8901/J XXIV. GP

Eingelangt am 29.06.2011
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ANFRAGE

 

der Abgeordneten Grünewald, Steinhauser, Freundinnen und Freunde

 

an den Bundesminister für Gesundheit

 

betreffend die Praxis der Erstellung medizinischer Gutachten

 

 

Medizinische Gutachten sind von großer Bedeutung und haben vielfach gravierende Folgen für gerichtliche und sozialversicherungsrechtliche Entscheidungen und somit für das Leben des/der Begutachteten. Auch die Praxis der Beurteilung fraglicher medizinischer Behandlungsfehler bleibt vielfach umstritten und bürdet den Betroffenen nicht nur ein hohes finanzielles Risiko auf. Der Einfluss von Gutachten auf Lebensqualität und materielle Existenz ist jedenfalls evident.


Das medizinische GutachterInnen-/Sachverständigenwesen in Österreich ist nach Aussagen vieler ExpertInnen, aber auch Betroffener, wenig transparent und nicht ausreichend qualitätsgesichert. Gleichgültig ob es ein Verfahren vor Gericht oder außergerichtliche Entscheidungen sind, oder ob es Anträge auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension, Einstufung des Behindertengrades oder andere Entscheidungen betrifft, nimmt die fachliche Expertise Bewertungen vor, die letztlich das rechtliche Verfahren weitgehend determinieren.

 

Ob alle diese „Sachverständigen“ tatsächlich auf dem letzten Stand der medizinischen Wissenschaft sind, mit dem Krankheitsbild, das sie beschreiben und beurteilen, ausreichend häufig konfrontiert  waren  und wirklich über das im Einzelfall erforderliche Spezialwissen verfügen, wird nicht kontinuierlich überprüft. Auch der pro Begutachtung getätigte Zeitaufwand und die damit verbundene Sorgfalt zeigen breite Streuungen.


Zwar ist die wissenschaftliche Weiterbildung von medizinischen Sachverständigen im Sachverständigen- und Dolmetschergesetz (SDG) ausdrücklich festgeschrieben, die Art der Überprüfung derselben bereitet aber oft Probleme oder fällt überhaupt aus. Es bleibt dabei unklar, ob immer nach den Erkenntnissen der "evidence based medicine" entschieden wird und neueste wissenschaftliche Erkenntnisse in die Begutachtung einfließen.

 


Grundsätzlich ist nach § 2 ÄrzteG (Absatz 3) jedeR zur selbständigen Ausübung des Berufes berechtigteR ÄrztIn dazu befugt, ärztliche Zeugnisse auszustellen und ärztliche Gutachten zu erstatten. Vor Gericht gibt es eigene Vorschriften zur Anerkennung/Bestellung von ärztlichen GutachterInnen. In Zivilprozessen können die Parteien eigene GutachterInnen benennen, in Strafprozessen entscheidet die RichterIn, ob Privatgutachten zugelassen werden. Allein die Kosten von Privatgutachten tragen die Gefahr, dass sich Wohlhabendere hier möglicherweise einen Vorteil verschaffen könnten.


Das Gericht kann aber auch selbst eine GutachterIn bestellen. Dazu wird aus der Gerichtssachverständigenliste eine allgemein beeidete und gerichtlich zertifizierte sachverständige Person ausgewählt. In dieser Liste befinden sich sachverständige Personen aus einer Fülle von Fachgruppen. Es erhebt sich die Frage, über welche Kompetenzen ein Gericht verfügt, die jeweils kompetentesten GutachterInnen zu erkennen und auszusuchen.

 

Die erste Zertifizierung ist fünf Jahre gültig. Danach kann man sich fortlaufend für zehn Jahre rezertifizieren lassen. Die Verlängerung bedarf dabei lediglich eines schriftlichen Antrages.

 

Seit vielen Jahren werden wir aus der gelebten Praxis laufend mit problematischen Gutachten konfrontiert, die akuten Handlungsbedarf zeigen. Viele Betroffene  lassen, selbst bei großen Nachteilen für Ihre Person, fachlich hinterfragbare Gutachten unwidersprochen, da Sie weder das finanzielle Risiko noch den zeitlichen Aufwand von Rechtsmitteln auf sich nehmen können. Viele PatientInnen wenden sich an die PatientInnenanwälte oder die Volksanwaltschaft[1],  welche die oftmals gängige Praxis ebenfalls scharf kritisiert und damit die Problematik unterstreicht.

 

Betroffenheit, Erstaunen und Ärger löst die Arbeitsweise mancher medizinischer Sachverständiger aus[2]:

 

·    Begutachtungen dauern oft nur wenige Minuten und werden aus der Distanz, ohne Konfrontation mit den Betroffenen, durchgeführt.

·    Begleit-/Vertrauenspersonen der Betroffenen werden von den GutachterInnen weggewiesen.

·    Ein 80-jähriger „gerichtlich beeideter Sachverständiger für Rheumatologie“ untersucht in einem kleinen privaten (ungeheizten) Kellerraum eine Patientin (in Unterwäsche) über 1 Stunde lang.

·    Einer Friseurin wird nach 2 Bandscheibenvorfällen und einer Lähmung des Vorderfußes gesagt, sie könne ja sitzend arbeiten (sie geht auf Krücken).

Aufsehen erregte auch die zwar zurück genommene Entscheidung, Tumorkranken, speziell bei HNO-Tumoren, die für Sie notwendige „Astronautennahrung“ ohne Selbstbehalte zur Verfügung zu stellen. Selbst ein Entscheid einer Krankenkasse wird somit zu einem fragwürdigen, ja unangebrachten medizinischen Gutachten.

 


Die Tatsache, dass GutachterInnen auch im Namen einer Versicherung tätig sind, schließt die Gefahr einer zumindest teilweisen Befangenheit, im Sinne des Dienstgebers zu entscheiden, nicht gänzlich aus. Ein Pool von unabhängigen GutacherInnen könnte hier eine mögliche Alternative darstellen.

 

Laut einer Anfragebeantwortung des BM für Justiz vom 8. Juli 2010 (5230/AB XXIV GP) auf die Anfrage „betreffend Kontrolle der Qualität von Sachverständigen- Gutachten“ ((5305/J XXIV.GP) unseres Justizsprechers Albert Steinhauser waren zum Stichtag 18. 5. 2010 in der Liste der allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Sachverständigen (SDG-Liste) österreichweit 8730 Personen eingetragen. Von den in den Jahren 2005-2007 gestellten Anträgen auf Re-Zertifizierung gemäß § 6 SDG wurde kein einziger abgelehnt, in den Jahren 2008-2009 im OLG (Oberlandesgericht) – Sprengel Graz alleine dann plötzlich 103. Als Gründe für die Ablehnungen werden u.a. „Zweifel an der fachlichen Qualifikation“ und „mangelnde Vertrauenswürdigkeit“ genannt.

Es gibt also durchaus Konsequenzen, wenn Sachverständige gegen die Grundsätze und das Leitbild eines guten Sachverständigen verstoßen, selbst bei „Vorfällen, die für sich allein nicht das Gewicht eines Entziehungsgrundes“ haben, kann mit dem Hinweis auf ein mögliches Entziehungsverfahren an die „Pflichten erinnert“ werden.

 

Es stellt sich auch die Frage welche Überlegungen die Regelungen die Honorare medizinischer Gutachten? Sind der Umfang medizinischer Gutachten in Seiten, oder der tatsächlich geleistete zeitliche Aufwand und die wissenschaftliche Belegbarkeit von Entscheidungen durch Literaturhinweise bestimmend? Welche anderen Kriterien werden für die Honorierung herangezogen? Das Studium von Akten ist de facto eine wissenschaftliche Bewertung und nicht bloßes Lesen von Protokollen. Eine unzureichende Honorierung sollte nicht durch die Zahl erstellter Gutachten wettgemacht werden.

 

 

 

Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgende

 

 

ANFRAGE:



1.         Wie viele medizinische GutachterInnen/Sachverständige gibt es aktuell in Österreich? Bitte um Gliederung nach Bundesland und pro 50.000 EinwohnerInnen.

 

2.         Wie viele dieser sind welchem medizinischen Fachbereich zugeordnet? Bitte um detaillierte Aufschlüsselung nach  Sonderfächern, Bundesland und pro 50.000 EinwohnerInnen.

 

3.         Gibt es Daten über medizinischen GutachterInnen (Durchschnittsalter, Geschlecht, wissenschaftliche Publikationen, Fachbereiche, durchschnittliche Begutachtungsdauer pro Patient,  Zahl der erstellten Gutachten, Begutachtungserfahrung in Jahren)? Wenn ja, welche? Falls nein, warum nicht?

 

4.         Nach welchen Qualitätskriterien werden medizinische GutachterInnen bestellt? Wie wird die vorgeschriebene wissenschaftliche Weiterbildung überprüft? In welchem Abstand wird überprüft? Wer empfindet und entscheidet über Qualitätsmängel?   

 

5.         Welche Kriterien führen zu einem Ausschluss bzw. einer Ablehnung einer/s medizinischen GutachterIn/s?

 

6.         Durch die zunehmende Spezialisierung der Medizin durch den wissenschaftlichen Fortschritt ist es heutzutage schwer möglich, eine umfassende Kompetenz in allen Teildisziplinen eines Sonderfaches zu erlangen. Wird eine fachspezifische Zusatzausbildung abverlangt? Allein das Sonderfach Innere Medizin enthält 11 Additivfächer mit Subspezialisierung. Von einer einzelnen Person ist das Gesamtfach Innere Medizin kaum in seiner ganzen Breite kompetent zu beherrschen. In wie weit wird dieser Subsspezialisierung in einzelnen Fächern Rechnung getragen?

 

7.         Eine ähnliche Problematik besteht in dem Fach Kinder- und Jugendheilkunde. Wie viele GutachterInnen pro 50.000 Einwohner in den einzelnen Bundesländern speziell für Kinder gibt es in den einzelnen Additivfächern?

 

8.         Gerade im Bereich psychiatrischer Gutachten werden nicht selten beträchtliche Differenzen denselben Fall betreffend, in der Beurteilung unterschiedlicher GutachterInnen beobachtet. Welchem Gutachten das Gericht eine höhere Glaubwürdigkeit zuerkennt, bleibt allerdings der Mehrheit der Betroffenen unklar. Wie wollen Sie dieser Problematik begegnen?

 

9.         Der „Fall Omofuma“ und die gerichtsmedizinische „Erklärung“ der Todesursache des Abgeschobenen zeigten frappante Schwächen.  Dort getätigte gutachterliche Äußerungen hatten oft mehr anekdotischen Charakter als dass sie durch Zitieren von wissenschaftlicher Literatur belegt wurden. Wie gedenken Sie, diese Peinlichkeiten zu vermeiden?

 

10.      Gibt es spezielle Kriterienkataloge, etwa für die Begutachtung mutmaßlich missbrauchter Kinder, von Ihrem Ressort?

 

11.      Arbeitet Ihr Ressort an aktuellen Katalogen für spezifische Bereiche? Wenn ja, bis wann ist mit der Veröffentlichung zu rechnen? Wenn nein, warum nicht? Wie und bis wann ab Fertigstellung bzw. Implementierung wird die Umsetzung der erarbeiteten Kriterien überprüft werden?

 

12.      Das Pilotprojekt „Gesundheitsstraße“ wurde im Sommer 2010 auf Initiative des BMASK bundesweit gestartet. Die einheitliche und standardisierte zentrale Feststellung der Arbeitsunfähigkeit könnte auch für medizinische Gutachten in anderen Bereichen eingeführt werden. Ist dies geplant? Wenn ja, ab wann? Wenn nein, warum nicht?

 

 



[1] siehe Parlamentskorrespondenz 03 vom 3.7.2008, http://www.parlament.gv.at/PG/PR/JAHR_2008/PK0716/PK0716.shtml

[2] Diese Fälle wurden uns von Betroffenen berichtet.