1909 und der 100jährigen Geschichte des modernen Teilungs- und Regulierungsrechts für Gemeinschaftsliegenschaften in Tirol, wurde die Aufteilung der Gemeinschaftsliegenschaften in gewissen Landesteilen (insbesondere Tiroler Unterland) und die Bildung von Agrargemeinschaften in anderen Landesteilen (insbesondere Tiroler Oberland) als Ergebnis mafiöser Bemühungen des Altlandeshauptmannes Eduard Wallnöfer dargestellt.

 

Gerade in Tiroler Akademikerkreisen und bei der Tiroler Beamtenschaft hat sich geradezu ein Aberglaube festgesetzt, dass „Wallnöfer und die Bauernbande“ die heutigen Gemeinden bestohlen hätten. Ungeniert kann die Liste Fritz Dinkhauser im gesamten Tiroler Oberland Postwurfsendungen an jeden Haushalt verbreiten, auf denen in Balkenlettern die Botschaft verbreitet wird „Stoppen wir den Diebstahl am Volk!“ Im November 2011 fand diese Hetze einen traurigen Höhepunkt: Herr Landtagsabgeordneter Fritz Dinkhauser konnte über die Tiroler Tageszeitung (verantwortlicher Redakteur Peter Nindler) die Botschaft verbreiten, dass er die Generalmobilmachung der Tiroler Bevölkerung gegen den „Agrarraub“ betreibe.

 

Scheinbare Rechtfertigung findet dieses „Kesseltreiben“ gegen geschätzt 18.000 Tirolerinnen und Tiroler durch die historische Grundbuchanlegung in Tirol. Die Grundbuchanlegung arbeitete streng nach dem „Urkundenprinzip“. Historische Gemeinschaftsliegenschaften wurden deshalb Anfang des 20. Jahrhunderts unter jener Eigentümerbezeichnung erfasst, unter der diese seit Jahrzehnten und Jahrhunderten in den öffentlichen Registern bekannt waren und geführt wurden, nämlich unter dem Begriff „Gemeinde“ als Bezeichnung für eine beliebige Personenmehrheit, insbesondere auch dann, wenn diese historische Gemeinde nach Privatrecht konstituiert war.

So wurde die Gemeinschaftsliegenschaft der Grundbesitzer von Kematen auf der Kemater Alm (seit dem Jahr 1352 nachweislich Gemeinschaftsbesitz der Kemater „Grundbesitzer und Viehzüchter“), unter jener Eigentümerbezeichnung im Grundbuch erfasst, die in der Verleihungsurkunde vom „Erchtag in der Pfingstwoche des Jahres 1352“ ausgewiesen ist: nämlich „Gemeinde Kematen“. Vergleichbare Beispiele finden sich zu Hunderten in den Tiroler Grundbüchern.

 

Bedauerlicher Weise besteht selbst bei den Mitgliedern der Tiroler Landesregierung der Aberglauben, dass aufgrund einer Verleihungsurkunde aus dem Jahr 1352 die heutige Ortsgemeinde Kematen Eigentum erworben hätte; teilweise scheint man auch an geheimnisvolle Umstände zu glauben, aufgrund derer im Jahr 1847 (Maßnahmen der Tiroler Forstregulierung 1847) das ehemalige Landesfürstliche Obereigentum zu den heutigen politischen Ortsgemeinden gewandert wäre. Schon kraft Rechtsüberleitung durch das vorläufige Gemeindegesetzes (VGemG) vom 10. Juli 1945, Staatsgesetzblatt 1945/66, ist ausgeschlossen, dass die heutigen Ortsgemeinden irgendetwas mit den „Bauerngemeinden“ der Tiroler Forstregulierung 1847 zu tun hätten. Dies will in der heutigen Tiroler Landesregierung jedoch niemand nachvollziehen.

 

Scheinbare Rechtfertigung findet dieses „Kesseltreiben“ gegen geschätzt 18.000 Tirolerinnen und Tiroler durch eine Judikatur des Verfassungsgerichtshofes seit VfSlg 18.446/2008, weil jedermann sorgfältig ausblendet, das dieses Erkenntnis auf einem falschen Sachverhalt beruht, der dem Gerichtshof unbestritten und unwidersprochen vorgelegt werden konnte. Im Bescheid vom 9.11.2006 gegen Agrargemeinschaft Mieders wurden zwei entscheidende Feststellungen getroffen, welche das Ergebnis des VfGH-Erkenntnisses VfSlg 18.446/2008 präjudiziert haben:

a) die politische Ortsgemeinde Mieders sei Eigentümerin des Miederer Bauernwaldes gewesen;

b) die historische Agrarbehörde hätte im Regulierungsverfahren der Agrargemeinschaft Mieders nur „nacktes Recht“[1], der Ortsgemeinde jedoch „Substanz“ an diesen Bauernwäldern zuerkannt.

 

Die Tatsache, dass der Verfassungsgerichtshof mit seinem Erkenntnis vom 10.12.2010 B 639/10 in der Angelegenheit „Tiroler Wälder“ die „Notbremse ziehen“ wollte und dem Verwaltungsgerichtshof „das Angebot“ unterbreitet hat, die gesamte Angelegenheit im Sinn der Tiroler Grundbesitzer wieder zu bereinigen, wurde nicht mehr zur Kenntnis genommen. Um die bereits anlaufenden, entschädigungslosen Enteignungen zu stoppen, hat der Verfassungsgerichtshof in diesem Erkenntnis zweierlei klargestellt:

a) die historischen Grundbücher  können unrichtig gewesen sein[2];

b) unter dem Begriff „Gemeindegut“ wurde im historischen Recht Eigentum einer Agrargemeinschaft verstanden[3].

 

Faktum ist jedoch, dass der Verwaltungsgerichtshof nicht den „Schwarzer Peter“ annehmen wollte! Der Verwaltungsgerichtshof hat vielmehr in 14 Erkenntnissen vom 30.6.2011 (Leit-Erkenntnis Zl 2010/07/0091) sich dadurch aus der Affäre gezogen, dass der Hinweis im Verfassungsrichtshof-Erkenntnis B 639/10, wonach „Gemeindegut“ im historischen Recht immer Eigentum der Agrargemeinschaft war, kräftig ignoriert wurde. Man hat sogar das Gegenteil zum „Dogma“ erhoben: Anstatt historisches Eigentum der heutigen Ortsgemeinden zu untersuchen – so würde das Tiroler Landesgesetz es vorschreiben – hat der Verwaltungsgerichthof die Maxime ausgegeben, dass historisches „Gemeindegut“ zu suchen sei. Dieses historische Gemeindegut findet sich nun verständlicher Weise überall, weil seit dem Jahr 1883 (!) im Flurverfassungsrecht Eigentum einer Agrargemeinschaft  als „Gemeindegut“ bezeichnet wurde.

 

Mittlerweile ist in Tirol das Chaos ausgebrochen. Die Ortsgemeinden fordern die Erträgnisse aus „ihrem Gemeindegut“. Die Stammliegenschaftsbesitzer wehren sich gegen derartige Rabulistik; sie organisieren sich landesweit und treten zu Hunderten in neue Verfahren gegen die Ortsgemeinden ein (ca 300 Stammliegenschaftsbesitzer der Gemeinde Längenfeld sind noch im Sommer 2011 mit Sammelverfahren gegen die Ortsgemeinde Längenfeld vorgegangen). Gleichzeitig werden diese Stammliegenschaftsbesitzer via Presseaussendung des Landeshauptmannstellvertreters offiziell als „outlaws“ tituliert. Fritz Dinkhauser konnte seinen bereits zitierten Aufruf zur „Generalmobilmachung“ verbreiten.

 

Sogar Abgeordnete dieses Hohen Hauses, welche auf die Verwechslung  der alten Bauerngemeinde mit der heutigen politischen Ortsgemeinde hinweisen und Partei für die 18.000 willkürlich kriminalisierten Tirolerinnen und Tiroler ergreifen, sind dem Vorwurf ausgesetzt, die Partei der „Rechtsbrecher“ zu ergreifen.

 

Seitens der Österreichischen Vertreter von Wissenschaft und Forschung, der einzigen Autorität gegen Aberglauben und Massenhysterie, wird augenscheinlich nichts unternommen, um Massenphänomenen entgegen zu wirken, welche Demagogen die „Generalmobilmachung“ gegen 18.000 Tirolerinnen und Tirolern im Wege von Massenblättern wie der Tiroler Tageszeitung ermöglichen.

 

 

In diesem Zusammenhang richten die unterfertigten Abgeordneten an den Bundeskanzler der Republik Österreich folgende

 

 

Anfrage:

 

1.      Ist Ihnen dieser Sachverhalt bekannt?

 

2.      Ist Ihnen bekannt, dass die Bezeichnung „Gemeinde“ über Jahrhunderte als Polysem zur Erfassung beliebiger Personenmehrheiten gebräuchlich war und dass insbesondere kirchliche Gemeinden, neben Privatgemeinden und neben politischen Gemeinden existiert haben und existieren?

 

3.      Ist Ihnen bekannt, dass auf der Grundlage einer Verleihungsurkunde vom „Erchtag in der Pfingstwoche 1352“ nur eine historische Gemeinde der Viehzüchter und Grundbesitzer Eigentum erworben haben kann und nicht die heutige politische Ortsgemeinde Kematen?

 

4.      Ist es für Sie als Minister für Wissenschaft und Forschung nachvollziehbar, wenn einer Agrargemeinschaft wie „Kemater Alpe“ heute vorgehalten wird, ihre Mitglieder hätten die Almliegenschaft „Kemater Alpe“ der Ortsgemeinde Kematen gerade wegen dieser auf „Gemeinde Kematen“ lautenden Verleihungsurkunde aus dem Jahr 1352 „gestohlen und geraubt“? Wenn Nein, warum? Wenn Ja, warum?

 

5.      Wer soll Ihrer Auffassung nach in einem Europäischen Land Aberglauben und Massenhysterie entgegenwirken, wenn solche Phänomene aufgrund besonderer Umstände gesellschaftspolitische Bedeutung erhalten und Verwerfungen im Alltagsleben erzeugen? Handelt es sich um eine politische Leitungsaufgabe des Ministers für Wissenschaft und Forschung? Wenn Nein, warum?


6.      Wenn sich „Massenphänomene“ gegen bestimmte, allgemein definierte Bevölkerungsteile richten, welche als „besitzende Klasse“ erscheinen und diese „besitzende Klasse“ als „Räuber und Diebe“ am Volksvermögen definieren, um eine entschädigungslose Enteignung oder Schlimmeres zu rechtfertigen - würde ein solches Massenphänomen Sie als obersten Vertreter des Ressort Wissenschaft und Forschung in diesem Land alarmieren? Wenn Nein, warum nicht?

 

7.      Würden Sie als oberster Vertreter der Wissenschaft und Forschung in diesem Land „amtswegig“ die Grundlagen eines solchen Massenphänomens, wie in Frage 6 definiert, untersuchen lassen, um von Seiten der Wissenschaft einen Beitrag zu leisten, allenfalls Massenphänomenen dieser Art entgegen zu wirken? Wenn Nein, warum nicht?

 

8.      Mit welcher Arbeitshypothese gehen Sie als oberster Vertreter der Wissenschaft und Forschung in diesem Land an ein Massenphänomen heran, welches einen bestimmten Teil der Bevölkerung, der durch Eigentumsverhältnisse definiert ist, systematisch kriminalisiert („Diebstahl am Volksvermögen“)? Vermuten Sie als Arbeitshypothese die Richtigkeit der durch die Massenkommunikation propagierten Sachverhaltsgrundlagen? Wenn ja, warum? Wenn Nein, warum?

 

9.      Beurteilen Sie den Tiroler Agrarstreit als ein solches Massenphänomen, welches sich nach einem bestimmten, unzählige Male in der Geschichte nachweisbaren Muster, gegen eine besitzende Klasse richtet und diese systematisch kriminalisiert um eine entschädigungslose Enteignung zu rechtfertigen?

 

10. Fühlen Sie sich als ehemaliger Gemeinderat der Ortsgemeinde Telfes/Tirol, als ehemaliger Kandidat der GRÜNEN bei den Landtagswahlen zum Tiroler  Tandtag 1994 bzw als ehemaliger Kandidat für die GRÜNE Spitzenkadidatur zur Europawahl 1996 im Tiroler Agrarstreit befangen, weil sich die GRÜNEN als Club im Tiroler Landtag führend im Sinn der entschädigungslosen Enteignung von 18.000 Tirolerinnen und Tiroler im aktuellen Agrarstreit engagieren?



[1] Bescheid der Tiroler Agrarbehörde I. Instanz vom 09.11.2006, AgrB-R741/362-2006, wörtlich zitiert nach VfSlg 18.446/2008, Seite 5 des Originalerkenntnisses: „Die Zuordnung des Eigentums am Gemeindegut an die Agrargemeinschaft als Regulierungsmaßnahme … erfolgte ohnehin als nudum jus, als nacktes Recht, weil der Regulierungsplan für Gemeindegut regelmäßig nur die damals (allein zulässige!) agrargemeinschaftliche Wald- und Weidenutzung festschrieb.“

[2] VfGH B 634/10 II A 2.3.6.1. „Weiters ist allerdings einerseits zu berücksichtigen, dass Grundbuchseintragungen unrichtig sein können, […]“

[3] VfGH 10.12.2010 B 639/10 ua, Pkt II A 2.3.6.3: „[…] der Bescheid könnte durchaus auch dahin ausgelegt werden, dass die bescheiderlassende Behörde auf den in § 36 Abs 2 lit d des Flurverfassungslandesgesetzes vom 6. Juni 1935, LGBl. Nr. 42, angeführten Begriff "Gemeindegut" im Sinne von "Eigentum der Agrargemeinschaft" abstellte (vgl. hiezu Öhlinger, Das Gemeindegut in der Judikatur des VfGH, in: Kohl/Oberhofer/Pernthaler [Hrsg], Die Agrargemeinschaften in Tirol [2010] 223 [250 f.]) […]“.