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Wien, am 5. November 2012

 

 

 

 

Stellungnahme zum Entwurf des KindNamRÄG 2012

Teil II: Inhaltliches

Übersicht:

1.     Allgemeines zur Neuregelung der Obsorge

2.     Effizienteres Kontaktrecht

3.     Umfassendes Informationsrecht

4.     Antragsrecht zur Erlangung der gemeinsamen Obsorge

5.     Kritik einzelner Bestimmungen

1. Allgemeines zur Neuregelung der Obsorge

Anlass für die Neuregelungen im Obsorgerecht waren oberstgerichtliche Entscheidungen des EGMR und des VfGH, nach denen das derzeitige Obsorgerecht verfassungswidrig ist: geboten sei die Einführung eines Antragsrechts für außereheliche Väter auf Beteiligung an der Obsorge, welche ihnen de lege lata durch die Mutter verweigert werden kann. Bei der Ausgestaltung des Antragsrechts bestand allerdings Spielraum für den Gesetzgeber, da die erwähnten Erkenntnisse im einzelnen keine Vorgaben enthielten, wann einem solchen Antrag eines Vaters stattzugeben wäre. Doch der Entwurf überlässt die Antwort auf diese Frage weitgehend dem Richter, was aus rechtsstaatlicher Sicht problematisch erscheint (dazu unten 5.). Da der politische Kompromiss im Obsorgerecht offenbar nur unter großem Aufwand erzielt werden konnte (dafür spricht die lange Zeit, in der hinter verschlossenen Türen verhandelt wurde, und die schließlich sehr kurze öffentliche Begutachtungsphase), verbleibt nun bis zum Außerkrafttreten der derzeitigen Obsorgeregelung für außer der Ehe geborene Kinder (31. 01. 2013) nicht mehr viel Zeit zum Einarbeiten von Änderungsvorschlägen. Im Folgenden gehe ich daher grundsätzlich vom politischen Kompromiss (Antragsrecht statt Automatismus,  „Heim erster Ordnung“) aus und rege nur einzelne Korrekturen an.

Außerdem beziehen sich die folgenden Ausführungen ohnedies nicht alle auf die Obsorge. Die Probleme in der Praxis für den getrennt vom Kind lebenden Elternteil treten nämlich vor allem bei der Aufrechterhaltung des Kontakts zum Kind und bei der Erlangung von Informationen über das Kind auf. Die Lösung dieser Probleme ist nicht (allein) durch das Obsorgerecht möglich. Vielmehr ist zu befürchten, dass Eltern, deren Einvernehmen schlecht ist, auch bei gemeinsamer Obsorge weiterhin Probleme in diesen Bereichen haben werden. Durch die effizientere Ausgestaltung von Kontaktrecht und Informationsrecht könnte man mit Sicherheit einen Teil der künftigen Obsorgeverfahren vermeiden und dadurch Verfahrenskosten sparen. Denn viele Väter werden in Zukunft den Obsorgeantrag zur Verbesserung ihres Kontaktrechts und zur Erlangung von Informationen, die ihnen die Kindesmutter vorenthält, stellen, obwohl sie gar nicht primär an einer Betreuung über das übliche Besuchsrecht hinaus interessiert sind.

Richtigerweise hätten im Entwurf daher parallel zur gemeinsamen Obsorge vor allem das Kontakt- und Informationsrecht ausgebaut werden müssen. Bei beiden wird der Entwurf jedoch ihrer enormen praktischen Bedeutung nicht gerecht. Er hat weder die Möglichkeiten ausgeschöpft, wirksame materiellrechtliche Instrumente zur Effizienzsteigerung des Kontaktrechts zu schaffen (dazu unten 2.), noch, was politisch wohl ziemlich unproblematisch gewesen wäre, das bestehende sehr restriktive Informationsrecht ausgebaut (dazu unten 3.), das somit weiterhin auf „wichtige Obsorgeangelegenheiten“ beschränkt bleibt, obwohl es für den getrennt lebenden Elternteil von eminenter Bedeutung ist, besonders wenn auch ihm die Obsorge zukommt!

Beide Regelungen – Kontaktrecht und Informationsrecht – sollten mE unter die „Allgemeinen Grundsätze“ (§ 137) der Rechte zwischen Eltern und Kindern aufgenommen werden, da sie Rechte der Eltern an sich betreffen und somit von der Obsorge unabhängig sind. Auch in Zukunft wird es immer Eltern geben, die nicht die Obsorge haben (wollen oder können, zB wegen Geschäftsunfähigkeit), denen aber selbstverständlich trotzdem ungeschmälert das Recht auf Familienleben nach der EMRK zusteht. Auf lange Sicht wird daher ohnehin eine Stärkung der Position der Eltern durch Einräumung eines echten Elternrechts im Sinn eines grundrechtskonformen Bündels an Rechten und Pflichten, unabhängig von der Obsorgepflicht, nötig werden. Als Regelungsort für das Elternrecht bietet sich die „gleichsam einleitende Bestimmung“[1] des § 137 an.

2. Effizienteres Kontaktrecht

Die Erläuterungen nennen eine Effizienzsteigerung beim Kontaktrecht als eines der Ziele der Reform. Bei der Wahl der Mittel zur Lösung der typischen Probleme bei der Abwicklung der Besuchskontakte (Kontaktverweigerung durch betreuenden Elternteil, Unzuverlässigkeit des besuchenden Elternteils) zeichnet sich der Entwurf jedoch durch Phantasielosigkeit aus (zB wird die Bestrafung der Eltern erwogen und verworfen[2]). Der Einsatz des Besuchsmittlers im Verfahren zur Durchsetzung des Kontaktrechts ist zu begrüßen, verursacht für die Eltern jedoch zusätzliche Kosten.

Eine Möglichkeit, die Besuche in der Praxis konfliktfreier zu gestalten, wäre zB die Einschaltung Dritter, indem das Gericht die Kontakte in Konfliktfällen möglichst ohne direkte Begegnung der Eltern gestaltet (zB der Vater holt das Kind an einem bestimmten Tag von der Schule ab und bringt es wieder dorthin) und den Dritten – die Schule, den Kindergarten etc – von diesem Beschluss verständigt. Die jeweilige Dritte könnte verpflichtet werden, das Kind an solchen Tagen nicht an den obsorgeberechtigten Elternteil auszufolgen. Eine Pflicht könnte freilich als zu große Belastung Dritter angesehen werden. (Andererseits ist zu bedenken, dass § 106a AußStrG nun sogar Zwangsmittel vorsieht, wenn diese Dritten einer Ladung der Familiengerichtshilfe nicht Folge leisten.) Es wäre aber der Abwicklung des regelmäßigen Kontakts schon dadurch sehr gedient, dass die dritte Person berechtigt wäre, das Kind dem kontaktberechtigten Elternteil zu übergeben, selbst wenn der obsorgeberechtigte Elternteil es verabsäumt, dies zu gestatten. Auch könnten die zuvor  verständigten Dritten sicher später im Verfahren (zB vor der Familiengerichtshilfe) Auskunft geben, ob die Abholung regelmäßig funktioniert hat.

Eine weitere Möglichkeit, substantiell das Kontaktrecht zu verstärken, bestünde mE darin, bei Ausfallen der Kontakte durch Krankheit des Kindes über einen längeren Zeitraum ein Besuchsrecht am Krankenbett des Kindes vorzusehen. Der Zuspruch eines solchen durch das Gericht käme freilich nur in Frage, wenn das Verhalten des besuchsberechtigten Elternteils keine unzumutbare Belastung des im Haushalt betreuenden Elternteils befürchten lässt. Das Recht, zu Hause Besuche zu empfangen, insbesondere den Besuch des eigenen Vaters oder der eigenen Mutter im Krankheitsfall, muss mE einem Kind ohnedies aufgrund seiner Persönlichkeitsrechte und Grundrechte (zB Recht auf Familienleben) zugestanden werden. Der Besuch kann ja sogar zur Genesung des Kindes beitragen. Auch dem getrennt lebenden Elternteil sollte die Möglichkeit eines Besuchs beim kranken Kind bei längerer oder schwerer Krankheit des Kindes, unabhängig von einer Obsorge, offenstehen. Da ein Besuch im Krankheitsfall bisher besonders leicht verweigert werden konnte, ist eine ausdrückliche Regelung im Gesetz wohl erforderlich. Sie könnte auch helfen, dem bloßen „Vorschützen“ einer Erkrankung durch den betreuenden Elternteil vorzubeugen, da allein dadurch in Hinkunft der Kontakt zum anderen Elternteil gar nicht mehr unterbunden werden könnte. Diese Regelung würde daher dem „Besitzdenken“ mancher hauptsächlich betreuender Eltern hinsichtlich ihrer Kinder entgegenwirken.

Ebenso wie Besuche im Krankheitsfall müsste der hauptsächlich betreuende Elternteil mE auch die fallweise Begleitung durch den anderen Elternteil im Alltag dulden, wenn ansonsten ein regelmäßiger Kontakt im Hinblick auf das Kindeswohl nicht möglich erscheint. Es geht nämlich nicht an, dass einem Elternteil, der guten Willens ist, sein Kind zu treffen, in den Fällen, in denen eine alleinige Betreuung durch ihn (noch) ausscheidet, zB weil das Kind noch zu klein ist, nur der „begleitete“ Kontakt zur Verfügung steht, der Kosten verursacht. Finden die Kontakte in der ersten Zeit im Beisein des betreuenden Elternteils statt, hätte dies überdies den Vorteil, dass der zweite Elternteil in die Betreuung eingeführt werden kann und der betreuende dadurch das nötige Vertrauen aufbauen kann, diesem das Kind allein zu überlassen. Im Entwurf fehlt ein Hinweis auf diese (kostenfreie) und effiziente Möglichkeit der Gestaltung der (ersten) Kontakte.

Darüber hinaus fehlt auch eine Bestimmung, die den schrittweisen Ausbau des Kontaktrechts vorsieht für Eltern, die zu Beginn wegen des geringen Alters des Kindes oder bislang fehlender Nahebeziehung nur sehr eingeschränkt (etwa nur alle zwei Wochen) Kontakt zum Kind haben. Das Gesetz müsste festlegen, was es als „normalen“ dem Kindeswohl zuträglichen Kontakt zum zweiten Elternteil ansieht. Nicht der einzelne Richter, sondern der Gesetzgeber hat die Aufgabe, den diesbezüglich aktuellen Stand der Erkenntnisse auf dem Gebiet der Psychologie zu erheben und ins Gesetz aufzunehmen. Bei der Wohnsituation hat er das getan, indem er sich gegen das „Wechselmodell“ und für ein „Heim erster Ordnung“ entschieden hat. Beim Ausmaß des persönlichen Kontakts zum zweiten Elternteil fehlt eine Regelung. Sie hätte zB in Form der Normierung des stufenweisen Ausbaus des Kontakts bis hin zu einer qualitativ, wenn auch nicht quantitativ vergleichbaren Betreuung durch beide Eltern erfolgen können. Dies würde den Verhältnissen zusammenlebender Eltern am nächsten kommen, bei denen auch einer der Elternteile manchmal berufsbedingt weit weniger Zeit mit dem Kind verbringt als der andere, aber trotzdem eine vergleichbar enge Nahebeziehung zu ihm aufbauen kann.

Es fehlt im Gesetz auch eine Regelung der Folgen für das unbegründete Ausfallenlassen von Besuchskontakten, auf beiden Seiten. Trägt der betreuende Elternteil die Schuld, wäre eine Möglichkeit, ein weitgehendes Ersatzbesuchsrecht nach Wahl des besuchsberechtigten Elternteils anzuordnen. Bei Säumigkeit des besuchenden Elternteils sollte zumindest eine Erhöhung der Unterhaltspflicht eingreifen, damit „Ersatz“ für die fehlenden Besuche durch einen Babysitter beschafft werden kann. Es liegt nämlich durchaus auch im Interesse des Kindes, dass sich sein betreuender Elternteil regelmäßig ohne Kind entspannen und zB kulturellen Interessen nachgehen kann, und das Kind selbst die Abwechslung der Betreuung durch eine andere Bezugsperson genießen kann.

3. Umfassendes Informationsrecht

Die derzeit im Entwurf vorgesehene Verständigung von „wichtigen Angelegenheiten“ reicht nicht aus. Jeder engagierte Elternteil will am Leben seines Kindes Anteil nehmen. Das ist ihm jedoch nur möglich, wenn er von allen das Wohl des Kindes betreffenden Umständen Kenntnis nehmen kann und nicht auf eine (aktive) Verständigung durch den anderen Elternteil warten muss! Das Informationsrecht ist Voraussetzung dafür, dass auch der getrennt lebende Elternteil seiner Pflicht (die wohl ebenfalls erst ins Gesetz aufgenommen werden muss!, zB in § 137), sich durch regelmäßige Kontakte zum Kind von dessen Wohlergehen zu überzeugen, gerecht werden kann. Für viele Väter ist gerade dieser Mangel an Informationen und die daraus erwachsende Unfähigkeit, die Lebenssituation des Kindes wirklich zutreffend beurteilen zu können, viel unerträglicher, als der Mangel an Obsorgebefugnissen, durch deren Erlangung die Betroffenen dann aber hoffen, gerade in den Besitz der gewünschten Informationen gelangen zu können. Wie beim Kontaktrecht ist jedoch nach dem vorliegenden Entwurf auch beim Informationsrecht zu befürchten, dass die Probleme nicht durch Mitobsorge gelöst sein werden. Es fehlt nämlich auch für die gemeinsame Obsorge eine klare inhaltliche Bestimmung zum Informationsaustausch zwischen den Eltern. Dass die Eltern möglichst das Einvernehmen suchen sollen (§ 137), gibt noch kein von anstehenden Obsorgemaßnahmen unabhängiges, vorbeugendes Recht auf umfassende Information.  Im Gegenteil: Gemäß § 189 Abs 5 gilt auch für den obsorgeberechtigten Elternteil dasselbe eingeschränkte Recht auf Information wie für den bloß kontaktberechtigten! Nur mit dem Unterschied, dass hier sogar die Ausübung der Obsorge durch den getrennt lebenden Elternteil extrem erschwert ist, wenn er nicht auch von „minderwichtigen“ Tatsachen im Leben seines Kindes erfährt. Hier geht es zB um gesundheitliche „Unpässlichkeiten“ vor (oder nach) dem Besuchskontakt, um die zu erledigenden Hausaufgaben oder um Termine, wie Einladungen zu Geburtstagsfesten, Sportveranstaltungen, etc.

Aus diesem Grund wurde bereits im ersten Teil meiner Stellungnahme auf die inhaltliche Verwobenheit der im Entwurf sogenannten „Sonstigen Rechte“ mit der praktischen Ausübung der Obsorge durch den getrennt lebenden Elternteil hingewiesen und die systematische Einheit der Regeln über Obsorge, Kontakt und Information in einem Abschnitt gefordert (während das Kontakt- und Informationsrecht jetzt noch hinter den Pflegeeltern steht!).

Nicht zuletzt ist zu betonen, dass das Informationsrecht auch unter dem Blickwinkel des Kindeswohls geboten ist! Die derzeit in vielen Fällen von Informationen abgeschnittenen getrennt lebenden Eltern versuchen nämlich regelmäßig, diese Informationen „vom Kind heraus zu bekommen“. Das Ausgefragt-Werden bringt das Kind dann - insbesondere wenn der betreuende Elternteil Informationen zurückhält, wie eben in solchen Fällen – in einen unangenehmen Loyalitätskonflikt (vgl § 138 Z 10 des Entwurfs! „Ich sag’s dir ja, aber bitte sag der Mama nicht, dass ich dir’s erzählt habe“ oä wird dann eine typische angstbesetzte Reaktion des Kindes sein.) Das Kind wird durch das fehlende Informationsrecht des Elternteils selbst zum Informationsträger zwischen den Eltern und damit potentiell dazu erzogen, die Unwahrheit zu sagen. Moderne psychologische Erkenntnisse legen dagegen nahe, dass das Kind aus den Konflikten der Eltern möglichst heraus zu halten ist, diese ihre Probleme selbst lösen sollen. Dafür ist es aber unerlässlich, dass die Eltern an die gewünschten Informationen nicht nur über das Kind, sondern auch über den anderen Elternteil gelangen können.

Die Lösung für diese Probleme in der Praxis des Kontaktrechts sehe ich in der Einführung eines Rechts auf umfassende Information nach dem Vorbild des § 1686 dBGB. Als allgemeiner Grundsatz der Rechte zwischen Eltern sollte es in § 137 aufgenommen werden:

§ 137. (3) Jeder Elternteil kann vom anderen Elternteil bei berechtigtem Interesse Auskunft über persönliche Verhältnisse des Kindes zu verlangen, soweit dies dem Wohl des Kindes nicht widerspricht.[3]

Die Regelung des Informations- und Äußerungsrechts in § 189 des Entwurfs könnte daneben durchaus beibehalten werden. Sie behandelt inhaltlich ohnedies etwas anderes, nämlich eine Pflicht zur ungefragten Information durch den obsorgeberechtigten Elternteil, wenn wichtige Obsorgeentscheidungen anstehen, während es bei dem Elternrecht in § 137 um das Recht geht, Informationen zu verlangen, und zwar auch vom nicht obsorgeberechtigten anderen Elternteil. Es wäre also durchaus stimmig, dass der Umfang der Informationen in § 189 enger gezogen bliebe, da die Pflicht eine stärkere ist, nämlich ein Tätigwerden des Auskunftspflichtigen von sich aus verlangt.

4. Antragsrecht zur Erlangung der gemeinsamen Obsorge

Wie schon erwähnt, wäre es Aufgabe des Gesetzgebers, die Voraussetzungen zu präzisieren, unter denen eine gemeinsame Obsorge gegen den Willen des bisher betreuenden Elternteils anzuordnen ist. Der bloße Hinweis auf das Kindeswohl ist zu wenig. So können etwa in Hinkunft manche Richter aufgrund ihrer persönlichen Überzeugung die Anträge auf Mitobsorge tendenziell in fast allen Fällen genehmigen, andere Richter aber nur jenen Anträgen stattgeben, die eine maßgebliche Beteiligung des antragstellenden Elternteils an der faktischen Betreuung des Kindes erwarten lassen. Dieses viel zu weite Ermessen ergibt sich daraus, dass die Verteilung der Obsorge an sich noch nicht eine vermehrte Betreuung durch den zweiten Elternteil bedeutet. Im Gegenteil sieht der Entwurf ja vor, dass immer ein Elternteil vom Gericht die Rolle des hauptsächlich betreuenden zugewiesen bekommt. Wenn die Obsorge also nicht mit vermehrter Betreuung verbunden ist, worin liegt dann der Vorteil für das Kindeswohl? Im Grunde liegt ein solcher nur dann vor, wenn man annimmt, dass die Obsorgeentscheidungen des zweiten Elternteils für das Kind besser passen werden als die vom betreuenden allein getroffenen. Es ändert sich nach dem Konzept des Gesetzes nämlich nur die Entscheidungszuständigkeit. Ob tatsächlich eine Übernahme von elterlicher Verantwortung im Sinn der Obsorge durch den zweiten Elternteil für das Kindeswohl Vorteile bringt, soll das Gericht überdies nach der „Phase der vorläufigen elterlichen Verantwortung“ beurteilen. Das ist aber nicht wirklich möglich, da in dieser Phase dem zweiten Elternteil die Obsorge gerade nicht zukommt! Ob sich durch die Gleichstellung beider Eltern in den Befugnissen  etwas zum Wohl des Kindes verändert, ist also in dieser Phase gerade noch nicht sichtbar. Man könnte zwar die Wendung „ausreichendes Kontaktrecht…dass er auch die Pflege und Erziehung wahrnehmen kann“ so interpretieren, dass sie ein Mindestmaß an Betreuung durch den zweiten Elternteil als Voraussetzung für die gemeinsame Obsorge normiert. Eine derartige Lesart ist aber keinesfalls zwingend, verlangt doch das Gesetz nach wie vor, dass ein Elternteil die hauptsächliche Betreuung leisten muss. Zu befürchten ist daher eher, dass mit einer gewissen Automatik auch alle Paare, bei denen ein Teil nur ein übliches Maß an Besuchskontakten anstrebt, die gemeinsame Obsorge erhalten werden. Gerade dieses Konzept des Entwurfs, nach dem im Regelfall ein Elternteil die Betreuung zum Großteil übernehmen muss, während beide Eltern dieselben Mitbestimmungsrechte bei der Obsorge haben, ist mE im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz bedenklich. Es führt nämlich zu einer strukturellen Benachteiligung des betreuenden Elternteils (meist also der Frau), da diesem zwar die Lasten der Erziehung im Alltag aufgebürdet werden, die damit in der Regel einhergehende größere Kompetenz zur Entscheidung in Fragen der Pflege und Erziehung aber keine Berücksichtigung findet. Die Berechtigung des Vaters auf der anderen Seite, eigenständig Entscheidungen zu treffen, die das Leben der betreuenden Mutter anschließend beeinflussen, erinnert in gewisser Weise sogar an die bereits lang überwunden geglaubte „väterliche Gewalt“. Die Reglung ist mE nur dann verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn der Grundsatz verwirklicht wird, dass Obsorge nicht ohne Betreuung zustehen darf. Damit wäre auch klargestellt, worin der Vorteil der gemeinsamen Obsorge für das Kindeswohl zu sehen ist, nämlich im vermehrten Kontakt zum getrennt lebenden Elternteil! ME ist daher § 180 um eine Konkretisierung zu ergänzen, dass gemeinsame Obsorge gegen den Willen der Mutter nur dann anzuordnen ist, wenn eine Übernahme maßgeblicher Betreuungsleistungen im Alltag (zB Arztbesuche, Begleitung zu Freizeitkursen, Haushaltstätigkeiten für das Kind) durch den Vater zu erwarten ist. Erfüllt sich diese Erwartung nicht, ist darin ein Grund für die Aufhebung der gemeinsamen Obsorge zu sehen. (Die freiwillig gemeinsame Obsorge bedarf demgegenüber wie bisher keiner inhaltlichen Festlegung. Freiwillig kann sich eine Mutter der Alleinobsorge begeben und trotzdem die mit der Kindererziehung verbundene Arbeit weiter allein besorgen.)

Schon nach der Formulierung der Aufhebungsgründe im Entwurf (§ 180 Abs 2) fehlt zudem eine ausdrückliche Klarstellung, dass als „geänderte Verhältnisse“ auch der Fall anzusehen sein muss, dass sich zwar nicht die Verhältnisse seit der letzten Entscheidung geändert haben, dass aber eine vom Gericht der Entscheidung zugrunde gelegte „Zukunftsprognose“[4] sich schlicht nicht erfüllt hat!

Die möglichst weitgehende Übernahme von Pflege und Erziehung im Alltag durch den kontaktberechtigten Elternteil erfordert mE zumindest bei gemeinsamer Obsorge eine Änderung der Bestimmungen über die Pflegefreistellung. Aber auch der rechtmäßig das Kind im Rahmen eines Kontaktrechts betreuende Elternteil sollte ein Recht auf Pflegefreistellung erhalten, sofern zur selben Zeit auch der hauptsächlich betreuende Elternteil aufgrund seiner Berufstätigkeit Pflegeurlaub nehmen müsste.

Da es in  § 180 vorrangig um die für das Kindeswohl beste Verteilung der Obsorge geht, muss außerdem auch dem Elternteil, der allein obsorgeberechtigt ist, ein Antragsrecht auf Beteiligung des anderen Elternteils an der Obsorge zustehen. Die bloße Vermutung, dass dieser eine Beteiligung ablehnen werde, ist wohl genauso wenig ein Grund, den Antrag von vornherein auszuschließen, wie es die Vermutung war, eine gemeinsame Obsorge gegen den Willen der Mutter könne keinesfalls funktionieren, ein Grund war, das Antragsrecht des Vaters auszuschließen.

Im Rahmen des § 180 Entwurf besteht noch eine Unklarheit: Wie kann das Gericht amtswegig tätig werden, wenn nach Auflösung der häuslichen Gemeinschaft nicht verheirateter, aber beide obsorgeberechtigter Eltern keine Einigung gemäß § 179 zustande kommt? Nach dem Wortlaut der Bestimmung hat das Gericht in diesem Fall auch ohne Antrag einem Elternteil die hauptsächliche Betreuung aufzutragen und andere Verfügungen zu treffen. Dies ist äußerst unpraktisch, da das Gericht in der Regel von der Trennung keine Kenntnis erlangen wird. Die Erläuterungen[5] erwecken den Eindruck, dass bei der Bestimmung nur an verheiratete Eltern („eheliche Eltern“) gedacht wurde. Die Unterscheidung findet im Gesetzestext aber keine Deckung.

Zuletzt ist mE noch darauf hinzuweisen, dass sechs Monate „Beobachtungsphase“ durch den Richter zu kurz sind, um das Funktionieren einer gemeinsamen Obsorge abzuschätzen, falls der Vater zuvor noch gar keinen Kontakt zum Kind hatte (zB weil  es erst vor kurzem geboren wurde). Für derartige Fälle müsste eine Verlängerung der Phase vorläufiger Kontaktrechtsregelungen und ein schrittweiser Anstieg des Ausmaßes des Kontaktrechts (siehe bereits oben 2.) vorgesehen werden. Dadurch könnten auch Väter, die noch nie Betreuung in größerem Maß übernommen hatten, in mehreren Schritten zu jenem Nahe- und Betreuungsverhältnis gelangen, das nach dem hier vertretenen Konzept allein eine Verfügung gemeinsamer Obsorge rechtfertigen kann. Die derzeitige Regelung des § 180 passt daher nur auf Eltern, die (wie zB viele geschiedene) bereits zuvor die Betreuung des Kindes in der Praxis übernommen hatten.

5. Kritik einzelner Bestimmungen

Kindeswohl-Umschreibung (§ 138 Entwurf)

Im einleitenden Satz ist der Anwendungsbereich des Gebots der Beachtung des Kindeswohls zu eng umschrieben: Er müsste etwa heißen: „In allen Angelegenheiten des 3. und 4. Hauptstückes …“.

In der Aufzählung wichtiger Elemente des Kindeswohls fehlt mE „die Möglichkeit des Kindes, bei seinen Eltern zu wohnen und von diesen erzogen zu werden“. Diese ganz zentrale Bedingung des Kindeswohls ist weder durch „Kontakte zu den Eltern“ (Z 9), noch durch die „Wertschätzung der Eltern“ (Z 3) erfüllt! Sie hat nicht nur im Fremdenrecht Bedeutung (Stichwort: Familienzusammenführung), sondern vor allem auch im Privatrecht im Zusammenhang mit der Unterbringung von Kindern bei Pflegeeltern, in Heimen oder bei Adoptiveltern, gegen den Willen eines Elternteils. Ohne die Betonung der besonderen, räumlich und zeitlich intensiven Nahebeziehung zu den Eltern liest sich § 138 wie ein Katalog, der bei einer Kindesabnahme durch das Jugendamt zu beachten ist, nicht aber wie die Beschreibung der für das Kind typischerweise glücklichsten Lebenssituation. Es stimmt natürlich, dass ein Kleinkind, dem statt seiner leiblichen Eltern andere Bezugspersonen vorgesetzt werden, zunächst keinen Schaden nimmt. Die Beeinträchtigung des Kindeswohls findet dann Jahre später, wenn der Entzug der leiblichen Eltern bewusst wahrgenommen wird, statt, kann gerade dann aber traumatisierende Wirkungen haben. Die Funktion der Eltern für das Kindeswohl ist in § 138 derzeitiger Fassung daher nicht richtig dargestellt. Sie sind nicht Onkel und Tanten, zu denen man Kontakt hat, sondern sie haben eine exklusive Stellung im Leben jedes Menschen. Das Kindeswohl verpflichtet die Eltern nicht nur, sondern ist auch vom Wohlergehen der Eltern abhängig, also nicht so leicht von deren Wohl zu trennen, wie die Erläuterungen nahelegen.[6] Wird diese Verwobenheit bei Regelungen und Maßnahmen „im Interesse des Kindeswohls“ übersehen, so geraten diese leicht zu einer Beeinträchtigung des Kindeswohls, statt wie beabsichtigt zu dessen Förderung, da ein Kind sich ja das Wohlergehen seiner Eltern wünscht. Eine Maßnahme „gegen die Eltern“ führt daher entweder zu einer Identifizierung des Kindes mit diesen oder aber zu einer Entfremdung von ihnen. Diese gegenseitige Beeinflussung der kindlichen und der elterlichen Interessen erschwert zwar die Entscheidungsfindung in Familienkonflikten zusätzlich, lässt sich aber nicht einfach ausblenden. Die Eltern sollten daher in ihrer besonderen Rolle in die Kindeswohl-Bestimmung Eingang finden.

Die Ziffer 12. des § 138 ist unverständlich. Soweit sie die finanziellen Verhältnisse anspricht, ist ihre Erwähnung bedenklich. Es sind bekanntlich die immateriellen Bedürfnisse des Kindes wesentlicher als materielle. Soweit sie „förderliche“ oder „angemessene“ Lebensverhältnisse meint, muss ein solches Adjektiv ergänzt werden.

Zu § 149 Abs 2:

Anstelle des Jugendwohlfahrtsträgers, der potentiell die Aufgabe der Überwachung der mütterlichen Obsorgeausübung hat, sollte zunächst eine neutrale Person, wie der Standesbeamte oder das Gericht, die Mutter darüber belehren, welche Folgen die Nichtfeststellung des Vaters für das Kind hat. Wenn die Gründe der Mutter allerdings nicht nachvollziehbar erscheinen, sollte die Jugendwohlfahrt eingeschaltet werden. Bei nachvollziehbaren Gründen (wie zB Vergewaltigung) ist es nicht geboten, die Mutter zusätzlich durch Einschaltung einer Kontrollbehörde zu belasten.

Namensrecht:

Zu begrüßen ist die Liberalisierung des Namensrechts im Sinne eines Zurücktretens des Staates und einer Stärkung der Privatautonomie in einem Bereich, dessen Ordnungsfunktion heute ohnehin nicht mehr im Vordergrund steht. ME hätte der Entwurf sogar noch weiter gehen können und zB gestatten, dass jeder Ehegatte den Namen des jeweils anderen an seinen Namen anhängt! Dies würde der Gleichberechtigung beider Partner besser entsprechen, da keiner der Namen eine Vorragstellung hätte, gleichzeitig bliebe die Ähnlichkeit ihrer Namen jedoch erhalten.

Positiv ist auch die Änderung, nach der mangels anderer Bestimmung bei Eheschließung die Namen der Ehegatten unverändert bleiben. Auch sie entspricht der Gleichbehandlung, während das geltende Recht hier noch der „altmodischen“ Annahme des Mannesnamens durch die Ehefrau verhaftet blieb (die zB in den südeuropäischen Ländern immer unbekannt war!).

Weiters begrüße ich ausdrücklich die Zweifelsregel, nach der ein Kind nun den Namen der Mutter erhält, wenn keine anderweitige Wahl getroffen wurde; dies ist nämlich nicht nur durch die Gleichbehandlung ehelich und unehelich geborener Kinder gerechtfertigt, sondern trägt mE auch dem Grundsatz „mater semper certa est“ Rechnung.

Problematisch erscheint mir jedoch das Fehlen einer Frist für die Bestimmung des Namens des Kindes,[7] da so vielleicht Jahre nach der Geburt ein Elternteil allein, ohne Kenntnis des anderen eine Bestimmung vornehmen kann. Für zeitlich stark gedehnte Namensänderungen ist außerdem durchaus das Verfahren nach NÄG ausreichend.

Verlegung des Wohnorts des Kindes ins Ausland (§ 162 Abs 3 Entwurf)

Soweit ersichtlich, ist die Möglichkeit einer nachträglichen Genehmigung des Gerichts – wenn das Kind also bereits im Ausland ist - nicht vorgesehen. Die Erläut sprechen aber selbst den Fall an, dass Gewalt der Grund für den Umzug ins Ausland sein kann.[8] In diesem Fall kann, insbesondere wenn der umziehende Elternteil in dem Land Fremder ist und über keine Familienangehörigen verfügt, ein Umzug in das Heimatland dieses Elternteils auch unverzüglich erfolgen müssen, ohne dass Zeit für die Erwirkung einer gerichtlichen Entscheidung bliebe. Es sollte daher im Gesetz klargestellt sein, dass ein Umzug, der aus objektiven Gründen keinen Aufschub duldete, auch ohne gerichtliche Genehmigung nicht illegal ist.

§ 183 Abs 2 Entwurf:

Nach Erreichen der Volljährigkeit des Kindes sollte der bisherige gesetzliche Vertreter, verpflichtet sein, unverzüglich das Vermögen und die persönlichen Dokumente des Kindes diesem auszuhändigen. Der Zeitpunkt ist ja im vorhinein absehbar und es gibt keinen Grund, Verzögerungen, die oft in nicht ganz korrekten Handlungen des Vertreters (zB „Ausborgen“ von Geld) ihre Ursache haben, zu dulden. Der Gesetzestext ist daher durch eine entsprechende Beifügung zu präzisieren.

Pflegeeltern (§ 185 Abs 3 Entwurf):

In dieser Bestimmung fehlt wie in § 138 die besondere Vorrangstellung der leiblichen Eltern! Wenn das Kindeswohl in beiden Familien gleich gewährleistet ist, sollte das Kind zu seinen Eltern zurückgeführt werden. Die Formulierung („wenn … entspricht“) legt nahe, dass die Übertragung der Obsorge nur dann aufzuheben ist, wenn das Kindeswohl dies gebietet, nicht schon dann, wenn es nicht entgegensteht. Übersehen wird auch hier, dass auch das Wohl der Eltern in gewissem Maß für das Wohl des Kindes Voraussetzung ist. Selbst wenn es dem Kind zu diesem Zeitpunkt bei den Pflegeeltern „an nichts gefehlt hat“, kann doch die spätere Kenntnisnahme vom Leiden der Eltern unter der Trennung Schäden beim Kind hervorrufen.

Unterhalt:

§ 231 Abs 4 verbietet Vereinbarungen zwischen den Eltern, nach denen im Innenverhältnis nur ein Elternteil die Unterhaltslast allein tragen soll. Dieses Verbot ist überschießend. Vor Zeugung des Kindes sollte aufgrund der allgemeinen Grundsätze der Privatautonomie eine derartige Vereinbarung unbedingt zulässig bleiben. Es könnte etwa die begüterte Mutter (in spe) dem Vater, der aus ärmlichen Verhältnissen stammt, wirksam versprechen, ihn vor späteren Belastungen mit Unterhaltspflichten zu schützen, und erst damit die Bereitschaft des Mannes, Vater zu werden, und damit die Geburt des Kindes ermöglichen. Die Vereinbarung bliebe außerdem sowieso der allgemeinen Sittenwidrigkeitskontrolle unterworfen (§ 879).

§ 231 Abs 4 sollte eingeschränkt werden auf „Vereinbarungen, … für den Unterhalt eines bereits gezeugten Kindes … “.

 



[1] Erläut 15.

[2] Erläut 11.

[3] In § 1686 BGB heißt es dann noch: „Über Streitigkeiten entscheidet das Familiengericht“.

[4] Vgl Erläut 26.

[5] Erläut 26.

[6] Erläut 4.

[7] Vgl Erläut 8.

[8] Erläut 23.