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Symposium

„Staats- und Verfassungskrise 1933“

 

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TONBANDABSCHRIFT

 

Montag, 4. März 2013

 

14.01 Uhr – 18.22 Uhr

Lokal VI

 

 

Beginn: 14.01 Uhr

Begrüßung

Präsidentin Mag. Barbara Prammer: Meine Damen und Herren! Herzlich willkommen! Ich würde fast sagen: zu einer Premiere. Wir haben ja wahrlich viele Veranstaltungen im Haus. Premiere in vielerlei Hinsicht, einerseits weil wir sehr offiziell, wenn man so will, uns in einem sehr gründlichen Ausmaß mit der Staats- und Verfassungskrise 1933 heute im Rahmen dieses Symposiums beschäftigen, und ich möchte mich eingangs sehr, sehr herzlich bedanken bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Parlamentsdirektion, denn es war deren Initiative, deren Wunsch, sich mit den Geschehnissen rund um 1933, aber natürlich nicht nur um 1933 zu beschäftigen.

Seit vielen Jahren wird versucht, mit unserem Archiv natürlich, sehr intensiv zu arbeiten, und es ist ja auch vieles geschehen in den letzten Jahren, und daher glaube ich, sollten diese 80 Jahre auch im Rahmen eines Symposiums in den Mittelpunkt gestellt werden, und da wirklich noch einmal meinen herzlichen Dank.

Ich habe gemeinsam mit Kollegem Neugebauer eingeladen, den ich für heute entschuldigen muss, weil er auf Auslandsreise ist. Er ist mit einer Delegation im Ausland und kann daher nicht anwesend sein. Ich darf einige zunächst einmal unter Ihnen auch namentlich begrüßen, den Präsidenten des Bundesrates Edgar Mayer. Herzlich willkommen! (Beifall.) Der Präsident des Verwaltungsgerichtshofes Dr. Clemens Jabloner sitzt bereits am Podium. (Beifall.) Er ist nicht nur als Ehrengast, sondern auch als Diskutant hier.

Ich begrüße meinen Vorgänger, Nationalratspräsident außer Dienst Dr. Andreas Khol, sehr herzlich. (Beifall.)

Der Klubobmann der ÖVP ist hier, Karl Heinz Kopf. Herzlich begrüßt! (Beifall.) Und ich begrüße die beiden früheren Präsidenten und Präsidentinnen des Bundesrates Annelie Haselbach und Herwig Hösele sehr herzlich. (Beifall.)

Der Parlamentsdirektor ist anwesend, den ich natürlich auch recht herzlich begrüße, und, der ich ganz besonders Danke sage, und die auch heute die Moderation übernommen hat, ist die Vizedirektorin Dr. Susanne Janistyn. Es ist selten genug, aber heute begrüßen wir Sie ganz ausdrücklich. (Beifall.)

Wir haben ein sehr, sehr hochkarätiges Podium auf zwei Runden eingeladen. Ich glaube, es würde jetzt fast den Rahmen sprengen, alle dementsprechend auch zu präsentieren. Das wird ja, glaube ich, auch im Rahmen der Moderation noch gemacht werden. In der ersten Runde Frau Professor Dr. Ilse Reiter-Zatloukal, Dr. Helmut Wohnout, Dr. Ewald Wiederin; Dr. Clemens Jabloner habe ich schon erwähnt.

Herzlichen Dank Herrn Universitätsprofessor Dr. Anton Pelinka, der den zusammenfassenden Kommentar machen wird, sich dafür zur Verfügung gestellt hat, und am Nachmittag zum Thema „Wirtschafts- und europapolitische Verortung der Ereignisse“ ebenfalls eine sehr, sehr interessante großartige Runde. Lediglich Frau Dr. Helene Schuberth muss ich schon jetzt entschuldigen; sie ist erkrankt und kann daher nicht da sein. Und auch hier herzlichen Dank ganz besonders an Universitätsprofessor Dr. Ernst Bruckmüller, der den zusammenfassenden Kommentar für den zweiten Teil machen wird.

Ich mache auch bereits darauf aufmerksam, dass wir dieses heutige Symposium auch dokumentieren werden, sodass nicht nur all jene, die heute hier sind, nachlesen werden können, sondern auch andere Interessierte, die bei Zeiten auch hier die Möglichkeit dazu vorfinden werden.

Lassen Sie mich ein paar Eingangsbemerkungen machen. Ich glaube, dass dieses Symposium sehr zur Bewusstseinsbildung beitragen wird und beitragen will, vor allen Dingen auch die historischen Ereignisse, und um diese Zeit, die Zeit 1933 bis 1938, die Sensibilisierung gegen antidemokratischen Strömungen. Auch am Beginn eines neuen Jahrtausends ist es immer wieder notwendig, diese Sensibilisierung auch dementsprechend voranzutreiben.

80 Jahre danach ist unbestritten eine lange Zeit, und es ist auch 80 Jahre danach festzuhalten oder gerade 80 Jahre danach festzuhalten, dass der 4. März 1933 kein Zufall war und auch nicht die propagierte „Selbstausschaltung des Parlaments“. Das hat sich ja lange gehalten: „Selbstausschaltung des Parlaments“.

Natürlich wissen wir, dass später die Nationalratsgeschäftsordnung geschärft wurde, um ähnliche Situationen von vornherein auszuschließen. Aber ich habe auch mit großem Interesse, und viele von Ihnen werden es auch getan haben, die alte Geschäftsordnung von damals gelesen. Es wäre auch damals die Möglichkeit bestanden, natürlich parlamentarisch die Arbeit fortzusetzen. Das war aber nicht möglich aus ganz anderen Umständen. Und die kennen wir auch alle. Wenn der Zutritt natürlich zum Haus verwehrt bleibt, und damit war der 4. März die wesentliche Etappe hin zu dem bewusst verfolgten Ziel einer autoritären Gesellschaft.

Ich halte die Auseinandersetzung mit der Ersten Republik und mit der Zeit 1933/1934 deshalb für so wichtig, weil sie uns lehrt, dass Parlament und Demokratie keine Selbstverständlichkeit sind und dass sie immer wieder neu auch verteidigt werden müssen. Und an diese Feststellung möchte ich anknüpfen, wenn es darum geht, die Bedeutung des 4. März 1933 in die heutige Zeit einzuordnen.

Schließlich – und das sei hervorgehoben – kann und wird jede Frage, die wir heute an unser Verständnis von Demokratie und Rechtsstaat stellen, ohne das Wissen um die Zeit der Ersten Republik schlichtweg nicht auskommen. Es ist ein Auftrag an uns alle, sich mit unserer eigenen Geschichte, nicht nur mit der Geschichte des Nationalsozialismus, sondern auch mit der Zeit davor intensiv auseinanderzusetzen.

Ich bin schon sehr froh darüber, dass es uns gelungen ist, im Laufe des Jahres 2011, es waren drei Parteien sehr intensiv damit beschäftigt, mein Kollege Neugebauer und ich gemeinsam auch mit einem Vertreter, kann ich auch sagen, Herrn Mag. Steinhauser der Grünen, dass wir zustande gebracht haben den Beschluss des Aufhebungs- und Rehabilitierungsgesetzes, das seit 2012, also seit dem vergangenen Jahr in Kraft getreten ist. Ich glaube, das ist ein wesentliches, wichtiges Zeichen gewesen.

Es hat viele Diskussionen im Vorfeld gegeben in den verschiedenen Lagern, um das jetzt einmal so zu sagen, aber diese vielen heftigen Diskussionen haben dazu geführt, dass wir heute schon mit großer Zufriedenheit auf dieses Gesetz schauen können, dass es uns tatsächlich gelungen ist, nachträglich hier sehr spät, aber eben doch, Gerechtigkeit walten zu lassen.

Es ist auch ein Auftrag, eine stete grundlegende Reflexion über die Werte der Demokratie und des Parlamentarismus zu führen, und es ist ein politischer Auftrag, nicht in die Selbstverständlichkeit zu verfallen, nicht alles als selbstverständlich zu betrachten, sondern bewusst zu reflektieren, bewusst einzuordnen, bewusst die Auseinandersetzungen auch zu führen.

Die Demokratie ist mehr als die Summe der Institutionen einer Verfassung. Das brauche ich Ihnen hier ganz sicher nicht sagen, aber unsere Prinzipien, die Toleranz, Respekt vor Minderheiten, Achtung der Grund- und Freiheitsrechte, Zivilcourrage und dem festen Bekenntnis, sich für diese Prinzipien einzusetzen, wird hoffentlich nicht nur heute, sondern auch in Zukunft gelten.

Dieses Symposium wird hoffentlich vielen, die sich zwar mit dem Thema regelmäßig beschäftigen, viele interessieren, aber ich wünsche mir natürlich auch sehr, dass viele, die sich mit der Zeit bislang weniger auseinandergesetzt haben, hier Grundlagen vorfinden werden, um zu diskutieren, um sich Wissen anzueignen, um Bewusstsein zu erweitern.

Ich halte Sie nicht länger auf, denn Sie sind alle neugierig, was die Referentinnen und Referenten hier zu sagen haben. Ich werden einen Großteil dessen, was heute hier gesagt wird, nachlesen, weil ich so wie andere auch an einem Tag nach dem gestrigen so manches andere auch zu tun habe. Der 4. März lässt sich nicht verlegen. Wir wollten bewusst den 4. März wählen, obwohl uns klar war, dass am Vortag Wahlen sind. Ich persönlich bin auch verhindert, weil wir einen Staatsgast hier im Parlament empfangen, und Sie werden es mir nachsehen. Sie können ganz sicher sein, dass ich mit großem Interesse nachlesen werden, was heute hier auch alles gesagt wird. Einen spannenden Nachmittag! (Beifall.)

*****

Parlamentsvizedirektorin Dr. Susanne Janistyn: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im März jähren sich einige Daten, die die österreichische Geschichte maßgeblich geprägt haben und bis heute Gegenstand des politischen Diskurses sind. Genau vor 80 Jahren – die Frau Präsidentin hat schon darauf hingewiesen – wurde hier im Parlament auf Verlangen der Sozialdemokraten eine Sondersitzung abgehalten. Anlass dieser Sitzung war der Eisenbahnerstreik wenige Tage zuvor, der sich gegen die Auszahlung der Eisenbahnerlöhne in Raten richtete. Außerdem befürchteten die Eisenbahner, dass dadurch nicht der gesamte Lohn bezahlt würde. Die daraufhin gegen die Streikenden verhängten Sanktionen reichten bis zu Entlassungen.

In der dramatischen Sitzung vom 4. März 1933 verlangten die Sozialdemokratische und die Großdeutsche Partei die Rücknahme der Maßnahmen, während die Christlichsozialen das Vorgehen der Generaldirektion der Bundesbahnen unterstützten, die die Löhne in Tranchen auszahlen wollte.

Bei der Abstimmung über diese Anträge führte ein Abstimmungsfehler zu unüberbrückbaren Differenzen, in deren Folge die drei Präsidenten des Nationalrates Dr. Karl Renner, Dr. Rudolf Ramek und Dr. Sepp Straffner ihr Amt zurück legten. Die Sitzung blieb unterbrochen.

Bereits am 7. März wurden im Hauptausschuss Versuche unternommen, den verfassungs- und geschäftsordnungsmäßigen Zustand wieder herzustellen. Es blieb beim Versuch. Die unterschiedlichen politischen Positionen waren zementiert, bereits zu diesem Zeitpunkt.

Doch als am 15. März Präsident Straffner die Sitzung einberufen wollte, wurden die Abgeordneten am Zutritt zum Parlament durch die Polizei gehindert. Die Bundesregierung unter Bundeskanzler Dollfuß nahm die Situation zum Anlass, auf Basis des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes von 1917 gesetzliche Regelungen unter Umgehung des Parlaments zu erlassen.

Auf der Grundlage des Notverordnungsrechtes wurden auch die Grund- und Freiheitsrechte und die Befugnisse des Verfassungsgerichtshofes eingeschränkt.

Die Kommunistische Partei und die NSDAP wurden verboten.

Der Bürgerkrieg im Februar 1934, das Verbot der Sozialdemokratischen Partei, die Verbringung politischer Gegner in Anhaltelager und die Ausschaltung des Parlaments wird von vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als „Putsch auf Raten“ und als „Verfassungsbruch“ bezeichnet.

Der Weg in die Diktatur gipfelte in der neuen berufsständisch autoritären Bundesverfassung, in der das Recht nun nicht mehr vom Volk ausging, sondern dem Volk „im Namen Gottes“ gegeben wurde. Die Verfassung wurde von Bundeskanzler Dollfuß am 1. Mai 1934 proklamiert.

Die Ständestaatsdiktatur konnte aber letztendlich die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten am 12. März 1938 nicht verhindern.

Der erste Teil des heutigen Symposiums wird sich mit der Demokratiekrise und den Staatsentwürfen befassen, der zweite Teil setzt sich inhaltlich mit der wirtschaftlichen und europapolitischen Dimension der historischen Ereignisse auseinander. Dafür konnten renommierte Expertinnen und Experten gewonnen werden, bei denen ich mich ganz herzlich für die Teilnahme bedanke. Sie werden heute jene Baustein herauszuarbeiten versuchen, die für einen demokratisch verfassten Staat unabdingbare Grundlage sind.

Ich darf Ihnen nun im Einzelnen, meine sehr geehrten Damen und Herren, die Referenten kurz vorstellen. Es bestehen die Biographien, die ich hier vortrage, aber aus mehr Auslassungen als Angaben.

Frau Universitätsprofessorin Dr. Ilse Reiter-Zatloukal ist stellvertretende Vorständin des Instituts für Rechts- und Verfassungsgeschichte an der Universität Wien. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt unter anderem auf der Rechts- und Verfassungsgeschichte Österreichs im 19. und im 20. Jahrhundert, insbesondere der Periode des Ständestaates und des Nationalsozialismus, aber sie befasst sich auch mit Geschlechterdemokratie. Im letzten Jahr brachte sie eine Publikation über „Österreich 1933 bis 1938“ heraus, eine interdisziplinäre Annäherung an das Dollfuß-Schuschnigg-Regime.

Herr Privatdozent Dr. Helmut Wohnout lehrt am Institut für Geschichte an der Universität Graz, an der er sich auch habilitierte. Daneben ist er Geschäftsführer des Karl-Vogelsang-Institutes, um nur seine wissenschaftliche Karriere zu skizzieren. Er verfasste zahlreiche Publikationen zu Geschichte und Politik des 19. und 20. Jahrhunderts, darunter auch das Buch „Regierungsdiktatur oder Ständestaat, Gesetzgebung im autoritären Österreich“ und ist Herausgeber des Jahrbuchs „Demokratie und Geschichte“.

Herr Universitätsprofessor Dr. Ewald Wiederin ist seit 2009 am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Wien. Als Mitglied des Österreich-Konvents, von 2003 bis 2005, beschäftigte er sich unter anderem mit der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern und brachte darüber hinaus eine Expertise als Mitglied der Expertengruppe in den Diskussionsprozess zur Staats- und Verwaltungsreform. Die aktuellen Forschungsschwerpunkte von Professor Wiederin befassen sich mit Staatsorganisationsrecht, dem Allgemeinen Verwaltungsrecht sowie der Geschichte des öffentlichen Rechts. Mit der Verfassung 1934 hat er sich in einem eigenen Buch auseinander gesetzt.

Herr Universitätsprofessor Dr. Clemens Jabloner ist, wie bereits berichtet, seit 1993 Präsident des Verwaltungsgerichtshofes. Als Vorsitzender der Österreichischen Historikerkommission von 1998 bis 2003 widmete er sich der Aufarbeitung der Folgen des nationalsozialistischen Regimes. 2006 wurde er zum Doktor honoris causa an der Universität Salzburg ernannt. Er leitet als Geschäftsführer das Hans-Kelsen-Institut. Seine Publikationen gehen immer wieder auf Rechtstheorie, öffentliches Recht und österreichische Rechtsgeschichte ein.

Last but not least: Herr Professor Dr. Anton Pelinka. Seine wissenschaftliche Karriere führte ihn an viele Universitäten, und zwar weltweit. Brüssel, Michigan, Stanford, New Orleans, New Delhi, Berlin, Essen und das Kollegium Budapest sind nur einige Stationen. In Innsbruck war er Dekan der politikwissenschaftlichen und soziologischen Fakultät. Bis September vergangenen Jahres leitete er als Direktor das Institut für Konfliktforschung in Wien. In einigen Büchern, die Klassiker geworden sind, analysiert er das politische System Österreichs, die politischen Parteien und die Demokratie.

Ich danke, Frau Professorin Reiter-Zaplokal und den Referenten ganz herzlich für ihre spannenden Beiträge ebenso wie Professor Pelinka für die Zusammenfassung, die er vornehmen wird, und ich nehme an, dass die Beiträge auch dann in der späteren Pause auch zu weiteren Diskussionen anregen werden.

Frau Professorin, ich darf Sie bitten.

*****

„Parlamentarismus im Fadenkreuz – Demokratiekonzepte in Österreich 1918 bis 1933/34“

Universitätsprofessorin Dr. Ilse Reiter-Zatloukal (Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte): Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte Sie einladen, mir bei einem kurzen Überblick über die Demokratiekonzepte in Österreich von 1918 bis 1933/34 zu folgen. Das kann natürlich nur in der Kürze der Redezeit gleichsam holzschnittartig sein, aber wird sicher das eine oder andere im Gedächtnis auffrischen.

Beginnen möchte ich, wie es in diesem Haus irgendwie naheliegend ist, mit einem Zitat Hans Kelsens, das wie folgt lautet:

Demokratie ist das die Geister im 19. und 20. Jahrhundert fast allgemein beherrschende Schlagwort. Gerade darum aber verliert es wie jedes Schlagwort seinen festen Sinn, weil man es, dem politischen Modezwang unterworfen, zu allen möglichen Zwecken und bei allen Möglichkeiten benützen zu müssen glaubt, nimmt dieser missbrauchteste aller politischen Begriffe die verschiedensten, oft sehr widersprüchlichen Bedeutungen an. – Zitatende.

In der Tat wurde der Begriff „Demokratie“ gerade in der Zwischenkriegszeit vielschichtigst verwendet, was ich im Folgenden skizzieren möchte. Als Vergleichsmaßstab soll aber zunächst weiter Hans Kelsen und die Verfassung von 1920 dienen. Die Verfassung legt ja in Artikel 1 bekanntlich fest: „Österreich ist eine demokratische Republik.“

Da für einen modernen Staat jedoch die unmittelbare direkte Demokratie praktisch unmöglich ist, stellt deren reale Form nach der österreichischen Verfassung die des Parlamentarismus dar. Daher auch mein Titel „Parlamentarismus im Fadenkreuz“.

Nach Kelsen ist die Demokratie der Idee nach eine Staats- oder Gesellschaftsform, bei der die soziale Ordnung durch die ihr Unterworfenen erzeugt wird, also eine Herrschaft des Volkes über das Volk. Das Volk muss jedoch in einem modernen großräumigen Staat durch RepräsentantInnen vertreten werden, die ihrerseits der demokratischen Legitimation durch allgemeine und gleiche Wahlen bedürfen.

Ein zentrales Element des Parlamentarismus und der Demokratie nach unserer Bundesverfassung stellen daher die politischen Parteien dar, denn ohne sie kann, so Kelsen, das isolierte Individuum keinen wirklichen Einfluss auf die Staatswillensbildung gewinnen. Und daher dient nach Kelsen – ich zitiere – eine Haltung, die sich gegen die Parteibildung und sohin letztlich und eigentlich gegen die Demokratie richtet, bloß politischen Kräften dienend, die auf Alleinherrschaft eines einzigen Gruppeninteresses zielen und sich ideologisch als wahres oder wohl verstandenes Gesamtinteresse tarnen.

Die Demokratie aber als Parteienstaat will den Gemeinschaftswillen nur als Resultante der verschiedenen Parteiwillen entstehen lassen, also in ständigem Konflikt und in ständiger Kompromissbildung.

Demokratie und Parlamentarismus sind freilich nicht identisch, aber da der Parlamentarismus eben die einzige reale Form der modernen Demokratie darstellt, war – ich zitiere hier Hans Kelsen nochmals – die Entscheidung über den Parlamentarismus zugleich die Entscheidung über die Demokratie.

Was waren die den Diskurs der Ersten Republik prägenden Demokratieverständnisse der Parteien?

Zunächst zur Sozialdemokratie, die sich ja schon im 19. Jahrhundert zum demokratischen Weg der Machteroberung im Staat und damit grundsätzlich zum Parlamentarismus bekannt hatte. Die Sozialdemokratie lehnte daher auch 1918 den revolutionären Weg zum Sozialismus, trotz mancher radikalen Phrase, grundsätzlich ab. So verurteilte sie etwa die – Zitat – „blutige Republikausrufung“ am 12. November 1918 durch kommunistische Gruppen, die ja die Ausrufung der Sozialistischen Republik, der Räterepublik erzwingen wollten.

Die „AZ“ titelte am Tag danach – Zitat –:

Wir haben jahrzehntelang um die Demokratie gekämpft. Jetzt endlich hat dieses Prinzip gesiegt. Jetzt gilt es, nicht zu zerstören, was wir erringen haben. Jetzt gilt es, die Rechte, die die Demokratie uns gibt, zu gebrauchen, die Mehrheit des Volkes für den Sozialismus zu gewinnen, damit aus dem Willen der Volksmehrheit die sozialistische Gesellschaftsordnung hervorgehe. – Zitatende.

Eine gewisse Ausnahmeposition in der Sozialdemokratie nahm der sozusagen Linkssozialist Max Adler ein, dessen Positionen aber, so hat es jedenfalls Trotzki bezeichnet, bloß eine „literarische Opposition“ dargestellt haben. Dass Max Adler als Vorkämpfer des Rätegedankens in Österreich gilt, ist vor allem auf seine interessante Schrift „Demokratie und Rätesystem 1919“ zurückzuführen. Diese Schrift hat Adler verfasst – Zitat –,

um dem verderblichen Schlagwort von der Räterepublik,

also dem kommunistischen Modell der direkten Rätedemokratie,

entgegen zu treten.

Gleichzeitig hat diese Schrift aber auch die weitestgehende Anpassung sozialdemokratischer Politik an das revolutionäre Bewusstsein der Arbeiterschaft dargestellt. Adler wollte nämlich unter anderem die 1918 in Österreich entstandenen Arbeiterräte als revolutionäre Übergangsform verfassungsrechtlich verankern. Als Alternative zur Räterepublik schlug er die Schaffung einer gleichsam Doppelherrschaft von sozialistischen Arbeiterräten und einer nach allgemeinem und gleichem Wahlrecht gewählten Nationalversammlung vor. Dieses Zweikammern-System sollte dazu dienen, um in Zeiten – ich zitiere Adler –

der Ungeduld und Undiszipliniertheit der Massen die Revolution in eine geordnetere, weniger selbstzerstörende Bahn zu lenken und die Arbeiterschaft mit der Aufrechterhaltung des bürgerlichen Parlamentarismus zu versöhnen.

Bei den Sozialdemokraten konnte er sich freilich Max Adler, gleichsam das „Enfant terrible“ der Partei, wie ihn Friedrich Adler einmal nannte, nicht durchsetzen mit dieser Position. 1918/1919 bestand das Interesse der Parteiführung freilich zunächst ebenso wie bei Adler darin, die bolschewistische Gefahr unter Kontrolle zu bringen. Die Rätediktatur beziehungsweise die bolschewistische, die Variante des russischen Bolschewismus, lehnte Otto Bauer bekanntlich explizit ab und den Arbeiterräten wies er, im Unterschied zu Max Adler, keinerlei Rolle zu.

Die austromarxistische Lösung hieß vielmehr: Selbstbeschränkung des Proletariats auf die bürgerliche parlamentarische Demokratie. Sie wurde damals als ausreichende Voraussetzung dafür gesehen, dass – ich zitiere –

in planmäßiger, organisierter Arbeit von einem Schritt zum anderen zielbewusst fortschreitend die sozialistische Gesellschaft allmählich aufgebaut werde.

Kurz gefasst waren für Otto Bauer Demokratie und Parlamentarismus „Waffen im Klassenkampf“. Das Parlament sollte – das sind alles Zitate – zum Machtinteresse der Arbeiterklasse und zum Vollzugsorgan des proletarischen Umwälzungswerkes werden. Zur Gewalt dürfe allerdings das Proletariat nur greifen, wenn die Bourgeoisie selbst die Demokratie zu vernichten drohe.

Daher enthielt auch das auf Otto Bauer zurückgehende Linzer Parteiprogramm von 1926 ein Bekenntnis zur Demokratie nach Eroberung der Herrschaft in der demokratischen Republik.

Ich zitiere:

Die sozialdemokratische Arbeiterpartei wird die Staatsmacht in den Formen der Demokratie und unter allen Bürgschaften der Demokratie ausüben. Wenn sich aber die Bourgeoisie gegen die gesellschaftliche Umwälzung, die die Aufgabe der Staatsmacht der Arbeiterklasse sein wird, durch planmäßige Unterbindung des Wirtschaftslebens, durch gewaltsame Auflehnung, durch Verschwörung mit ausländischen gegenrevolutionären Mächten widersetzen sollte, dann wäre die Arbeiterklasse gezwungen, den Widerstand der Bourgeoisie mit den Mitteln der Diktatur zu brechen. – Zitatende.

Otto Bauer versuchte damit freilich, eine Brücke zwischen revolutionärem Sozialismus und reformistischer Sozialdemokratie zu schlagen.

Rezipiert in der bürgerlichen Öffentlichkeit wurde vom Linzer Parteiprogramm freilich primär der klassenkämpferische Ton, und die Drohung mit der Diktatur wirkte allgemein als ein effektiver Bürgerschreck, obwohl sie ja eigentlich als Notwehrakt formuliert war.

Bauer betonte auch immer wieder, dass der eigentliche Zweck der Wehrbarkeit des Proletariats ja eigentlich nur darin bestand, es gar nicht erst zu einer Situation kommen zu lassen, in der man zur Diktatur greifen müsse.

Tatsächlich hat sich die austromarxistische Politik in der Zwischenkriegszeit stets durch einen mehr oder weniger verbalen Radikalismus ausgezeichnet – bei gleichzeitiger Konzessionsbereitschaft in der Realpolitik. Die Drohung mit der Diktatur war also, könnte man letztlich sagen, nur ein Bluff, der aber nicht aufging, weil der Gegner nicht auf die gleichsam historische Entscheidungsschlacht setzte, sondern auf die Strategie der Untergrabung sozialdemokratischer Positionen, bis ein entsprechendes Kräfteverhältnis den Vernichtungsschlag 1934 erlaubte.

Angesichts der Bedrohung durch den Nationalsozialismus rief Bauer dann auch immer wieder explizit dazu auf, die Demokratie vom Jahr 1918 zu verteidigen und der kommenden Generation gesichert zu übergeben. Freilich gab Otto Bauer mit seiner Verweigerung einer großen Koalition 1933 letztlich doch die Demokratie kampflos preis.

Die Haltung der Christlichsozialen zur Demokratie oszilliert in der Zwischenkriegszeit zwischen einerseits Kritik und andererseits mehr oder weniger heftiger Ablehnung, wobei die demokratische Republik zunehmend mit den Sozialdemokraten identifiziert wurde. Maßgeblich beeinflusst wurden die demokratiepolitischen Positionen der Christlichsozialen naturgemäß von Ignaz Seipel, der 1918 noch klar dafür eingetreten war, die Republik anzuerkennen und eine demokratische Verfassung anzunehmen, um damit letztlich aber auch die Herrschaft der Diktatur einer einzelnen Klasse zu verhindern.

1926 bekannten sich die Christlichsozialen in ihrem Programm noch eindeutig zu ihrem demokratischen Staat. Ein Jahr später stellte Seipel allerdings bereits explizit fest – Zitat –:

Wir haben im Parlament keine richtige Demokratie.

Die Schuld an der parlamentarischen Krise wies er Sozialdemokraten zu, weil sie die Christlichsozialen – Zitat –

oft auf eine längere Zeit zu einem gänzlich unfruchtbaren Kampf im Parlament zwingen würden.

Im Sinne einer wahren, richtig verstandenen Demokratie müsste daher zunächst die repräsentative Demokratie mit Elementen der unmittelbaren Demokratie durchsetzt werden. Die Wurzel des Übels in der realen österreichischen Demokratie liege eindeutig in der Parteienherrschaft und gerettet werde, so Seipel,

die Demokratie von demjenigen, der sie von der Parteienherrschaft reinigt und wiederherstellt.

1930 konkretisierte Seipel dann erstmals seine wahre Demokratie als diejenige Regierungsform, die – Zitat –

Autorität und Freiheit nach Möglichkeit miteinander vereinigt. Und je mehr Freiheiten sie dem Volk geben will, umso fester muss die Autorität begründet sein. Dem Volk und seinen Organisationen müsste die größtmögliche Autonomie eingeräumt werden, deren Ausübung nur der obersten Kontrolle der Staatsregierung und Gesetzgebung unterworfen sein dürfe.

Seipel sprach sich auch gegen die atomistische Staatsauffassung aus, der das allgemeine gleiche Wahlrecht entspringe, denn der Staat war, so Seipel,

gesünder und besser geordnet, wenn er seine Bürger auf dem Umweg über ihre Familien und Berufsstände erfasst.

Im Zusammenhang mit Seipels grundsätzlicher Entfremdung von der modernen demokratischen Demokratie stammt auch seine Annäherung an die Heimwehr-Bewegung, die er ja bereits 1928 als

Verteidiger der wahren beziehungsweise reinen Demokratie

bezeichnete, denn nur sie, die Heimwehr, könne die Demokratie von der Parteienherrschaft befreien.

Seipels Nachfolger Engelbert Dollfuß berief sich dann für seine demokratische Einstellung auf seine Abstammung aus der Bauernschaft, die als wahre Demokratie die harmonische Einheit von Führern und Herrschaftsunterworfenen betrachtete.

Die von Seipel als „Verteidiger der wahren Demokratie“ bezeichneten Heimwehren lehnten bekanntlich die parlamentarische Demokratie strikt ab. So hieß es ja im Korneuburger Eid der Heimwehr von 1930 explizit – Zitat –:

Wir verwerfen den westlichen parlamentarischen Demokratismus und den Parteienstaat. Wir wollen an seine Stelle die Selbstverwaltung der Stände setzen und eine starke Staatsführung, die nicht aus Parteienvertretern, sondern aus den führenden Personen der großen Stände und aus den fähigsten und bewährtesten Männern unserer Volksgemeinschaft gebildet wird. – Zitatende.

Für Walter Heinrich, einen der intellektuellen Führer der Heimwehr, ging das parlamentarische System ohnedies – Zitat –

mit Riesenschritten seiner Auflösung entgegen.

Ein paar Verbesserungen hie und da, wie bei der Verfassungsgesetz-Novelle 1929, würden überhaupt nichts bringen. Es sei unmöglich, so schrieb er, einen zu innerst Erkrankten gesund zu machen, wenn man ihm frische Wäsche anzieht.

Die parlamentarisch-parteiische Demokratie war für Heinrich überhaupt nur eine „Täuschung“ und ihr Ideal, Gleichheit und Führerlosigkeit, niemals zu verwirklichen. Der Versuch ihrer Verwirklichung würde vielmehr Volk, Staat und Wirtschaft zerstören.

Der Parteienstaat müsse dementsprechend durch einen Ständestaat ersetzt werden, dessen Prinzipien die organische Ungleichheit der Gruppen und die Führung durch den Sachkundigen sein.

Autoritärer Ständestaat und politisches Parteiensystem standen nach Heinrich folglich – Zitat –

zueinander wie Feuer und Wasser; entweder das eine oder das andere.

Ein weiterer wesentlicher Faktor für das Demokratieverständnis der Heimwehr war, dass viele ihrer Protagonisten der Front-Generation angehörten, die den Gehorsam, nicht aber den zur modernen Demokratie gehörenden Konflikt und den darauf folgenden Konsens als positiv ansahen.

Aus dem Trümmerhaufen des parlamentarischen Österreichs sollte daher das Führerprinzip heraus wachsen. Für Rüdiger von Starhemberg war – Zitat –

der faschistische Ständestaat, der Autoritätsstaat überhaupt, im wahrsten Sinne des Wortes die allerdemokratischste Form, die man sich denken kann, weil ja das Volk ein Recht darauf hat, eine Regierung zu haben, die es davor schützt, falsch geführt zu werden. – Zitatende.

Die Heimwehr vertrat also ein Demokratieverständnis, das stark der so genannten Führerdemokratie entspricht, die in der Wahrung des Besten für das Volk von diesem einem Führer übertragen erscheint.

Ich komme nun zum Ende der mir auch gesetzten Redezeit.

Nach der überraschenden Gelegenheit zur Ausschaltung des Parlaments versuchte die Regierung schließlich, aus den verschiedenen autoritären und berufsständischen Vorstellungen ein tragfähiges Amalgam zu schaffen. Ergebnis war die Verfassung 1934, der ja nicht nur, wie wir schon gehört haben, die demokratische Legitimation selbst fehlte, sondern der auch andere wesentliche Kernelemente einer modernen Demokratie fehlten.

Vielmehr sollte der geistige und politische Irrwahn der letzten 150 Jahre liberalen und demokratischen Denkens durch die propagierte wahre Demokratie wieder gut gemacht werden.

Das, was mit der Verfassung 1934 dann allerdings geboten wurde, entsprach nicht diesen Vorstellungen, sondern allenfalls einer bloßen ständischen, man kann sagen, einer Fassadendemokratie. Und selbst diese Fassadendemokratie wurde nicht realisiert, weil das den Berufsständen zugeschriebene demokratische Element kaum zur Umsetzung kam.

Wie Adolf Merkel 1935 feststellte, lag die Todesursache der modernen österreichischen Demokratie – ich zitiere –

letztlich darin, dass sie eine Demokratie ohne geschulte und überzeugte Demokraten, ja vielleicht überhaupt ohne Demokraten war.

Die Demokratie habe für die Parteien vielmehr nur die rechtliche Plattform dargestellt – Zitat –,

aus der man die Gefahr der Diktatur der Anderen abzuwehren können glaubte.

Ein fundamentaler Konsens über Demokratie und Verfassung bestand nicht. Zu unterschiedlich waren die Vorstellungen der Parteien darüber, was Demokratie sein sollte.

Die Konsequenz, kann man sagen, waren die folgenden Diktaturen. – Ich danke. (Beifall.)

*****

Parlamentsvizedirektorin Dr. Susanne Janistyn: Vielen Dank, Frau Reiter-Zatloukal. Frau Reiter-Zatloukal hat darüber gesprochen, wie unterschiedlich die Vorstellungen und die Verwendung des Begriffes „Demokratie“ waren.

Ich darf nunmehr Herrn Dr. Helmut Wohnout um sein Referat ersuchen.

*****

„Etappen auf dem Weg Österreichs in die Diktatur“

Priv. Doz. Dr. Helmut Wohnout (Universität Graz, Institut für Geschichte): Herr Präsident des Bundesrates! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wie Sie schon aus dem Titel meiner Ausführungen „Etappen auf dem Weg zur Diktatur“ erkennen können, nämlich darin das Ergebnis jenes Prozesses, der mit dem 4. März 1933 angestoßen wurde, vorweg. Dieser führte in eine autoritäre Regierungsdiktatur, vielleicht noch präziser formuliert, in eine Kanzlerdiktatur auf Grund der enormen Kompetenzfülle, die der Bundeskanzler durch die Verfassung 1934, aber vor allem auch durch ihre Übergangsbestimmungen in der politischen Wirklichkeit der Jahre bis 1938 in seiner Hand vereinigte.

In den folgenden Ausführungen geht es mir nun darum, skizzenartig jener Entwicklung vor allem auf Regierungsseite nachzugehen, die in den ersten Monaten nach dem Ende des Parlamentarismus den Weg in diese Diktatur ebnete. Es gab dabei keinen Masterplan, nach dem man Zug um Zug vorgeht. Es verhielt sich vielmehr wie bei einem Schneeball, der von einer ursprünglich noch relativ begrenzten Verfassungsreform zu einer diktatorischen Lawine anschwoll.

Dabei ist es mir wichtig, die Entwicklung nicht nur innenpolitisch isoliert zu betrachten, sondern im Rahmen der internationalen Konstellationen ein wenig zu kontextualisieren, wobei ich mich auch auf Grund des engen Zeitkorsettes auf einige Anmerkungen im Hinblick auf Deutschland und Italien beschränken werde.

Für die führenden Männer der Regierung, also die christlichsozialen Parteispitzen rund um Kanzler Dollfuß, stand bereits unmittelbar nach den Ereignissen vom 4. März fest, nun eine Zeit lang ohne Parlament zu regieren. Das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz von 1917, erstmals im Oktober 1932, wieder zur Anwendung gebracht bot dazu die bekannt problematische Handhabe.

Der Entschluss, unter Preisgabe der demokratischen Institutionen einen kompletten Staatsumbau und eine neue Verfassung anzustreben, war zu diesem Zeitpunkt aber noch keineswegs gefasst. Man wollte vielmehr die Gelegenheit zu einer anfangs noch eingeschränkten Verfassungsnovelle sowie einer Geschäftsordnungsreform des Nationalrates nützen.

Grob gesagt ging es um die Einrichtung eines Länder- und Ständerates und vor allem um die Ausweitung des Notverordnungsrechtes des Bundespräsidenten.

Am 7. März 1933 veranschlagte Dollfuß dafür einen Zeitraum von sechs bis acht Wochen.

Die Regierung hatte den Zeitpunkt der Wiedereinberufung des Nationalrates als Druckmittel gegenüber der sozialdemokratischen Opposition in der Hand. Solcherart wollte man zumindest jenen Forderungen zum Durchbruch verhelfen, mit denen man bei der Verfassungsreform 1929 nicht durchgekommen war.

Auch wenn also die christlichsozialen Spitzen der Regierung noch nicht einen kompletten Bruch mit der bestehenden Verfassung im Auge hatten, so waren sie sich doch darüber im Klaren, mit ihrer Vorgangsweise die Grenzen der verfassungsmäßigen Legalität überschritten zu haben. Wenn für das Vaterland Gefahr bestehe, erlaube die katholische Moral auch Gesetzesbrüche; so rechtfertigte Richard Schmitz das Vorgehen der Regierung gegenüber dem christlichsozialen Klubvorstand am 7. März.

Auf jeden Fall wollte man Neuwahlen, wie sie seit dem Regierungsantritt von Dollfuß und der damit verbundenen Hereinnahme der Heimwehr in das Kabinett vehement von der Sozialdemokratie gefordert waren. Nach den Zitaten von Frau Kollegin Reiter-Zatloukal, ist Ihnen klar, warum. – Diese Neuwahlen, wollte man es um jeden Fall verhindern.

Dieses Kalkül war bei allen Entscheidungen nach dem 4. März evident. Es wurde durch die zeitgleich stattfindenden Ereignisse in Deutschland noch verstärkt, von denen die Entwicklung in Österreich im Frühjahr 1933 meiner Erachtens nicht losgelöst gesehen werden kann.

Bei den am 5. März stattgefundenen deutschen Reichstagswahlen erreichte die NSDAP 43,9 Prozent der Stimmen. Zusammen mit denjenigen Rechtsparteien, die am 30. Jänner Adolf Hitler gemeinsam mit Hindenburg in den Sattel des Reichskanzlers gehoben hatten, kam man auf über 50 Prozent der Stimmen; genau waren es 51,9 Prozent.

Seit Herbst 1932 war der massive Einsatz politischer Gewalt zu einem Mittel der nationalsozialistischen Politik zwecks Destabilisierung des politischen Systems in Österreich geworden. Die Attentate, Bombenanschläge, Brückensprengungen und so weiter führten das Land, wie es zuletzt der deutsche Historiker Heinrich August Winkler in seiner umfassenden Geschichte der Zwischenkriegszeit formulierte, an den Rand eines Bürgerkriegs.

Adolf Hitler hatte es von Beginn seiner Kanzlerschaft an kategorisch abgelehnt, mit der österreichischen Regierung bilaterale Gespräche oder Verhandlungen zu führen. Vielmehr formulierte er drei ultimative Forderungen.

Erstens: Rücktritt von Dollfuß und Bildung eines Übergangskabinetts.

Zweitens: Neuwahlen.

Drittens: Beteiligung der Nationalsozialisten an einer danach zustande kommenden Regierung.

Der nationalsozialistische Terror der Straße, verbunden mit der von Berlin aus formulierten maßlosen Politik Österreich gegenüber, sollte nach den Erwartungen der NS-Machtelite zu einer raschen Implosion der österreichischen Unabhängigkeit führen, vergleichbar mit der ab dem 5. März erfolgten dominosteinartigen Gleichschaltung der deutschen Bundesländer. Diese war ein Resultat einer Kombination aus staatlichen Repressionsakten und dem durch die Sturmkolonnen der SA herbeigeführten Terror. Auf diese Weise gelang es, nach der Reichtagswahl binnen nur weniger Tage die rein bürgerlichen oder auch von Sozialdemokraten mitgetragenen deutschen Landesregierungen durch nationalsozialistisch geführte Kabinette zu ersetzen.

Ähnlich hoffte man, auch mit Österreich zu verfahren.

Im Sinne ihrer Forderungen versuchten die österreichischen Nationalsozialisten aus dem deutschen Wahlergebnis vom 5. März Kapital zu schlagen. Unmittelbar nach dem Einlangen der Ergebnisse inszenierten sie in der Halle des Nordwestbahnhofs in Wien eine Siegesfeier, an der über 10 000 Menschen teilnahmen. Bei dieser Gelegenheit wurden neuerlich der Rücktritt der Regierung, die Bildung eines nationalen Kabinetts und Neuwahlen gefordert.

Der christlichsoziale Parteiobmann und Heeresminister Vaugoin stand bei der bereits genannten Klubvorstandssitzung vom 7. März noch ganz unter dem Eindruck des deutschen Wahlergebnisses und der bedrohlichen Kundgebung der österreichischen Nazis. Ihm war klar, dass die Signalwirkung der deutschen Wahlen den bereits 1932 bei mehreren Regionalwahlen in Österreich sichtbar gewordenen Trend zu erdrutschartigen Gewinnen der NSDAP weiter verstärken würde.

Die Konsequenz lautete: Neuwahlen auf gar keinen Fall, deshalb nur mehr die Möglichkeit eines Zusammengehens mit der Sozialdemokratie – oder der von Bundeskanzler Dollfuß vorgeschlagene autoritäre Weg blieb.

Bei einem Zusammengehen mit Links glaubte zwar Vaugoin, den Nationalsozialismus aufhalten zu können, dabei aber selbst als Partei zugrunde zu gehen.

Also blieb nur mehr das Einschlagen des von der christlichsozialen Parteispitze mehrheitlich getragenen autoritären Kurses.

Es wurde schon gesagt, unter Zuhilfenahme der Polizei wurde der Versuch des Dritten Nationalratspräsidenten Straffner, den Nationalrat am 15. März wieder flott zu machen, verhindert. Damit wurde auch erstmals in der Öffentlichkeit sichtbar, wohin die Reise ging. Das Vorhaben Straffners hatte innerhalb der Regierung beachtliche Nervosität ausgelöst gehabt. Danach hatte Dollfuß jedes Interesse, einen parlamentarischen Gesprächsfaden zumindest auf unterer Ebene, etwa durch eine Reaktivierung des Ständigen Unterausschusses des Hauptausschusses aufrecht zu erhalten, verloren gehabt.

Zugleich begann er erstmals, mit einem umfassenden Verfassungsumbau zu liebäugeln. Dieser sollte weit über die ursprünglich angedachten, noch begrenzten Verfassungsänderungen hinausreichen. Das Agieren des ihm taktisch nicht gewachsenen Bundespräsidenten bestärkten ihn dabei genauso wie die passive und von Anfang an defensive Haltung der sozialdemokratischen Opposition.

Kehren wir aber nochmals für einen Moment zu den deutschen Reichstagswahlen vom 5. März zurück.

Es erscheint mir bemerkenswert zu sein, dass Otto Bauer, wenngleich erst retrospektiv, Folgendes einräumte:

In der Hitze des innenpolitischen Gefechtes vom 4. März 1933 habe man den Einfluss der deutschen Wahlen einen Tag später zu wenig beachtet.

Wer hingegen den Schritt Dollfuß´, vorderhand ohne Parlament weiterzuregieren, sofort als direkte Konsequenz der deutschen Wahlen und der sich daran anschließenden nationalsozialistischen Massendemonstrationen wertete, war der italienische Gesandte in Wien, Gabriel Preziosi.

Dies führt zum aus österreichischer Sicht neben Hitler zweiten Protagonisten der Jahre 1933/34, dem italienischen Diktator Benito Mussolini. Die Versuche einer politischen Einflussnahme des Duce auf die österreichische Politik reichten relativ lange zurück und waren von unterschiedlicher Intensität gekennzeichnet. Unter Schober hatten sie einen ersten Höhepunkt erreicht. Parallel dazu kam es auch 1928 zur massiven Unterstützung der Heimwehr, der Mussolini aber ab Beginn der 1930er-Jahre nicht mehr die Kapazität zutraute, einen Umsturz im Alleingang herbeizuführen.

Ab Herbst 1932 begannen sich die Beziehungen zwischen Wien und Rom auf Regierungsebene langsam wieder zu verdichten. Dollfuß legte sich dabei zu Beginn eine gewisse Zurückhaltung auf. Er wusste um die geringe Popularität eines solchen Zusammengehens – ich sage nur Stichwort: Südtirol – und wollte sich keinesfalls exklusiv an Italien binden.

Es waren mehrere Beweggründe, die der Politik Mussolinis zugrunde lagen. Ich möchte drei davon explizit erwähnen.

Erstens: Die Erhaltung der österreichischen Selbständigkeit als Schutz der italienischen nationalen Interessen, oder kurz gesagt: die Vermeidung der unmittelbaren Nachbarschaft zur Großmacht Deutschland am Brenner durch die Weiterexistenz des Pufferstaates Österreich.

Zweitens: die italienische Donaupolitik mit Stoßrichtung gegen die Kleine Entente, entsprechend dem durchgehend angewandten Revisionsprinzip der italienischen Außenpolitik.

Drittens: Mussolinis absoluter Antimarxismus und seine unversöhnliche Gegnerschaft gerade zur österreichischen Sozialdemokratie, die ihm noch aus seiner frühen Zeit bekannt war, und die daraus resultierende Absicht, in Österreich eine dauerhafte Rechtsregierung zu etablieren.

Im Frühjahr 1933 sah der italienische Diktator den Zeitpunkt für die Verwirklichung seiner Pläne als gekommen an. Die von Dollfuß bis Anfang April gesetzten Maßnahmen – ich erwähne etwa die am 31. März erfolgte Auflösung des Schutzbundes – bestärkten ihn dabei.

Angesichts der innen- und außenpolitisch sich immer mehr zuspitzenden Lage entschied sich Dollfuß in den ersten Apriltagen 1933 zu jenem Schritt, vor dem er bis zu diesem Zeitpunkt wohlweislich noch Abstand genommen hatte: den persönlichen Kontakt mit Mussolini. Dieser war nach dem Zusammentreffen mit Dollfuß überzeugt, im Kanzler das Werkzeug zur Umsetzung seiner Absichten in Österreich gefunden zu haben.

Doch auch Dollfuß konnte Rom erleichtert verlassen. Er hatte sich mit seinem überraschenden Besuch nicht nur der Rückendeckung Mussolinis versichert, sondern auch den gleichzeitig in Rom anwesenden Herman Göring und Franz von Papen einen Strich durch ihren Versuch gemacht, Mussolini zur Änderung seiner Österreichpolitik zu bewegen.

Nach Berlin zurückgekehrt resümierte Göring miesmutig – ich zitiere ihn wörtlich –, „dass die unerwartete Ankunft dieses verfluchten Dollfuß die Dinge noch mehr verkompliziert hätten“.

Im Mai 1933 war dann für den österreichischen Kanzler klar, nicht mehr zum Parlamentarismus in seiner bisherigen Form zurückzukehren. Neben dem Einfluss Italiens waren der Parteitag der Christlichsozialen in Salzburg und die damals so genannte Türkenbefreiungsfeier der Heimwehr in Schönbrunn Wegmarken auf dem Weg des Kanzlers zum Diktator.

Beim Parteikonvent der Christlichsozialen trug man ihm – entgegen seiner Erwartung – nicht den Parteivorsitz an, was seiner Entfremdung gegenüber der eigenen Partei, aber auch darüber hinaus gegenüber dem demokratischen Parteiwesen insgesamt beschleunigte.

Die Kundgebung der Heimwehr in Schönbrunn mit Zehntausenden aus ganz Österreich versammelten Heimwehrmännern bildete dann das Forum, vor dem Dollfuß erstmals unverständlich klar machte,

diese Form von Parlament und Parlamentarismus, die gestorben ist, wird nicht wieder kommen.

Kurze Zeit später sprach Dollfuß schon ganz offen von einer völlig neuen Verfassung, ohne dass er allerdings über deren Inhalt schon klare Vorstellungen gehabt hätte.

Nach dem Rücktritt der christlichsozialen Verfassungsrichter erfolgte durch Verordnung der Bundesregierung vom Mai 1933 die Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofes. Damit hatte Dollfuß eine weitere Zäsur im Prozess des schleichenden Staatsstreichs von oben gesetzt.

Etwa zur selben Zeit erfolgte das Verbot der Kommunistischen Partei, dem im Juni das der NSDAP folgte.

Die Einführung der dem Bundeskanzler unterstellten Sicherheitsdirektoren griff erstmals massiv in die Kompetenzen der Länder ein, noch dazu auf dem heiklen Gebiet der inneren Sicherheit.

Dagegen war die Mitte Juli erfolgte Ernennung des im hohen Ansehen stehenden und als Demokrat geltenden Vorarlberger Landeshauptmanns Otto Ender zum Verfassungsminister bloß ein geschickter Schachzug des Bundeskanzlers, der aber ohne faktische Auswirkungen blieb oder gar eine Kursänderung bewirkt hätte.

Mussolini hatte Dollfuß bei seinen ersten beiden Besuchen im Frühjahr umgarnt und ihn in seinem autoritären Kurs ermutigt. Ultimative Forderungen stellte er erst ab dem Sommer, vor allem beim dritten Zusammentreffen am 19. und 20. August in Riccione. Danach sollte es Schlag auf Schlag gehen.

Zwar hatte Dollfuß bereits zahlreiche Schritte gesetzt, die Mussolini entgegen kamen, doch in der für den italienischen Diktator entscheidenden Frage, nämlich jener der Ausschaltung der Sozialdemokratie und damit eng verbunden der Liquidierung des roten Wien war Dollfuß zögerlich geblieben.

Auf die Bemühungen des Kanzlers, den deutsch-österreichischen Konflikt zumindest teilweise zu internationalisieren, stieß man in Rom nicht auf Zustimmung.

Nous avons donné une petite injection à Monsieur Dollfuß!, so umschrieb Mussolinis Unterstaatssekretär Suvich den detaillierten Forderungskatalog, mit dem der Duce beim Zusammentreffen in Riccione die weitere Unterstützung gegenüber Hitler-Deutschland junktimiert hatte. Neue Verfassung, Regierungsumbildung, Einsetzung eines Regierungskommissionärs in Wien und so weiter.

Zumindest partiell musste Dollfuß handeln. In der so genannten Trabrennplatzrede nahm die Vaterländische Front als neue Einheitsparte erstmals Konturen an und Dollfuß präsentierte sich als autoritärer Führer.

Kurze Zeit später folgte die von Mussolini verlangte Regierungsumbildung, im Zuge derer der Landbund, der noch am ehesten als demokratischer Antipode zur Heimwehr in der Regierungskoalition fungiert hatte, aus der Regierung flog. Damit hätte die Regierung im ohnedies nur mehr fiktiven Fall der Wiedereinberufung des Nationalrates eindeutig über keine Mehrheit mehr verfügt.

Nach der verfassungsmäßigen Zäsur im Juni mit der Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofes waren nun auch die politisch-parlamentarischen Brücken einer Rückkehr zum demokratischen System abgebrochen. Spätestens mit dem 21. September 1933 regierte Dollfuß nicht nur verfassungsrechtlich gesehen, sondern auch politisch betrachtet eindeutig autoritär.

Ab jenem Zeitpunkt war der Weg vorgezeichnet, der in die blutigen Februar-Ereignisse 1934 führte, auch wenn er damals noch nicht unumkehrbar gewesen war, doch fand sich mit der sozialdemokratischen Opposition keine substantielle Verhandlungsebene mehr oder – präziser formuliert – wollte man seitens Dollfuß im Herbst 1933 keine solche mehr finden.

Am Anfang der Regierungszeit von Dollfuß war es Otto Bauer gewesen, der Verhandlungen abgelehnt, der Regierung das Misstrauen ausgesprochen und die Lausanner Völkerbundanleihe vehement bekämpft hatte.

Im Oktober 1932 kam es dann, wie Ernst Hanisch in seiner Otto-Bauer-Biographie dargelegt hat, auch zum vollständigen menschlichen Zerwürfnis zwischen Bauer und Dollfuß.

Ab dem März 1933 hatte sich die Situation ins Gegenteil verkehrt: Die Sozialdemokratie agierte defensiv und abwartend. Man sandte Signale an die Regierung aus und deutete Kompromissbereitschaft an, die nicht mehr erwidert wurde.

Es war wohl einer der entscheidenden Denkfehler Mussolinis im Hinblick auf Österreich, dass er aus seinem tiefen Hass gegenüber der Sozialdemokratie tatsächlich glaubte, man könnte durch ein entschlossenes Vorgehen ihr gegenüber dem Nationalsozialismus den Wind aus den Segeln nehmen.

Diese Sichtweise wurde bekanntlich auch von breiten Teilen der Heimwehr vertreten. Odo Neustädter-Stürmer, Staatssekretär, später Sozialminister und sicher eines der problematischsten Mitglieder der Regierung Dollfuß prägte im März 1933 die ebenso einprägsame wie aus heutiger Sicht beängstigende Formulierung,

man müsse den Nationalsozialismus überhitlern und – ich zitiere weiter –

den Vernichtungskampf gegen den Marxismus rücksichtslos führen.

Die Fehleinschätzung Mussolinis, wonach die einzig erfolgsversprechende Methode, die Dynamik des Nationalsozialismus in Österreich zu brechen, der Versuch wäre, dem Konkurrenten die Waffe des Antimarxismus zu entreißen, hatte bekanntermaßen für Österreich fatale Folgen.

An innerösterreichischen warnenden Stimmen hat es nicht gefehlt, eine davon, nämlich jene des Publizisten Ernst Karl Winter, möchte ich abschließend zitieren.

Der Linkskatholik und spätere zeitweilige Wiener Vizebürgermeister war mit Dollfuß befreundet, was ihn aber nicht hinderte, Kritik an der vom österreichischen Kanzler eingeschlagenen Politik zu formulieren. Im Dezember 1933 hatte Ernst Karl Winter einen mit Mai datierten Brief an Mussolini veröffentlicht. Pointiert hatte er dem Duce die Widersprüchlichkeit seiner Österreich-Politik vor Augen geführt. Ich zitiere:

Sie müssen sich wohl entscheiden, was Sie lieber von Österreich wollen: den Nicht-Anschluß oder den Faschismus. Beides zugleich kann man nicht wollen, denn der Nicht-Anschluß setzt die Existenz des Föderalismus, der Demokratie und sogar des Sozialismus voraus. Denn gerade die Linke ist heute der Damm gegen den Anschluss. Sie werden also, Exzellenz, sich entscheiden müssen: das Hakenkreuz am Brenner oder aber die Demokratie in Österreich. – Ende des Zitats.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall.)

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Parlamentsvizedirektorin Dr. Susanne Janistyn: Herzlichen Dank, Herr Dr. Wohnout.

Die Verfassung 1934 ist schon öfter angesprochen worden – und Herr Professor Wiederin wird nun sein Referat halten zum Thema

„Die Rechtsstaatskonzeption der Verfassung 1934“

Univ.-Prof. Dr. Ewald Wiederin (Universität Wien, Institut für Staats- und Verwaltungsrecht): Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Titel meines Referats mag bei Ihnen bereits eine Frage provoziert haben: Eine Rechtsstaatskonzeption der Verfassung 1934 – ja gab es das überhaupt?

Um eine Antwort sind wir verlegen, weil wir über den Inhalt dieser Verfassung wenig wissen, aber wir haben starke Zweifel, weil wir über ihre Entstehung sehr gut informiert sind.

Der Rücktritt der drei Präsidenten dieses Hauses heute vor 80 Jahren bot der Regierung Anlass, fortan ohne das „lästige Parlament“ zu agieren. Sie verhinderte weitere Sitzungen des Nationalrates und übernahm seine Aufgabe, die Gesetzgebung, der Sache nach selbst. Sie erließ Verordnungen, die sie auf das kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz stützte. Dass diese Grundlage längst nicht alles deckte, was tatsächlich erlassen wurde, war auch der Regierung klar und deshalb schaltete sie nach dem Parlament auch den Verfassungsgerichtshof aus, bevor er ihre Verordnungen prüfen konnte. Das geschah auf dermaßen perfide Art und Weise, dass es uns heute noch den Atem stocken lässt, wenn wir die Abfolge der Züge analysieren.

unächst trat ein Mitglied des Gerichtshofes, der Regierung nahestehend, aber vorgeschlagen vom Parlament, von seinem Amt zurück. Darauf reagierte die Regierung mit einer Verordnung, die fünf weitere Mitglieder in ihrer Funktion inhibierte, ebenso wie drei Ersatzmitglieder, die auf Vorschlag des Parlaments ernannt worden war. Das konnte man der Öffentlichkeit als „Entpolitisierungsmaßnahme“ verkaufen – und es bedeutete, einem verbreiteten Vorurteil zuwider, noch keine Lähmung des Gerichtshofes, denn es blieben elf Personen übrig. Genug also, um jeden Beschluss zu fassen. Ansonsten hätte man in der Regierung die nötige Einstimmigkeit wohl gar nicht erzielt.

Erst danach kam es zu weiteren Rücktritten. Erst sie drückten das Plenum unter das Quorum, aber die Lähmung war nicht irreversibel. Die Regierung hätte durch Vorschlag neuer Mitglieder dem Gerichtshof jederzeit wieder zum Gehen bringen können.

Ähnlich subtil kalkuliert war die Maßnahme, die die Lähmung bewirkte: Die Verordnung richtete sich an den Präsidenten des Gerichtshofes, dem sie die Ladung bestimmter Mitglieder verbot – an eben diese Mitglieder, denen sie die Teilnahme an den Sitzungen untersagte, und schließlich an das Plenum, das bei Beurteilung der Quoren den Ausschluss dieser Mitglieder zu beachten hatte. Wenn auch nur einer dieser Adressaten sich fügte, war das Spiel für die Regierung bereits gewonnen. Und in dem Moment, wo der Präsident zu den Sitzungen der Juni-Session nur die auf Vorschlag der Regierung ernannten Mitglieder einlud, war eben dies eingetreten. Das Rumpf-Plenum konnte die Prüfung der Besetzungsverordnung noch beschließen, das eingeleitete Verfahren aber nicht mehr fortsetzen.

Nach dem Nationalrat war also auch der Verfassungsgerichtshof ausgeschaltet, aber nicht mit brachialer Gewalt, sondern durch den Einsatz von Recht – von rechtswidrigem Recht zwar, dass sich aber selber immunisierte, indem es den Gerichtshof an der Prüfung hinderte.

Unter der Dezember-Verfassung 1867 hätte diese Taktik nicht funktioniert, denn unter ihr war jeder Richter zur Verordnungsprüfung befugt. – Jetzt aber war die Normenprüfung beim Verfassungsgericht monopolisiert.

Merkel hat das klar gesehen, wenn er schreibt:

Ein Bombenabwurf auf die Elektrizitätszentrale kann den gesamten Eisenbahnverkehr mit einem Schlag zum Stillstand bringen, was selbstverständlich beim Dampfbetrieb nicht möglich ist.

In ähnlicher Weise hat der Schlag gegen den Verfassungsgerichtshof als die zentrale Verordnungskontrollstelle jede behördliche Verordnungskontrolle lahmgelegt. Kurzum: Die Regierung hatte auf die Achillesferse der Verfassungsgerichtsbarkeit gezielt und das Rechtssystem im Zentrum getroffen.

Die Art und Weise, wie das erfolgt ist, beschäftigt uns wie ein Trauma – bis heute.

Konnte die Verfassung 1934 nach dieser Vorgeschichte rechtsstaatlich sein? – Ich glaube, sie musste es sein, weil die neue Verfassung andernfalls nicht legitim erscheinen konnte, und zwar nicht einmal im eigenen Lager. Das, was geschehen war, wurde nämlich auch dort nicht goutiert. Die Verfassungsbrüche hatten die Christlichsozialen emotional sogar besonders berührt, weil es zu ihrem Selbstverständnis gehörte, sich als Hort der Rechtsstaatlichkeit zu betrachten.

Das wiederum hat mit einem anderen Ereignis zu tun, das ähnlich traumatisierend wirkte. Nach dem Freispruch der Schützen von Schattendorf, den ein Geschworenengericht gefällt hatte, kam es am 15. Juli 1927 zu Streiks, zu Demonstrationen und schließlich zum Sturm auf den Justizpalast, der von der Menge in Brand gesteckt wurde. Auch da war das Recht im Zentrum getroffen: Das Oberste Gericht der Republik war obdachlos geworden und – noch symbolträchtiger – Teile des Grundbuchs, Teile des Eisenbahnbuchs und unzählige Prozessakten brannten. Nicht nur das Gebäude hatte Feuer gefangen, sondern die Rechtsordnung selbst stand in Flammen.

Dieser Angriff machte eine tiefe Spaltung der Gesellschaft sichtbar – und die konservative Seite machte dafür die Sozialdemokratie und den Parlamentarismus verantwortlich. Um den Rechtsstaat zu bewahren, glaubte man die Demokratie eindämmen oder beseitigen zu müssen.

Soweit die Vorgeschichte, die plausibel macht, weshalb die Rechtsstaatlichkeit im Jahre 1934 nicht zur Debatte stand.

Wie aber hat die neue Verfassung den Rechtsstaat verankert? – Auf unspektakuläre Art und Weise, indem sie das Traditionsgut übernahm und einige neue Akzente setzte. Anders als in der Demokratie und beim Bundesstaat blieben die großen Brüche aus. Wir können eine homogene Entwicklung beobachten, die sich nach 1945 fortsetzt.

Zunächst fällt auf, dass – für eine autoritäre Verfassung nicht selbstverständlich – am Legalitätsprinzip festgehalten wird. Die Verwaltung darf weiterhin nur aufgrund der Gesetze tätig werden. Die demokratische Funktion des Gesetzesvorbehalts bleibt allerdings auf der Strecke. Es geht nicht mehr darum, dass die wesentlichen Entscheidungen im Parlament fallen, sondern nur mehr darum, dass das staatliche Handeln für den Bürger vorhersehbar bleibt.

Über die Einhaltung der rechtlichen Bindungen zu wachen, ist weiterhin die Aufgabe der Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts. Sie wird anders organisiert: Der Verfassungsgerichtshof und der Verwaltungsgerichtshof sind im Bundesgerichtshof zusammengelegt. Die bisherigen Funktionen bleiben aber alle erhalten: von der Bescheidkontrolle bis hin zur Gesetzesprüfung. Die Verfassungsbrüche des Jahres 1933 sind verarbeitet, indem die Normenkontrolle notverordnungsfest konzipiert ist.

Außerdem kommt als wichtige neue Aufgabe hinzu, dass man sich vor dem Bundesgerichtshof auch gegen die Untätigkeit der Verwaltung beschweren kann. – Diese Vorkehrung gegen Rechtverweigerung hat nach dem Zweiten Weltkrieg umgehend in das B-VG Eingang gefunden.

Die nächste Überraschung besteht darin, dass die Verfassung einen umfassenden Grundrechtskatalog enthält, der die alten Rechte bewahrt und einige neue bringt, etwa den Schutz vor rückwirkender Bestrafung und vor Auslieferung ins Ausland.

Symbolisch ist der Katalog dadurch aufgewertet, dass er – den zeitgenössischen Gepflogenheiten zuwider – nicht am Ende der Verfassung steht, sondern nach vorne gerückt ist, wo er auf die grundsätzlichen Bestimmungen folgt. Das ist mit Bedacht geschehen. Es soll sinnfällig machen, dass die Grundrechte dem Staat vorausliegen und das darum bei aller staatlichen Tätigkeit zu beachten ist.

Man muss jedoch nicht um die Praxis wissen, sondern es genügt, den Text zu lesen, um zu sehen, dass es inhaltlich enorme Rückschritte gibt. Es beginnt beim Gleichheitssatz. Religion und Geschlecht sind keine verpönten Differenzierungsmerkmale mehr, ja es wird ausdrücklich gesagt, dass für Frauen andere Rechte und Pflichten vorgesehen werden dürfen als für Männer.

Das setzt sich bei der Religionsfreiheit fort, wo die katholische Kirche privilegiert wird – und auch beim öffentlichen Dienst, zu dem nur die Vaterlandstreuen Zugang haben und der als neutrale Sphäre konzipiert ist, indem politische Betätigung tabu ist.

Es zeigt sich bei allen Grundrechten, die auch nur entfernt politischen Charakter haben: Wahlrecht gibt es keines mehr; und die Möglichkeiten, auf öffentliche Entscheidungen indirekten Einfluss zu nehmen, sind durch die Bank beschränkt. Vorzensur ist wieder möglich. Das Konzessionssystem für Presse, Vereine und Versammlungen ist wieder erlaubt; vom Artikel über die Meinungsfreiheit bleibt nur die lange Liste von Gründen im Gedächtnis, die Beschränkungen tragen.

Bei verfassungsimmanenter Betrachtung waren diese Verschiebungen aber nachvollziehbar, um nicht zu sagen: folgerichtig. Zum einen ist nicht verwunderlich, wenn sich eine Verfassung, die für Demokratie keinen Raum mehr lässt, auch von den Grundrechten mit demokratischem Gehalt verabschiedet. Zum anderen haben die Zeitgenossen mit Nachdruck betont, dass es falsch wäre, die Grundrechte der neuen Verfassung als liberale Rechte zu verstehen. Selbst dort, wo die Textierung gleich geblieben ist, hat sich Wesentliches geändert, weil Geltungsgrund und Zweckausstattung der Grundrechte sich gewandelt haben. Nicht mehr Selbstbestimmung und Autonomie stehen im Zentrum, es geht im Kern nicht um Freiheit, weder um politische noch um individuelle Freiheit, sondern: Die Grundrechte werden gewährleistet, weil Gott sie in die Natur des Menschen gelegt hat, weil sie Ausfluss der Menschenwürde sind – und diese Würde speist sich daraus, dass Gott den Menschen geschaffen hat nach seinem Ebenbild.

Durch die Grundrechte geschützt ist deshalb nicht, was der Mensch will, nach seinem eigenen Plan, sondern gewährleistet ist das, was er ist, was ihn ausmacht nach dem Plan Gottes. Und dieser Schöpferplan sieht verschiedene Sphären vor. Sphären wie Religion, Ehe und Familie, in die der Staat sich nicht einmischen darf, ebenso wie Sphären des Staates, die ständisch geordnet sind, die autoritär geführt werden, von Männern natürlich, und zu denen die Bürger keinen Zugang haben.

Mit dem Grundrechtsverständnis wandelt sich aber auch das Verfassungsverständnis insgesamt. Die Diskussion wird prinzipienorientierter und abstrakter. Die Verfassungsrechtslehre beginnt, die Baugesetze der neuen Verfassung zu analysieren, ihre Prinzipien herauszuarbeiten, ihre Leitideen nachzuzeichnen und sie mit den Prinzipien der alten Verfassung zu vergleichen.

Das ist doppelt bemerkenswert, weil das unter dem B-VG noch anders war und weil es dafür im neuen Text keine Anknüpfung gab.

Nach 1945 wird diese Diskussion unter dem B-VG nahtlos weitergeführt.

Deshalb gehen wir heute einhellig davon aus, dass unsere Bundesverfassung ein rechtsstaatliches Prinzip enthält, von dem man vor 1933 noch nichts wusste.

Wie stark die Kontinuitäten sind, sehen wir, wenn wir in den gängigen Lehrbüchern nachlesen, dass der Rechtsstaat, das B-VG, ein Gesetzesstaat, ein Verfassungsstaat und ein Rechtsschutzstaat ist. Dieses Leitbild ist sichtlich der Verfassung 1934 entnommen, wo es heißt, dass zur Sicherung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung und der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung der Bundesgerichtshof berufen wird.

Das führt mich zu einer letzten Beobachtung, die der äußeren Form und dem Stil der Verfassung gilt. Sie ist anders als das B-VG kein Torso, sondern eine Vollverfassung, die das gesamte Verfassungsrecht – mit Ausnahme der Finanzverfassung – enthält. Ein Inkorporationsgebot, wie wir es im Bonner Grundgesetz finden, sucht man noch vergeblich. Der Kodifikationscharakter ist aber schon rechtlich abgesichert, und zwar dadurch, dass neben der Stammurkunde nur noch Bundesverfassungsgesetze möglich sind, aber keine Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen mehr.

Schließlich und endlich: Die Verfassung 1934 ist legistisch ausgezeichnet gemacht. Sie ist nüchtern im Ton, prägnant im Ausdruck und in ihrer Systematik besser durchdacht als das B-VG. Damit, so meine ich, hat sie unsere Idealvorstellung von einer Verfassung unterschwellig stärker geprägt, als uns das bewusst ist.

Wenn Sie diesen Gedanken für überzogen halten, dann schlage ich Ihnen vor, in einer ruhigen Minute doch einmal den Verfassungsentwurf aus dem Österreich-Konvent zur Hand zu nehmen und zu überlegen, welche Verfassung ihm im Aufbau, in der Sprache und im Ductus der Teilverliebtheit am nächsten kommt. Ich vermute, Sie werden weit und breit keinen Text finden, der ihm näher verwandt ist als die Verfassung 1934, die wir für überwunden halten, ohne sie zu kennen.

Damit danke ich für Ihre Aufmerksamkeit und nehme von dieser Veranstaltung mit, dass ich das nächste Mal nicht ohne Lesebrille antreten werde. (Beifall.)

Parlamentsvizedirektorin Dr. Susanne Janistyn: Vielen Dank, Herr Professor Wiederin.

Nächster Referent: Herr Universitätsprofessor Dr. Jabloner. – Bitte.

*****

„Nach der Verfassungskrise – zurück zum B-VG?“

Univ.-Prof. Dr. Clemens Jabloner (Präsident des Verwaltungsgerichtshofes): Herr Präsident des Bundesrates! Meine Damen und Herren! Anknüpfend an Ewald Wiederin: Ich habe schon gewusst, warum ich im Österreich-Konvent auf der Bremse stehe. Es war vielleicht ein Gefühl und keine Einsicht, aber das Gefühl war nicht trügerisch.

Nun aber noch einen Schritt zurück, wieder ins Jahr 1933, und noch früher: Mit der Bundesverfassung von 1920 wurde die Republik Österreich als eine ziemlich radikale parlamentarische Demokratie eingerichtet. Die Prärogative des Nationalrates kam besonders in Fällen eines präsidialen Gegengewichts, in der Abhängigkeit der Bundesregierung vom Nationalrat und im Legalitätsprinzip zum Ausdruck.

In den späten zwanziger Jahren und in einem Klima, in dem oft im Namen einer echten Demokratie – Reiter-Zatloukal hat darüber referiert – gegen die parlamentarische Demokratie agitiert wurde, wuchs der Druck auf das B-VG.

Obwohl die Heimwehr mit dem Staatsstreich drohte, sollte der Verfassungsumbau doch auf verfassungsmäßigem Weg erfolgen, was zur Verfassungsnovelle 1929 führte. Sie zielte auf eine Schwächung des Nationalrates zugunsten eines starken Bundespräsidenten und auf eine Zentralisierung zu Lasten des roten Wien ab, mit einer Entpolitisierung des Verfassungsgerichtshofes als weiterem Effekt.

Die Verfassungsnovelle von 1929 brachte aber keinen Paradigmenwechsel. Sie wurde auch nicht im Wege einer Gesamtänderung der Bundesverfassung nach Artikel 44 Abs. 2 erzeugt. Sie wäre aber zweifellos gesamtändernd gewesen, wäre es der Bundesregierung gelungen, eine ganz wesentliche Änderung durchzusetzen. Diese bestand in einer Ergänzung des Artikel 44 (2) dergestalt, dass Gesetzesvorschläge auf Änderung der Bundesverfassung, die keine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat erlangen, einer Volksabstimmung zuzuführen wären. Falls diese eine unbedingte Mehrheit ergäbe, sollte der Gesetzesvorschlag als Bundes-Verfassungsgesetz kundgemacht werden.

Da die Sozialdemokraten im Nationalrat jedenfalls mehr als ein Drittel der Mandate erhalten würden, lief das auf eine plebiszitäre Verfassungsänderung mit einfacher Mehrheit hinaus, gegen die auch das ja wiederum plebiszitäre Element der obligatorischen Volksabstimmung bei einer Gesamtänderung keine wirksame Schranke bedeutet hätte.

Es wurde sogar – in den Worten von Kelsen – von verschiedener Seite erwogen, die Verfassungsnovelle selbst, erhielte sie keine qualifizierte Mehrheit im Nationalrat, zum Gegenstand einer Volksabstimmung zu machen, was einen offensichtlichen Verfassungsbruch bedeutet hätte.

Durch die Kombination eines machtvollen Bundespräsidenten, nach dem Vorbild des Reichspräsidenten, mit einer plebiszitären Verfassungserzeugung sollte der Nationalrat in die Zange genommen werden. Es war klar, dass gerade Letzteres auf den massiven Widerstand der Sozialdemokraten stoßen musste und daher auch nicht zustande kam. Erwähnenswert ist diese Episode aber deshalb, weil sie uns heute darauf aufmerksam machen soll, dass man den Ausbau plebiszitärer Elemente der Rechtserzeugung nicht ohne Rücksicht auf die Stellung des Bundespräsidenten sehen darf.

Der Bundespräsident – und das muss nicht der franzisco-josephinische Typ sein, den wir gewohnt sind – kann seine durchaus noch immer und nach 1929 massiven Kompetenzen auch eines Tages tatsächlich zur Geltung bringen. Im Verein mit dem den Nationalrat ausschließenden plebiszitären Instrumenten würde dies die parlamentarische Demokratie ersticken.

Im Ergebnis brachte die B-VG Novelle 1929 zwar, um mit Merkel zu sprechen, eine Änderung in Richtung der Präsidentschaftsrepublik und eine Abschleifung radikal-demokratischer Spitzen der früheren Verfassung, aber keinen grundsätzlichen Systemwandel. Dies lag zum einen daran, dass der Regierungsvorlage einige besonders giftige Zähne gezogen wurden – und zum anderen daran, dass es zur direktdemokratischen Legitimation eines auch dann durchsetzungskräftigen Bundespräsidenten eben gar nicht kam. Die radikalen Kräfte innerhalb des Regierungslagers konnten auf verfassungsmäßigem Weg ihre Vorstellungen nicht realisieren.

Im Mai 1933 – ich überspringe jetzt den Anlass unserer Tagung – erfolgte der zweite gegen ein Verfassungsorgan gerichteter Streich, die Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofes; darüber hat Ewald Wiederin gerade berichtet. In diesen Monaten einer – von Gerhard Botz so bezeichneten – „autoritären Halbdiktatur“ war die Absicht der Regierung Dollfuß zunächst wohl nicht darauf gerichtet, die verfassungsrechtlichen Fesseln endgültig zu sprengen. Vielmehr sah man die Chance, jene Maßnahmen zur Stärkung der Exekutive, die 1929 nicht durchgesetzt werden konnten, nachzuholen.

Die Perspektive war daher zunächst jene der gescheiterten Novelle 1929 und naturgemäß keine Retrospektion aus der Sicht des zukünftigen autoritären Staates von 1934. Auch ließ sich Dollfuß scheinbar auf Verhandlungen mit den Sozialdemokraten ein. Spätestens mit der Trabrennplatz-Rede von Dollfuß am 11. September 1933 wurde deutlich, dass sich die Regierung endgültig von der parlamentarischen Demokratie verabschieden wollte.

Bis zum Sommer 1933 bestanden noch alternative Szenarien und Akteure, die sich für eine verfassungsrechtliche Kontinuität einsetzten, namentlich Ernst Karl Winter und Georg Fleischer, über dessen Pläne ich berichten möchte.

Aber selbst nach der Rede von Dolluß suchte Karl Renner, zunächst inspiriert durch Überlegungen Fleischers, zweimal alternative Wege; zuletzt freilich schon weitab vom B-VG.

Wer war nun dieser Georg Fleischer? – Fleischer war ein Jurist der zweiten Reihe. 1904 in Wien geboren, promovierte er 1927 und bewegte sich im Kreis von Kelsen. Fleischer war Privatgelehrter und lebte neben seiner Lehrtätigkeit in der Wiener Volksbildung hauptsächlich von Einkünften einer Teilhaberschaft an der Firma seines wohlhabenden Vaters. Seine spätere wissenschaftshistorische Bedeutung liegt darin, dass er zwischen 1934 und 1938 als Veranstalter eines wissenschaftlichen Salons in der Grünangergasse auftrat, der die Tradition des Wiener Kreises fortsetzte. 1938 emigrierte er.

Als Wissenschaftler hatte sich Fleischer 1926 mit einer Monographie zum Wahlrecht profiliert. Er trat für ein stärkeres Persönlichkeitswahlrecht ein, um einer zu ausgeprägten Parteiendemokratie entgegenzuwirken. Fleischer kommentierte 1930 die B-VG-Novelle 1929; wollte gerade noch darin zustimmen, dass die Novelle alle nötigen Sicherungen der parlamentarischen Demokratie enthalte, kritisierte aber eine Reihe von aus demokratischer Sicht gefährlichen Schwachstellen, namentlich im Zusammenhang mit dem Notverordnungsrecht des Bundespräsidenten.

Im Juni 1933, also nach der Ausschaltung von Nationalrat und Verfassungsgerichtshof, behandelte Fleischer die verfassungspolitische Lage in einem Beitrag im Juni-Heft der von Ernst Karl Winter herausgegebenen „Wiener Politischen Blätter“.

Ernst Karl Winter, viel bekannter als Georg Fleischer, wir haben über ihn schon gehört, war ein österreichischer Legitimist, der zur Abwehr des Nationalsozialismus auf die Versöhnung zwischen Christlichsozialen und Sozialdemokraten hinarbeitete.

Über seine Zeitschrift, die „Wiener Politischen Blätter“, schreibt er später wie folgt – ich zitiere –:

Unter dem Häuflein katholischer Intellektueller, die sich dem autoritären Experiment widersetzten und ihm ein Ende mit Schrecken voraussagten, war ich selbst der unnachgiebigste und zäheste. Während der elfmonatigen Verfassungskämpfe 1933/1934 führte ich in meinen „Wiener Politischen Blättern“ einen entschlossen Kampf gegen Dollfuß,

mit dem Winter ja, wie wir gehört haben, persönlich befreundet war.

Zurück zu Georg Fleischer. Er stellte an den Anfang, dass der VfGH bis auf Weiteres als Plenarversammlung nicht beschlussfähig sei. Dieser konkrete Tatbestand sei verfassungstheoretisch zu begreifen. Der Fehlerkalkül –

also die vorläufige Geltung später als verfassungswidrig aufgehobener Gesetze –

schaffe einen doppelten Rechtsboden, eine Hauptrechtsordnung vollgültig fehlerfrei und eine Nebenrechtsordnung fehlerhaft provisorischer Rechtsakte. Das Prinzip der provisorischen Geltung verfassungswidriger Normen könnte aber auch dem Verfassungsgerichtshof selbst mit voller Wucht treffen. Eine Norm, die dem Verfassungsgerichtshof, wenn auch verfassungswidrigerweise, seine Funktion abspreche, trete zunächst in Wirksamkeit. Dies habe aber zur Folge, dass der Garant der Verfassungsmäßigkeit außer Gefecht gesetzt und wenigstens für die Dauer seiner Aktionsunfähigkeit aus dem Provisorium der Geltung ein Definitivum werden.

An diese – meines Erachtens unzutreffenden – verfassungsdogmatischen Überlegungen knüpft Fleischer dann rechtspolitische Gedanken und schlägt für eine solche Konstellation eine Prüfung der Verfassungskonformität a priori vor.

Zu den Bemühungen Winters, Kontakte zwischen konsenswilligen Vertretern der beiden Lager zu knüpfen, gehörte das Projekt eines besonderen verfassungsrechtlichen Ermächtigungsgesetzes, das dem Bundespräsidenten Miklas für eine Übergangszeit weitreichende Befugnisse übertragen sollte.

Georg Fleischer erstellte und kommentierte einen solchen Entwurf in seinem nächsten Beitrag für Winters Zeitschrift unter dem Titel „Demokratie und Ermächtigung“. Im Sinne eines die Demokratie ergänzenden Prinzips der Staatsräson der Demokratie will Fleischer nicht – ich zitiere wörtlich –

der Theoretiker einer Richtung werden, die sich unter dem Vorwande der Staatsnotwendigkeiten und unter dem Beifall der Faschisten weit von der Demokratie entfernt. Vielmehr soll die definitionsgemäße Schwäche der Demokratie überwunden und gefragt werden, welche Chancen sich in Österreich einem an der Staatsräson der Demokratie orientierten Handeln böten.

In der Folge analysiert Fleischer sehr pointiert die Positionen der beiden politischen Parteien zum Staat und zueinander:

Von einer der beiden großen Parteien bejaht die eine den Staat theoretisch und verneint ihn praktisch; die andere bejaht ihn praktisch, verneint ihn aber theoretisch. Nun käme es auf ein Zusammenwirken der beiden großen Parteien zum Zweck des Rückwegs zu verfassungsmäßigen rechtsstaatlichen Verhältnissen an.

Dafür schaffe man –

das ist Fleischers Grundidee für ein Staatsnotstandsgesetz –

ein vereinfachtes Verfahren der Gesetzgebung, ermächtige man für die Dauer der Staats- und Wirtschaftskrise ein vom Vertrauen des Volkes und seiner Vertreter getragenes Organ zur Ausübung der Funktionen, die sonst dem Parlament zustehen.

Fleischer entwarf in diesem Aufsatz einen ausgefeilten Entwurf für ein Ermächtigungsgesetz, wörtlich: Bundesverfassungsgesetz vom xxx 1933, womit einige Bestimmungen des Bundes-Verfassungsgesetzes abgeändert und ergänzt werden (Ermächtigungsgesetz für Bundespräsident Wilhelm Miklas).

Es sollte die Gesetzgebung einem Organ übertragen, das aus dem Bundespräsidenten, der Bundesregierung und einen Parlamentsausschuss, dem Staatsrat, zusammengesetzt ist. Dieses Organ sollte Verordnungen mit Gesetzeskraft erlassen können. Die ganze Ermächtigungsperiode sei für zwei Jahre veranschlagt. Ein Widerruf der Ermächtigung könne vom Nationalrat jederzeit mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden.

Die übrigen Staatsorgane, der Nationalrat, der Verfassungsgerichtshof, die Landtage, die Gemeindevertretungen sollten ungehindert weiter ihre Funktion ausüben können. Dem VfGH würde sogar eine besonders wichtige Aufgabe zukommen. Es ginge also um die parlamentarische Ermächtigung zu einer kontrollierten Diktatur.

Anzumerken ist, dass sich Ernst Karl Winter selbst damit nicht gänzlich identifizieren konnte, obwohl Winter die Ausarbeitung angeregt hatte. Er schreibt nämlich in einem Editorial dann, dass man Zweifel daran hegen könne, ob die Konstruktion des Staatsrates der politischen Situation noch entspricht; insbesondere ob es angeht, die positive Gesetzgebung des Nationalrates in diesem Staatsrat auch in den außerpolizeilichen Bereichen zu einem bloßen Einspruchsrecht zu denaturieren.

Ich möchte auch betonen, dass es sich bei einer solchen Verfassung inhaltlich nicht mehr um jene von 1920/1929 gehandelt hätte. Fleischer und dann auch Renner hatten aber wohl vor Augen, diese Änderungen auf dem verfassungskonformen Weg des Artikels 44 Abs. 2 B-VG einzuführen. – Wenn im Titel meines Beitrags die Wendung „zurück zum B-VG“ gebraucht wird, so bezieht sich das also auf die formale und nicht auf die materielle Kontinuität.

Fleischers Abhandlung beeinflusste dann eine wohl gewichtigere verfassungspolitische Initiative, die in die gleiche Richtung zielte. Am 26. Oktober 1933 übermittelte Karl Renner, zu dieser Zeit noch formell Präsident des Nationalrates, an den Kabinettsdirektor des Bundespräsidenten, Dr. Löwenthal, in vertraulicherweise den Entwurf einer Notstandsverfassungsnovelle.

Res ad triarios venit, schrieb der stets auch literarische Renner. Nun käme es auf die bewährten Männer an. Und zu dem Grundgedanken bemerkte er Folgendes:

Leitsatz sei es, bestehende Kompetenzen auf andere Organe zu übertragen, die rascher handeln könnten. Diese Übertragung sollte aber die Grundlagen der Gewaltenteilung nicht verschieben. Die Gesetzgebung bliebe bei den Volksbeauftragten, nur gehe sie von National- und Bundesrat über auf Staatsrat und Bundespräsident. Die Exekutive bliebe dem Ministerium; jedoch nehme der Bundespräsident unmittelbar an der Exekutive teil, indem er im Ministerrat einen Kabinettssekretär sitzen habe und mit der Heeresleitung durch einen Kabinettsadjutanten als Verbindungsoffizier in ständiger Verbindung stehe. Damit wäre zum ersten Mal eine Lücke der Verfassung ausgefüllt, so Renner.

Renner hält dann noch fest, dass sich sein Entwurf in vielen Punkten mit dem Entwurf der „Wiener Politischen Blätter“ berühre, von dem er manche Einzelheit wörtlich übernommen hätte.

Dieser in Rede stehende erste Entwurf Renners ist von jenem späteren Entwurf Renners zu unterscheiden, den er im Gefolge des Parteitages der Sozialdemokraten im Oktober 1933 erstellte und der wesentlich stärker auf berufsständische Elemente baute, das Grundgefüge des B-VG endgültig verlassend.

Im Zusammenhang mit diesem zweiten Entwurf wird Renner wohl nicht zu Unrecht grenzenloser Opportunismus vorgeworfen, sei er doch bereit gewesen, die Ergebnisse eines jahrzehntelangen Kampfes der Sozialisten um Demokratie und allgemeines Wahlrecht für einen Kompromiss mit der Regierung zu opfern.

Ich komme zu meinen Schlussbemerkungen.

Aus dem Gang der Ereignisse wissen wir, dass Georg Fleischer eine Figur am Rande blieb, Ernst Karl Winters Stellung innerhalb des bürgerlichen Lagers viel zu schwach war, dass Bundespräsident Miklas weder 1933 noch 1938 der Mann der Stunde war und dass Renners Versuche die Sozialdemokraten nur schwächten.

Die Vorgänge, über die ich hier kurz berichtet habe, sind in den Details erforscht, besonders in einer sehr guten Dissertation aus dem Jahre 1972 von Hilde Verena Lang über Bundespräsident Miklas; ebenso in der rechtstechnischen gehaltvollen Diplomarbeit von Thomas Zavadil über die Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofes. – Diese Arbeiten sind aber nicht publiziert und daher nicht ohne Weiteres zugänglich.

Insgesamt führten die außen- und innenpolitischen Krisen dieser Monate zu eigenartigen verfassungspolitischen Phantasien, die – das macht sie für den Verfassungsrechtler so interessant – in den rechtstechnischen Details ziemlich ausgefeilt waren.

Ernst Hanisch schreibt relativierend, dass sich die Regierung Dollfuß, als sie die Reise in Richtung Notstandsdiktatur antrat,

langsam den Weg suchend vorwärts getastet habe.

Meiner Ansicht nach war die Rückkehr zur Bundesverfassung von 1920 wohl keine wirkliche Möglichkeit, sondern eher nur eine mögliche Wirklichkeit, eine Phantasmagoria. – Ich danke. (Beifall.)

*****

Parlamentsvizedirektorin Dr. Susanne Janistyn: Die ReferentInnen haben die ganze Vielfalt und Bandbreite des Themas aufgerissen.

Herr Professor Pelinka, Sie haben die schwierige Aufgabe, hier Anmerkungen dazu zu machen.

Zusammenfassender Kommentar

Univ.-Prof. Dr. Anton Pelinka: Meine Damen und Herren! Ich möchte jetzt zu den vier interessanten und in Teilen auch provokanten Vorträgen Kommentare abgeben, die natürlich hier erstens persönlich und zweitens aufgrund der nicht möglichen Vorbereitungszeit natürlich auch nur kursorisch sein können.

Ich beginne, eben in der Reihenfolge, mit dem Papier von Frau Reiter-Zatloukal.

Ich möchte hier zunächst festhalten, dass die von ihr diskutierten Alternativen natürlich alle historisch gescheitert sind – und dass das nicht nur ein österreichisches, sondern ein europäisches und ein weltweites Scheitern ist. Dass das auch kein Zufall sein kann, sondern für die Robustheit und für die Qualität der pluralistischen liberalen Demokratie spricht. – Es gibt ja den Satz. Wenn man etwas in das Gegenteil verkehren will, dann gibt man das Attribut „echt“ oder „wahr“ dazu.

Die Führerdemokratie, an die wir, wenn wir international denken, zuerst an Carl Schmitt und den Nationalsozialismus denken und nicht unbedingt an Starhemberg, obwohl er den gleichen Gedankengang vertreten hat, und an die Rätedemokratie, daran denken wir an das leninistische Modell, das einen Demokratieentwurf dargestellt hat, aber rasch in der Praxis ins Gegenteil verkehrt wurde.

Eine Anmerkung zu Otto Bauers Position im Rahmen des Bundes-Verfassungsgesetzes von 1920. Sicherlich war sowohl Max Adler als auch Otto Bauers Position eher ein Schreckgespenst, das gegen die Sozialdemokratie instrumentiert wurde, aber Otto Bauers Reflexion nach 1934 über den integralen Sozialismus war schon so etwas wie eine Grenzüberschreitung in Richtung kommunistisches System, aber eben nach dem Ende der demokratischen Republik Österreich.

Die Alternativen sind gescheitert – und nichts ist so deutlich wie die Selbstverständlichkeit, mit der im April 1945 die Unabhängigkeitserklärung der Republik Österreich ausdrücklich die Rückkehr zum Bundes-Verfassungsgesetz von 1920 in der Form von 1929 erklärt. So selbstverständlich negativ war die Erfahrung mit den verschiedenen Alternativen zu diesem Demokratie-Modell.

Aber das ist ja keine österreichische Besonderheit, sondern die Wellen der Demokratisierung, die, nach Samuel Hunt, im 20. Jahrhundert die Welt bestimmt haben, waren ja alle Wellen der Demokratisierung im Sinne der liberalen pluralistischen Demokratie 1918, 1945, dann in den 1970er Jahren etwa im mediterranen Raum, in den 1980er Jahren in weiten Bereichen Asiens und 1990 vor allem auch in Osteuropa.

Die europäische Transformation, die eben den europäischen Kontinent fast geschlossen zu einem Kontinent der liberalen Demokratie gemacht hat, ist vielleicht die größte Erfolgsbilanz des Modells, gegen das in der Ersten Republik von verschiedener Seite Alternativen angeboten wurden.

Eine Anmerkung noch zum Bundes-Verfassungsgesetz 1920. Zum einen: Ist das eine Formaldemokratie? – Ja, weil natürlich jede demokratische Verfassung formal sein muss, weil die Demokratie als ein Prozess beginnt. Aber nein, weil diese Demokratie, wie jede Demokratie, auch Substanz hat, die sich vor allem in den Grund- und Menschenrechten äußert.

War das die Kelsen Verfassung? – Da habe ich meine Zweifel. Kelsen hat der Verfassung ein System gegeben, aber der Inhalt der Verfassung war bestimmt von Karl Renner und Otto Bauer, von Ignaz Seipel und Jodok Fink. Der Kompromiss der Sozialdemokraten und der Christlichsozialen in der verfassungsgebenden Nationalversammlung, das war die Verfassung. Kelsen wird man, glaube ich, dennoch gerecht, wenn man ihn als den formalen Verfassungsgeber bezeichnet, aber nicht als den politischen.

Dass die sogenannte Kelsen-Verfassung in der Ersten Republik politisch gescheitert, aber in der Zweiten Republik dann umso erfolgreicher war, das ist ja wiederum das Ergebnis des Wirkens politischer Kräfte: insbesondere der Repräsentantinnen und Repräsentanten sowohl des sozialistischen als auch des katholisch-konservativen Lagers.

Österreichs Weg in die Diktatur, Helmut Wohnouts Referat. Das ist ein Teil eines Trends, eines europäischen Trends. Am 4. März 1933 waren in Ost- und Mitteleuropa nur noch die Schweiz und die Tschechoslowakei Demokratien. Österreich war umgeben von Diktaturen unterschiedlicher Form: von der jugoslawischen Königsdiktatur über den ungarischen Halbfaschismus und den italienischen Voll-Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus, der polnische halbautoritäre Staat – und so weiter und so fort.

Das heißt, aus der punktuellen Wahrnehmung eines Akteurs des März 1933 war die Aussage „Die Zukunft gehört der liberalen Demokratie“ eine durch die Realität schwer begründbare Aussage. Das erklärt schon auch ein bisschen den Zusammenhang, vielleicht auch Otto Bauers quasi resignative Anmerkung nach dem Februar 1934 vom „integralen Sozialismus“, weil der Glaube an die liberale Demokratie offenkundig die Substanz verloren hatte.

Als Josef Schumpeter 1942 in Harvard „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ verfasste, da war das ein Minderheitenprogramm. In Europa musste damals – neben den Demokratien auf den britischen Inseln noch: Demokratien in der Schweiz und in Schweden – die Vorstellung, dass Schumpeters Demokratiekonzept die Zukunft haben würde, sehr unrealistisch erscheinen. – Wie rasch hat sich das geändert und wie wenig zufällig rückblickend war diese rasche Änderung.

Genauso ist auch das Abhandenkommen des einzigen wirklich historisch realen Gegenmodells, die Zweite Welt, die politischen Systeme sowjetischen Typs. Die sind abhandengekommen – und das ist erst recht der große Erfolg der liberalen Demokratie. Das unterstreicht erst recht die Alternativlosigkeit der liberalen Demokratie, wie sie sich auch im Bundes-Verfassungsgesetz von 1920 ausgedrückt hat.

Francis Fukuyama‘s Paradigma vom „Ende der Geschichte“ ist oft missverstanden worden: zumeist von Personen, die das Buch nicht gelesen haben. „Ende der Geschichte“ heißt auch und vor allem, dass die Demokratie die Position der Alternativlosigkeit erreicht hat. Diesbezüglich ist die Geschichte der Demokratie an einem Endpunkt angelangt, nämlich an dem Endpunkt, an dem es offenkundig kein Alternativangebot mehr gibt – nach der Transformation in der kommunistischen Welt.

Was macht den Unterschied aus? Warum war die Kelsen-Verfassung in der Ersten Republik politisch gesehen kein Erfolg? Warum ist sie politisch gesehen in der Zweiten Republik ein großer Erfolg? – Doch nicht die Verfassung, sondern andere Faktoren. Ich würde hier einmal sehr pauschal anführen: Die politische Kultur und die internationalen Rahmenbedingungen waren ganz andere und deswegen wurde ein und dieselbe Verfassung einmal eine Rahmenbedingung, die die Demokratie nicht sichern konnte und zum anderen Mal eine Rahmenbedingung, die sie selbstverständlich zu sichern verstand.

Rechtsstaat ohne Demokratie, Verfassung vom 1. Mai 1934. Mir sind sofort die Kopenhagen-Kriterien von 1993 eingefallen, als der Europäische Rat beschlossen hat: Um Mitglied der Europäischen Union zu werden, muss man ein demokratisches und ein rechtsstaatliches System haben. Das heißt, Europa geht heute davon aus, dass Demokratie und Rechtsstaat einander bedingend zusammengehören.

Sicherlich ist es so – und das war ja auch das Provokante an den Ausführungen von Herrn Wiederin –, dass die Verfassung vom 1. Mai gleichsam die Quadratur des Kreises versucht hat; Rechtsstaat ohne Demokratie.

Es ist natürlich dann eine semantische Frage, wie man den Rechtsstaat definiert: als Selbstbindung der Politik oder auch als ein System, das vor allem individuelle Grundrechte, einschließlich der zentralen liberalen politischen Grundrechte garantiert. Wenn man den Rechtsstaat auch definiert unter dem Gesichtspunkt der liberalen und individuellen Grundrechte, so kann es keinen nicht-demokratischen Rechtsstaat geben.

Insofern ist die Quadratur des Kreises in der Verfassung des Mai 1934 politisch gescheitert, wenn auch ein interessantes und provokantes Dokument. Ein Rechtsstaat ohne politische Grundrechte, ohne Meinungs- und Pressefreiheit, ein Rechtsstaat, der die Gründung der Parteien nicht erlaubt, ein Rechtsstaat, der Opposition in keiner Weise auch nur vorsieht oder Kritik von Seiten der Opposition, ein solcher „Rechtsstaat“ ist nach heutigem Rechtsstaatsverständnis nicht mehr möglich. – Aber es war ein Versuch in der Verfassung vom 1. Mai 1934.

Noch eine Anmerkung zu den Parteien. Was Alternativkonzeptionen zur Verfassung von 1920 in der Ersten Republik betrifft: Allen war gemeinsam eine Skepsis bis Ablehnung der politischen Parteien. Wir haben ja hier gehört von der Parteienfeindlichkeit. Hier fällt uns doch einiges auf, wenn wir an aktuelle Diskurse denken. Die Parteienfeindlichkeit der gescheiterten Alternativmodelle und die Parteienfeindlichkeit, die im gelegentlichen Diskursbeiträgen heute auch aufscheint.

Zu Jabloner. Ich bin als einer, der sich sehr früh mit Ernst Karl Winter beschäftigt hat, natürlich sehr angetan davon, dass Winter hier, auch im Referat von Herrn Wohnout, betont worden ist. Die Frage ist, glaube ich, auch die des Zeitpunktes. Die Brückenbauer Winter, Fleischer, Renner waren Brückenbauer nach dem März 1933, vor dem Februar 1934.

Rückblickend können wir sagen, die Regierung Dollfuß hat am 4. März 1933 einen „point of no return“ überschritten. Deshalb waren die aus meiner Sicht, wenn man hier sie jetzt vordatieren könnte, was wäre gewesen, wenn Fleischer, wenn Winter, wenn Renner ihre als Kompromisse gedachten Vorschläge nicht nach, sondern vor dem 4. März 1933 gemacht hätten. Wir wissen nicht, was gewesen wäre; das ist eine kontrafaktische Fragestellung. Aber die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass sie nicht so aussichtslos gewesen wären, wie sie gegenüber der Regierung Dollfuß, die hinter sich die Schiffe verbrannt hat nach dem 4. März 1933, sein hat müssen.

Das heißt, auch hier ist die politische Wirklichkeit, die die Chancen eines solchen verfassungspolitischen Angebotes bestimmt, auch hier ist die Verfassungswirklichkeit und nicht der Verfassungstext die entscheidende Rahmenbedingung.

Der Weg von der autoritären Halbdiktatur, März bis Februar 1933, 1934, zum, ich würde sagen, unvollendeten Faschismus und unvollendeten Ständestaat, eingeklemmt zwischen den vollendeten Faschismen Italiens und Deutschlands und den ebenfalls vazierenden, vagen Halbfaschismen anderer Nachbarstaaten, dieser Weg war ein Weg, der nicht zufällig, unschlüssig, ohne Konklusion und inkonsistent geblieben ist. Der Semi-Faschismus hat nicht zum Faschismus geführt. Der Ständestaat hat nicht zum Ständestaat geführt. Die Programme der Regierungen Dollfuß und Schuschnigg sind unvollendet geblieben. Und das ist ja auch ein Teil, der unterstreicht, wie wenig überzeugend die Alternativen zum Demokratiekonzept der liberalen Demokratie, wie sie in der Bundesverfassung von 1920 auch formuliert ist, wie wenig überzeugend, wie wenig realistisch diese Angebote sind.

War der Weg ab dem 4. März 1933 unvermeidlich? – Ich würde als Hypothese sagen: vermutlich schon.

War der Weg vor dem 4. März 1933 unvermeidlich? – Ich würde als Hypothese sagen: vermutlich nein.

Der 4. März 1933 hat mit hoher Wahrscheinlichkeit die Rahmenbedingungen hergestellt, die nicht mehr zu verändern waren, die den Untergang der demokratischen Republik, aber auch den Untergang der österreichischen Selbständigkeit besiegelt haben. – Danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall.)

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Parlamentsvizedirektorin Dr. Susanne Janistyn: Vielen Dank für den Kommentar.

Ich habe beobachtet, dass die Referenten sich einige Notizen gemacht haben und würde in die Runde fragen, wer möchte den Faden aufgreifen? – Bitte, Herr Professor Jabloner.

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Univ.-Prof. Dr. Clemens Jabloner: Ich würde gerne Pelinkas Kommentar kommentieren.

Klarerweise hat Kelsen nicht alle Inhalte der Verfassung von 1920 vorgegeben. Er war legistischer Berater, Rechtstechniker und kein verfassungspolitischer Kreator. Aber was er der ganzen Sache gegeben hat, war doch eine gewisse Form. Er hat das Verfassungsrecht operationalisiert. Kelsen hat mit dem Verfassungsgerichtshof die Normenkontrolle österreichischen Zuschnitts eingeführt. Er hat für den Einbau des Völkerrechts in die innerstaatliche Rechtsordnung gesorgt – und anderes mehr.

Aber richtig ist eine Beobachtung, dass in einem vielleicht noch stärkeren Maß als der Theoretiker Kelsen die Praxis beeinflusst hat, dass die Praxis, nämlich die Rechtstechnik des B-VG eine Rückwirkung gehabt hat auf die reine Rechtslehre, was ein interessantes Thema ist; etwa bei der Bundesstaatstheorie zeigt sich das.

Zweiter Punkt, dass die Demokratie heute alternativlos wäre, hört man mit Freude, aber ich glaube das eigentlich nicht. (Dr. Pelinka: …außer Saudi Arabien und dem Vatikan!) Dass das in den europäischen Konzepten, gerade als Politologen muss ich Sie das fragen, heute keine Rolle spielt, wenn Sie die Entwicklung in einigen europäischen Staaten ansehen, so überrascht mich das eigentlich. – Aber bitte.

Man kann die Begriffe „Rechtsstaat“, „Demokratie“, „Republik“ – das ist meine dritte Bemerkung – beliebig anreichern; das ist ganz klar. Man kann auch sagen, wie Marcic seinerzeit: Demokratie und Rechtsstaat sind an der Wurzel eines – oder ähnliches. Aber wenn Juristen einen Rechtsstaatsbegriff bilden, dann versuchen sie eben, ihn in einer möglichst abgeklärten und vereinfachten Substanz zu bilden.

Deswegen glaube ich schon, dass Wiederin recht hat, dass der Rechtsstaat zunächst einmal mit der Demokratie nichts zu tun hat. Das, was 1934 gemacht wurde oder 1933 schon, war ein Anknüpfen eigentlich an die Dezember-Verfassung. In der Dezember-Verfassung, die ja, was demokratische Strukturen anlangt, noch nicht so ausgeprägt war, war es aber sehr wohl schon ein sehr ausgebauter Rechtsstaat, weshalb man sagen kann, dass das rechtsstaatliche Prinzip in diesem Sinne in das B-VG eingeht, weil es dort schon vorausgesetzt war. – Danke. (Beifall.)

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Parlamentsvizedirektorin Dr. Susanne Janistyn: Bitte, Herr Professor Wiederin.

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Univ.-Prof. Dr. Ewald Wiederin: Pelinka hat es auf den Punkt gefragt, die Frage im Zusammenhang mit dieser Analyse der Verfassung 1934: Rechtsstaatlichkeit ohne Demokratie – geht das überhaupt? Was für mich faszinierend war: In dieser Verfassung hat man es versucht, und zwar ernsthaft versucht – und ich glaube, das war nicht vorgeschoben, das war keine reine Fassadengeschichte, wie das von nationalsozialistischer Seite kritisch bemerkt worden ist, sondern das war sozusagen die verfassungsrechtliche Kernkompetenz der Christlichsozialen. Für Rechtsstaatlichkeit waren die da. Da durfte auch niemand besser sein als sie.

Im Versuch, Rechtsstaatlichkeit zu machen, hat man völlig selbstverständlich – und das gilt dann eigentlich im Grunde für mehr als die halbe Verfassung – an das Erbe, das von der Dezember-Verfassung da war, angeknüpft. Man hat die Ausbauten, die die Rechtsstaatskonzeption durch die Verfassungsgerichtsbarkeit 1920 bekommen hat, beibehalten. Das hätte man auch anders machen können. Und die Gesetzesprüfung birgt natürlich politische Risken.

Der nächste Punkt ist dann sicher auch die Frage, wie definieren wir Rechtsstaat. Ist ein Rechtsstaat ohne Grundrechte möglich? – Bei einem materiellen Rechtsstaatsverständnis: nein. Aber selbst da würde ich sagen: Das war kein Staat ohne Grundrechte. Es gab Grundrechte, die ebenfalls ernst gemeint waren.

Etwas, was für mich überraschend war zu beobachten, war, dass es eben auch eine autoritäre Grundrechtstradition gibt – und dass wir uns in den Sack lügen, wenn wir sagen, Grundrechte sind demokratisch und daher gut. Da arbeiten wir mit überlappenden Konsensen. – Vielen Dank.

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Parlamentsvizedirektorin Dr. Susanne Janistyn: Bitte, Frau Dr. Reiter-Zatloukal.

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Univ.-Prof. Dr. Ilse Reiter-Zatloukal: Es kommt bei diesem Thema noch eines dazu, was Pelinka schon gesagt hat: Wir müssen schon unterscheiden, wie schaut die juristische Rechtsstaatskonzeption aus, was steht in der Verfassung – und was die Realität? Da kann man vielleicht der Frage auch zu Leibe rücken: Warum dieser Versuch, den Rechtsstaat in die Verfassung zu bringen? Da würde ich jetzt spontan sagen: Angesichts der Übergangsphase oder wie man die Übergangsphase definiert, in der der Rechtsstaat praktisch nicht für große Teile der Bevölkerung wirksam wird, ist sozusagen das Versprechen für die Zukunft nach Implementierung der Verfassung.

Wenn wir uns anschauen, was passiert auf der Notverordnungsebene, die der Prüfungskompetenz entzogen sind, da haben wir für weite Teile der Bevölkerung die Negation des Rechtsstaates, und man könnte vielleicht diesen Versuch, den Rechtsstaat in die Verfassung zu schreiben, so als Versprechen für Danach definieren. Bei der Unabhängigkeit der Rechtspflege sehen wir es auch. Die Verfassung schreibt es fest, aber sie findet in der Realität nicht statt.

Ich glaube, da müssen wir immer aufpassen, wovon wir sprechen: Sprechen wir vom Verfassungstext, von juristischen Diskussionen oder Interpretationen – oder reden wir einfach von der Realität.

Was Parteienfeindlichkeit anlangt, danke ich Ihnen für den Hinweis auf die Gegenwart. Ich halte es auch für ganz gefährlich, diese Parteienfeindlichkeit zu schüren, weil es zum Wesen der Demokratie, wie ich es im historischen Kontext angesprochen habe, einfach dazugehört, eine funktionierende Parteienlandschaft zu haben.

Was die Alternativenlosigkeit der liberalen Demokratie anlangt, so hoffe ich auch, dass Sie Recht haben. Ich bin nicht so überzeugt.

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Parlamentsvizedirektorin Dr. Susanne Janistyn: Herr Dr. Wohnout, darf ich Sie um Ihre Anmerkungen bitten.

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Priv. Doz. Dr. Helmut Wohnout: Ich schiebe jetzt sozusagen die Frau Kollegin Reiter-Zatloukal zu den Juristen und sage, dass ich der einzige Historiker hier am Podium bin und möchte zwei spezifisch historische Anmerkungen machen. Die erste knüpft an das unmittelbar Vorhergesagte an, das Rechtsstaatsverhältnis sozusagen, das Selbstverständnis des Rechtsstaates gerade der führenden christlichsozialen Politiker in diesen Jahren, in den 1930er-Jahren.

Mir ist eigentlich mehrfach aufgefallen, das ist ein Verständnis, das in unglaublich starker Art und Weise aus dem Bewusstsein und dem Erleben der Monarchie und ihrer verfassungsmäßigen Rahmenbedingungen gespeist ist. Es ist eben ein Rechtsstaatsverständnis, das gespeist ist aus der Verfassung des Jahres 1867. Ich glaube, Manfried Welan hat sich einmal als „bestenfalls halbdemokratische Verfassung“ bezeichnet.

Gespeist ist das also auch aus einem Rechtsstaatsverständnis, das sich sehr stark aus dem AGBG speist, aber es ist kein Rechtsstaatsverständnis, das sich aus dem Bewusstsein der Verfassung 1920 gespeist hat. Ich glaube, das muss man immer wieder im Kopf behalten, nämlich dieses doch sehr starke Anknüpfen an die Verfassungstraditionen vor 1918, eines sehr konservativen Grundrechtsverständnisses. Ein Verständnis von Grundrechten, das nicht an die liberal-demokratischen Grundrechte, wie wir sie heute verstehen, angeknüpft hat. Ich glaube, dass das eine sehr große Rolle gespielt hat.

Eine zweite Anmerkung, die ich gerne machen möchte, ist eine durchaus bekräftigende Anmerkung zu dem, was Professor Pelinka gesagt hat, nämlich zu den Monaten vor 1933, vor dem 4. März 1933. Währenddessen die Zeit vom Oktober 1932 und die Entwicklungen vom Oktober 1932 bis zum 4. März 1933 vergleichsweise passabel wissenschaftlich erforscht sind, gilt das für die erste Zeit der Regierung Dollfuß, für die Zeit vom Mai 1932 bis zum Herbst 1932 nicht in der Form. Es gibt die Arbeit von Grete Klingenstein aus den frühen 1960-er Jahren; auch die Arbeit von Peter Huemer, aber sonst sehr wenig.

Das, was ich mich immer frage, und ich glaube, diese Dinge sind nur Fragen, die ich formulieren kann, weil es da doch wahrscheinlich einer ergebnisoffenen Quellenforschung bedarf: Als Dollfuß Regierungschef geworden ist, ist ihm der Ruf vorausgegangen, dem demokratischen Lager der Christlich-Sozialen um den niederösterreichischen Landeshauptmann Reiter anzugehören. Jedenfalls: einer der typischen Seipel-Epigonen war er ganz sicher nicht. Ganz im Gegenteil: Zu denen hat ihm ein eher anfangs problematisches, auch persönliches Verhältnis verbunden.

Der von mir ja auch genannte Richard Schmitz beispielsweise hat sich im Frühjahr 1933 geweigert, einer Regierung Dollfuß beizutreten, durchaus aus diesem Spannungsverhältnis heraus.

Ich will mich nicht in Details verlieren, aber es stellt sich die Frage: Was hat sich in den ersten Monaten des Jahres 1932 getan? Stimmt es nicht – das ist auch eine Möglichkeit –, dass Dollfuß, dem dieser Nimbus vorausgegangen ist, dieser Gruppe angehört hat! Er war ja selbst nie Abgeordneter; er war ja eigentlich ein Technokrat in der Politik. Ist diese Zuordnung vielleicht ganz nicht so richtig, die allgemein getroffen wird? Ist sie doch richtig – und was ist zwischen Mai 1932 und den Lausanner Verträgen passiert? Da gibt es viele Mutmaßungen.

Ich meine, das ist tatsächlich ein Forschungsdesiderat, das es wert wäre, genauer erforscht und untersucht zu werden.

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Parlamentsvizedirektorin Dr. Susanne Janistyn: Eine kleine Anmerkung ist noch erlaubt. – Bitte.

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Univ.-Prof. Dr. Anton Pelinka: Erstens einmal: Die Demokratie ist nicht sicher. Ich stelle nur beobachtend fest, es gibt keine schlüssige Antithese zur Demokratie mit dem Ende der politischen Systeme sowjetischen Typs. Das heißt nicht, wir können die Hände in den Schoß legen und glauben, die Sache sei erledigt. Ich suche nur und finde keine Antithese zur liberalen Demokratie – nicht dass ich sie gerne hätte, aber die Debatte wäre recht.

Noch eine Bemerkung zum Rechtsstaat. Wir wissen, Herr Wohnout natürlich auch, dass die Vaterländische Front eine mühsam zugedeckte pluralistische Vereinigung war. Da hat es Fraktionen in der Einheitspartei gegeben, die mit der Vergangenheit nicht so radikal brechen wollten, wie etwa Odo Neustädter-Stürmer, der ein offener Faschist war, oder auch Starhemberg, der phasenweise zwar Anti-Hitler, aber auch ein offener Faschist war.

Ich sehe, als Hypothese, diese Rechtsstaatlichkeit auch als Placebo-Versprechen eines Systems, das die Rechtsstaatlichkeit versprochen, aber nicht gelebt hat. – Danke. (Beifall.)

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Parlamentsvizedirektorin Dr. Susanne Janistyn: Vielen Dank, meine Damen und Herren. Wir müssen die Diskussion an diesem Punkt anhalten, weil wir ja noch einen zweiten Teil heute vor uns haben. Und ich darf Sie nun zu einer kurzen Kaffeepause einladen. Um 16.30 Uhr wollen wir das Symposium fortsetzen. Wenn Sie den Ausgang wählen: An der Rückseite des Lokals warten Kaffee und Kuchen auf Sie. – Danke schön. (Beifall.)

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(Unterbrechung. 16.05 Uhr bis 16.34 Uhr)

*****Parlamentsvizedirektorin Dr. Susanne Janistyn: Sehr geehrte Damen und Herren! Wir dürfen das Symposium fortsetzen mit dem Schwerpunkt

„Wirtschafts- und europapolitische Verortung der Ereignisse“.

Ich darf Ihnen den Kreis der ReferentInnen kurz vorstellen.

Zunächst möchte ich vorstellen Herrn Univ.–Prof. Dr. Dieter Stiefel. Er lehrt am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. Als Research Fellow forschte er an den Universitäten Harvard und Berkeley. Professor Stiefel ist Vorsitzender des Vorstandes der Schumpeter-Gesellschaft in Wien und Vorstandsmitglied des Ludwig Boltzmann Instituts für historische Prozessanalyse an der Wirtschaftsuniversität Wien.

Bezogen auf das heutige Symposium verweise ich auf seine Publikationen zur Krise der Kreditanstalt 1931 sowie zur Finanz- und Wirtschaftspolitik zwischen 1929 und 1938.

Herr Professor Peter Lindseth an meiner rechten Seite ist Professor für Internationales Recht und Rechtsvergleichung an der Connecticut School of Law. Er war Gastprofessor an den Universitäten Yale und Princeton. Seine Studien zur historischen Entwicklung der Verwaltungsstaaten im 19. und 20. Jahrhundert sowie zum Entwicklungsprozess der Europäischen Union führen ihn immer wieder nach Europa; Herr Professor Lindseth kommt gerade aus Oxford. Er unterrichtet und forscht auch an der American Academy in Berlin, am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz sowie an der Université Pantheon-Assas, Paris, um nur einige zu nennen.

Professor Lindseth begründete einen Block, der den Austausch nordamerikanischer WissenschaftlerInnen, die sich mit europäischem Recht auseinandersetzen, unterstützt.

Frau Univ.-Prof. Dr. Sonja Puntscher-Riekmann ist Universitätsprofessorin für Politische Theorie unter Berücksichtigung der europäischen Politik. Sie leitet das Salzburg Center of European Union Studies, ein interdisziplinäres Forschungs- und Lehrzentrum auf internationalem Exzellenzniveau, dem 2008 der Status als Jean Monnet Centre of Excellence zuerkannt wurde. Zwischen 2003 und 2011 war Prof. Riekmann Vizerektorin der Universität Salzburg. Mit ihrem multidisziplinären Hintergrund bringt sie sich in zahlreichen wissenschaftlichen Institutionen ein, darunter die Österreichische Akademie der Wissenschaften – und seit vergangenem Jahr ist sie auch Vizepräsidentin des Europäischen Forums Alpbach. Sie ist Jurymitglied der Margaretha Lupac-Stiftung für Parlamentarismus und Demokratie, einer gemeinnützigen Stiftung des Parlaments. In zahlreichen Publikationen beschäftigte sie sich mit der europäischen Verfassung des europäischen Parlamentarismus sowie der europäischen Integration.

Herr Univ.-Prof. Dr. Ernst Bruckmüller ist in diesem Teil unser Kommentator. Er lehrt am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. Prof. Bruckmüller ist seit 2006 wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und ein Mitbegründer des Karl von Vogelsang-Instituts zur Geschichte der christlichen Demokratie in Österreich. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Geschichte des Bürgertums ebenso wie die Sozialgeschichte Österreichs, Nationalbewusstsein und Nationsbildung. Er ist Herausgeber des zwei Bände umfassenden Österreich-Lexikons und unter anderem Verfasser der Sozialgeschichte Österreichs.

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Am Beginn unserer Veranstaltung wurde ja schon darauf hingewiesen, dass unsere Referentin, Frau Dr. Helene Schuberth, leider aus Krankheitsgründen heute nicht teilnehmen kann. Wir wollen sie aber trotzdem Ihnen auch vorstellen, und ich werde im Anschluss an die Vorstellung von ihr auch kurz ihre Grundgedanken für das von ihr geplante Referat vortragen, damit auch die Referenten die Möglichkeit haben, auf diese Gedanken auch noch weiter einzugehen, damit sie eben für heute nicht verlorengehen in der Diskussion.

Frau Dr. Helene Schuberth ist seit zwei Jahrzehnten in der Österreichischen Nationalbank beschäftigt und derzeit Senior Advisor in der Hauptabteilung Volkswirtschaft. 2007 und 2008 war sie darüber hinaus die wirtschaftspolitische Beraterin des österreichischen Bundeskanzlers. Sie studierte Ökonomie und Sozialwissenschaften an der Universität Wien sowie in Harvard.

Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Geld- und Fiskalpolitik, Struktur- und Arbeitsmarktpolitik, Finanzmarktregulierung sowie makroökonomische Koordinierung. In ihren jüngsten Publikationen setzt sie sich mit der globalen Finanzkrise und ihren Auswirkungen sowie der Bedeutung der Finanzwirtschaft für die Gesellschaft auseinander.

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Jetzt gleich anschließend die kurze Vorstellung des geplanten Vortrages von Frau Dr. Schuberth. „Strategien der aktuellen Krisenbewältigung im historischen Vergleich“.

Die Geschichte von Finanzkrisen zeigt erstaunliche Parallelen. Sie wurden in der Regel durch Deregulierung des Finanzsystems, steigende Verschuldung, Ungleichgewichte und Ungleichheiten verursacht. Die historische Erfahrung zeigt aber auch, dass von der wirtschaftspolitischen Reaktion auf die Krise gesellschaftspolitische Konsequenzen ausgehen, zum Beispiel, sich autoritäre Strukturen verfestigen.

In den USA aber ist im Unterschied zu Kontinental-Europa das demokratische System gestärkt aus der großen Depression hervorgegangen. Es ist vor allem einer historisch erstaunlichen internationalen Kooperationsbereitschaft, der Absage an nationalstaatliche Egoismen zu verdanken, dass letztendlich die negativen Wirkungen der Krise seit 2007 begrenzt werden konnten.

Langfristig erfolgreich wird Krisenbewältigung aber nur dann sein, wenn parallel zu den kurzfristigen Stabilisierungsmaßnahmen inklusive Liquiditätsunterstützung durch Notenbanken das Banken- und Finanzsystem strikt und effektiv reguliert wird. Die Europäische Union hat auch in dieser Hinsicht, wie zuletzt mit der Zentralisierung der Bankenaufsicht, die Weichen dafür gestellt, dass Europa gestärkt aus der Krise hervorgehen wird.

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Herr Professor Stiefel, ich darf Sie nun um Ihren Vortrag bitten.

„Der Ruf nach autoritären Strukturen: Weltwirtschaftskrise und Ständestaat“

em. Univ.–Prof. DDr. Dieter Stiefel (Universität Wien, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte): Meine Damen und Herren! Ich habe hier die Aufgabe, den Ständestaat, die Ereignisse der dreißiger Jahre aus der Sicht der Wirtschaft beziehungsweise aus der Sicht der Selbständigen und der Wirtschaftspolitik kurz zu skizzieren.

Der Titel heißt „Der Ruf nach autoritären Strukturen“. Im Großen und Ganzen ist es eigentlich der Versuch, die Stimmung und die Ursachen für eine gewisse Stimmung in der Wirtschaft darzustellen, die eben diese autoritären Strukturen unterstützen.

Es ist ganz klar, dass aus wirtschaftlicher Sicht der österreichische Ständestaat reaktionär im eigentlichen Sinn des Wortes war, und zwar eine Reaktion auf das Erstarken der Arbeiterbewegung nach dem Ersten Weltkrieg. Schon die schlechte wirtschaftliche Entwicklung in den 1920er Jahren wurde diesem politischen Einfluss zugeschrieben und diese Haltung verstärkte sich noch in der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre.

Ich möchte hier zwei kurze Zitate dazu bringen, und zwar von zwei Vertretern der österreichischen Schule der Nationalökonomie, die heute berühmt als „Austrian Economics“ vor allen Dingen in den USA und in England sind und die als wirtschaftlich völlig liberal gelten.

Der führende Kopf – das wissen Sie ja – war der Ludwig von Mises. Ludwig von Mises schrieb schon 1931, dass der Staat vor den Gewerkschaften kapituliert hat. Kollektivvertrag, Arbeitslosenunterstützung, Streikrecht sind nicht die Lösung des Problems, sondern die Ursache. Die Lösung heißt, dass der Staat und der politische Einfluss aus der Wirtschaft hinaus muss.

1934 schrieb der damalige Leiter des Österreichischen Instituts für Konjunkturforschung, Oskar Morgenstern, der auch dieser Richtung angehört – ich zitiere –:

Eine autoritäre Regierung widerspricht der liberalen Wirtschaftspolitik nicht, sondern im Gegenteil: Sie bietet ihr größere Möglichkeiten, denn in der Wirtschaft kommt es weniger darauf an, positive Maßnahmen zu setzen als diese zu unterlassen. Wirtschaftspolitik ist immer darauf gerichtet, jemanden einen größeren Happen am Nationalprodukt zu sichern, auch um den Preis, dass der ganze Kuchen kleiner werde. Der autoritäre Staat kann demgegenüber nein sagen und ist daher dem parlamentarischen Staat überlegen. – Zitatende.

Das Ganze baut auf einer Erfahrung auf, die man natürlich ziemlich ausführlich diskutieren müsste, die Erfahrung der 1920er Jahre, wo der Anteil der Löhne und Gehälter am Bruttonationalprodukt stark gestiegen ist, ebenso der Anteil des Staates, während die Einkommen aus Besitz und Unternehmungen deutlich zurückgegangen waren.

Das findet natürlich einmal in einer Wirtschaft statt, die zurückgegangen ist, die also ärmer war wie die der Vorkriegszeit, einer Wirtschaft, die auch durch die Inflation stark beeinflusst gewesen ist, wo sich tatsächlich die Arbeiterschaft besser halten konnte als letztendlich die Einkommen aus Besitz und Unternehmungen und letztendlich in einem langfristigen Trend von steigenden Staatsausgaben.

Wenn ich also eine Kurve lege von den Jahren 1900 bis 1960, so sehe ich, dass es zwar während des Krieges einen Einbruch gegeben hat, aber dass die steigenden Staatsausgaben in dieser Zeit durchaus diesem normalen Trend entsprechen. Dennoch war es für die Wirtschaftstreibenden eine markante Erscheinung, dass in einer Zeit, in der sie extreme wirtschaftliche und Absatzprobleme haben, der Anteil der Sozialleistungen des Staates und der Anteil der Löhne stark angestiegen ist, während die Gewinn- und die Investitionsmöglichkeiten tatsächlich zurückgegangen sind.

Wir erkennen auch während der gesamten Zwischenkriegszeit eine Diskussion über zu hohe Löhne und zu hohe soziale Lasten. Mit den sozialen Lasten ist das etwas, was sich bis heute ohne Zweifel weiterhin gehalten hat. Dieser sogenannte Einkommensvorsprung der Arbeitnehmerseite, der ein relativer war – im Grunde genommen hatten sie auch weniger als in der Vorkriegszeit, aber hatten sich doch etwas besser gestellt als die Kapitaleinkommen –, diesen Einkommensvorsprung konnte an sich die Arbeiterschaft während der ganzen parlamentarischen Zeit im Großen und Ganzen halten. Das war auch einer der wesentlichen politischen Ziele der Sozialdemokraten.

Dieser Einkommensvorsprung hat sich auch am Anfang der Weltwirtschaftskrise charakterisiert, denn die Gewinne gehen am Anfang der Krise immer stärker und schneller zurück, als es die Löhne sind. Es braucht viel mehr Zeit, Löhne und Personal abzubauen, also um den Gewinnen zu entsprechen.

Auch da hatte man den Eindruck als Unternehmer oder als Selbständiger, dass da etwas völlig falsch läuft. Erst ab 1931 kippt das, aber die stärkste Reduktion der unselbständigen Einkommen erfolgt erst in der Zeit des Ständestaates und man kann ziemlich deutlich sagen – auch anhand von Statistiken –, dass die relative Reduzierung der Löhne und unselbständigen Einkommen ohne Zweifel ein Ziel des Ständestaates gewesen ist, dass der Ständestaat also in diesem Sinne ein Staat der Selbständigen gewesen ist.

Zum zweiten muss man sich vorstellen – ich spreche hier auch ein bisschen, ich würde sagen, aus einer indirekten Erfahrung aus der Unternehmensgeschichte –: Wenn Sie die Stellungnahmen von Unternehmensleitern in den zwanziger- und dreißiger Jahren lesen, so haben die immer eine Erinnerung an die Vorkriegszeit.

Man muss überhaupt sagen, dass die Menschen der dreißiger- und vierziger Jahre natürlich das Produkt des 19. Jahrhunderts sind und es dort bestimmte Strukturen gibt, auch das Autoritäre in der Erziehung, in der Familie, in der Schule, auch im Militär. Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg war eine mit sehr wenig Sozialgesetzen und Arbeitsgesetzen – und jetzt mit einem Male kommen, um 1920, die Arbeits- und Sozialgesetze wie eben Betriebsrat, Arbeiterkammer, Kollektivvertrag, Acht-Stunden-Tag und so weiter. Das waren damit Eingriffe in die Selbständigkeit des Unternehmers.

Man muss sich im Klaren darüber sein – das gilt bis heute –, dass wirtschaftliche Organisationen in der Regel autoritär geführt sind. Sie haben also ganz klare Strukturen, Kompetenzen; die oberste Unternehmensleitung kann und hat zu entscheiden, und es gibt wenige Ausnahmen von dieser Struktur. Das war im 19. Jahrhundert natürlich viel weiter, als es das später gewesen ist, und diese politischen Eingriffe von außen sind von den Unternehmensleitungen als Störung der Wirtschaftstätigkeit empfunden worden, als einer der Gründe, warum die Konjunktur nicht wirklich anspringt und sich nicht wirklich besser entwickeln kann.

Dazu möchte ich auch zwei kurze Zitate bringen. Sie werden vielleicht den Grazer Ökonomen Josef Dobretsberger kennen, der sicherlich einer der seriösen Vertreter des Ständestaates gewesen ist, der auch nach 1945 einmal einen Artikel geschrieben hat, in dem erklärt hat, warum das gescheitert ist und wie sehr sie falsch gelegen sind. Bei Josef Dobretsberger in den dreißiger Jahren war das Ziel des Ständestaates die Wiedererstarkung des echten Unternehmergeistes, um der privaten Initiative den Weg freizugeben.

Der ehemalige Handelsminister Guido Jarkoncig schrieb – ich zitiere –:

Die Schaffung des Autoritätsstaates auf ständischer Grundlage, der Grundsatz der Förderung der Persönlichkeit führt notwendigerweise zur Förderung des selbständigen Unternehmers – gleichgültig ob es sich um einen kleinen Gewerbetreibenden oder um einen Großindustriellen handelt. In jedem Staate sind die Kreise der selbständigen Erwerbstätigen diejenigen, die wie der Bauer auf seiner Scholle in ihren eigenen Betriebsstätten nach freier Entschließung und unter eigener Verantwortung tätig sind, die wertvollsten Stützen des Staates und der Wirtschaft. – Zitatende.

Daraus wird deutlich, dass der Ständestaat ohne Zweifel von der Ideologie her ein Staat des Privateigentums war und ein Staat der Selbständigen und Unternehmer. Der Ständestaat muss ja etwas mit der Wirtschaft zu tun gehabt haben, denn mit den Ständen sind ja die Berufsstände gemeint und damit eigentlich die selbständige Verwaltung von gewissen, man kann sagen, Branchen, und dort von Arbeitgebern und Arbeitnehmern.

Diese Berufsstände sollten sich also selbst verwalten, und es war eigentlich von der Theorie her das Ziel, dass sich der Staat aus der Wirtschaft heraushält. Doch diese Harmonisierung der Interessen hat im Ständestaat nicht stattgefunden. Der Staat griff weiter über Steuern, Zölle, Subventionen und Marktordnungen einseitig in die Wirtschaft ein.

Da gibt es zwei Bereiche, die dramatisch bevorzugt wurden auf Kosten der anderen Bereiche. Einmal gab es eine Dominanz des Finanzbereiches. Ihm wurden alle anderen Wirtschaftsbereiche nachgeordnet. In Österreich wurden in den dreißiger Jahren weit mehr öffentliche Mittel für die Sanierung der Banken als für die Sanierung des Arbeitsmarktes aufgebracht – und dabei war es dem Finanzbereich auch noch gelungen, sich vom politischen Einfluss weitgehend freizuhalten, obwohl er vom Staat massiv subventioniert und gerettet wurde.

Das Finanzwesen war so etwas wie ein liberaler Wirtschaftsblock, der in die Zeit des Ständestaates hineinragte

Der zweite Wirtschaftsbereich – und das ist sicherlich nicht unverständlich – war der Agrarsektor. Der Agrarsektor verstand es in der Zwischenkriegszeit ganz gut, sowohl mit der Demokratie als auch mit der Diktatur zu überleben.

Man sollte hier vielleicht noch kurz erwähnen, dass die Selbständigen, von denen ich spreche, natürlich eine wesentlich größere Zahl in den zwanziger- und dreißiger Jahren waren als heute, weil es noch viele Bauern gab und viele Kleingewerbetreibende, Kleinhändler und dergleichen. Das war also ganz eine andere politische Basis.

Bei der Landwirtschaft war es so, dass bis in die dreißiger Jahre ein Drittel der Erwerbstätigen in diesem Bereich beschäftigt waren. Das heißt, die Landwirtschaft war nicht nur ein sehr wichtiger wirtschaftlicher Faktor, sondern auch die verlässlichste politische Basis des Konservativismus in Österreich und, direkt gesagt, natürlich auch die verlässlichste Basis von Dollfuß.

Das führte zu einer massiven Unterstützung der Landwirtschaft. Die größte Agrarkrise des 20. Jahrhunderts brachte der österreichischen Landwirtschaft daher eine weitreichende Marktregulierung und eine Abkoppelung vom Weltmarkt. Während der Lebensmittelumsatz von 1929 bis 1936 um etwa ein Viertel zurückging, konnten sich die Agrarpreise weitgehend stabil halten und machten in Österreich zum Teil das Doppelte des Weltmarktes aus.

Zusammenfassend kann man daher aus wirtschaftlicher Sicht zum Ständestaat sagen, er brachte ein Dominanz der Finanzpolitik, das heißt, eine Fortsetzung der liberalen Wirtschaftspolitik der zwanziger Jahre mit autoritären Mitteln und unter Bedingungen, in denen sie in den meisten anderen Ländern bereits aufgegeben worden waren.

Der Ständestaat brachte eine machtpolitisch begründete Durchsetzung agrarischer Monopolisierungsinteressen auf Kosten anderer Wirtschaftsbereiche und des Massenkonsums. – Man muss vielleicht noch einfügen – wie alles, was hier gesagt wird –, es gibt natürlich schon Differenzierungen. Agrar bedeutet im Wesentlichen die Landwirtschaft von Ost-Österreich. Die alpine Landwirtschaft ist weit weniger begünstigt worden als die andere. Also weniger Rinderzucht, sondern viel stärker Getreide. Es ist auch der Weinbau viel stärker gefördert worden als der Bierkonsum. Bier ist in dieser Zeit teurer geworden als Wein, eben aufgrund dieses Ganzen.

Worauf es mir besonders ankommt, ist: Der Ständestaat brachte eine Einkommensumverteilung, eine Verlagerung der Einkommensströme von den Unselbständigen zu den Selbständigen und vom Konsumenten zum Produzenten. Das heißt, wir haben es hier eigentlich – und das mag für heute ganz interessant sein – mit einer Nachkrisenpolitik zu tun.

Die Weltwirtschaftskrise ist ja 1933/34 im Großen und Ganzen vorbei. In anderen Ländern zieht die Wirtschaft bereits deutlich. Ziel des Ständestaates war es aber nicht, den Wirtschaftsaufschwung zu fördern, sondern im Wesentlichen die Stabilisierung des politischen Status quo angesichts der Bedrohung von rechts und links; ebenso der Aufrechterhaltung von gewissen Privilegien einzelner Wirtschaftsgruppen.

Dass der Ständestaat gescheitert ist, ist an sich nichts Besonderes, was hier zu erwähnen ist. Dieses Modell des Standes, das ja ein mittelalterliches Modell ist, ist ja eigentlich völlig absurd in einer modernen Industriegesellschaft, die Österreich ohne Zweifel war. Auch „christlich-sozialer Ständestaat“ ist natürlich fast ein Widerspruch in sich selber, denn wie kann man christlich-sozial sein, wenn man eine Diktatur errichtet und Teile der erwerbstätigen Bevölkerung sozusagen unterdrückt und ihnen auch die Löhne, Unterstützungen kürzt und dergleichen.

Dieser Ständestaat, der eine Idee war, wie sie sonst eigentlich in Europa nirgends stattgefunden hat, der konnte nicht nur scheitern, sondern ist im Großen und Ganzen nicht vollzogen worden. Die Erfahrung, die wir haben, ist, dass der Ständestaat am Anfang durchaus von den Selbständigen getragen wurde – von den Unternehmern, von den Kapitaleigentümern, von den Gewerbetreibenden, von den Kleinhändlern und den Bauern, die endlich wieder Herr im eigenen Haus wieder waren –, die aber sehr bald erkennen mussten, dass der Ständestaat einseitig agiert und dass vor allen Dingen auch die Unterdrückung der Arbeitnehmerseite sehr bald die Unterdrückung ihrer eigenen Interessen bedeutet.

Dieser Konflikt kommt dann 1936 heraus, als die Wirtschaftskammern in Österreich aufgelöst werden sollten, die Wirtschaftskammern, die eine sehr lange Geschichte hatten und die sich vehement dagegen gewehrt haben und daher 1936/37 eine Bundesorganisation bekommen haben. Vorher hat es ja schon einen Gewerkschaftsbund gegeben, und mit der Errichtung des Gewerkschaftsbundes und einer Bundeswirtschaftskammer ist der Ständestaat, der ja den Konflikt zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, zwischen Gewinnen und Löhnen leugnet, also eigentlich den Klassenkampf, mit diesen beiden Organisationen hat er sich praktisch aufgegeben und das Ganze ist letztendlich zu einer sehr depressiven Diktatur, kann fast sagen, zusammengeschrumpft, einem Faschismus ohne der Begeisterung der Massen und ohne die Begeisterung der Straße.

Im Allgemeinen – und wir und sagen das auch bei Vorlesungen –: Der Ständestaat hat trotzdem eine gewisse Erfahrung gebracht. Er hat den Selbständigen die Erfahrung gebracht, dass man nur mit einer Arbeitnehmerorganisation agieren kann und dass die Unterdrückung einer Seite sie selbst gefährdet. Und das ist letztendlich eine der Voraussetzungen für die Sozialpartnerschaft, wie wir sie nach 1945 haben. – Danke. (Beifall.)

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Parlamentsvizedirektorin Dr. Susanne Janistyn: Herr Professor Stiefel hat sich auseinandergesetzt mit den wirtschaftspolitischen Konflikten des Ständestaates.

Ich darf nun das Wort weitergeben an Herrn Professor Lindseth, der sich mit der Rolle der Gesetzgebung in Verwaltungsstaaten zwischen 1920 und 1950 auseinandersetzen und insbesondere die Rolle von Deutschland und Frankreich erfassen wird.

May I give you the floor, Mr. Lindseth.

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Prof. Peter Lindseth, JD, PhD (University of Connecticut, School of Law):

(Der Vortrag findet in englischer Sprache ohne Übersetzung statt.)

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Parlamentsvizedirektorin Dr. Susanne Janistyn: Vielen Dank, Herr Prof. Lindseth.

Frau Prof. Puntscher-Riekmann hat sich die Entwicklung des Europäischen Parlaments genauer angeschaut. – Bitte um Ihren Vortrag.

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„Legitimität und Repräsentation in der EU in zeitgeschichtlicher Perspektive“

Univ.-Prof. Dr. Sonja Puntscher Riekmann (Jean Monnet Chair, Salzburg Centre of European Union Studies): Ich kann jetzt organisch bei Herrn Lindseth fortsetzen und unter dem Titel „Legitimität und Repräsentation in der Europäischen Union“ wirklich auf das Parlament fokussieren, wobei all das, was Herr Lindseth gesagt hat, sozusagen auch die Konstruktion der Union post ‘45 oder nach ’51, also mit dem ersten Vertrag, ganz unwidersprochen ist; da sind wir ganz einer Meinung.

Ich erlaube mir allerdings, ein bisschen woanders anzufangen. Wir haben die Geschichte der Zerstörung von Demokratie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch zwei Weltkriege, durch die Shoah, die Zerstörung des Rechtsstaates – da muss ich mit Kollegem Wiederin erst noch diskutieren, ob man einem faschistischen oder austrofaschistischen Konstrukt das Wort „Rechtsstaatlichkeit“ attestieren kann –, die Zerstörung von Demokratie durch Autoritarismus, Faschismus und schließlich durch die beiden großen Varianten des Totalitarismus. Das ist für mich nicht alles das Gleiche; der Nationalsozialismus ist nicht dasselbe wie die verschiedenen Varianten des Faschismus in anderen Staaten.

Was aber alle eint, ist, dass die Ausschaltung von Parlamenten den Auftakt dazu gibt: in der einen oder anderen Variante. Wenn wir auf Italien blicken, so wissen wir, dass man bis 1926 auch ein Parlament toleriert hat, dass dann manche Abgeordnete ausgezogen sind auf den Aventin, um sich von den Faschisten zu befreien.; aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls. Überall gibt es sukzessive die Ausschaltung von Parlamenten. Und das ist meines Erachtens der Auftakt zu dem ganz großen Zivilisationsbruch, wie ihn Dan Diner beschrieben hat.

Die Institutionenordnung der Europäischen Union oder Gemeinschaft ist zunächst einmal der Versuch, das rückgängig zu machen. Allerdings nicht durch die Einrichtung eines fully flegded Parlamentarismus. Allerdings hat schon die EGKS – neben dem Rat, neben der Hohen Behörde, neben dem Gericht – eine Versammlung eingerichtet, wenngleich diese nur konsultative Funktion hatte. Aber relativ früh beginnt man darüber zu diskutieren, dieses Parlament direkt wählen zu lassen.

Jetzt stellt sich natürlich die Frage – wenn all das korrekt ist, dass wir es im Wesentlichen mit einer bürokratischen, technokratischen, exekutiven Form des Regierens auf europäischer Ebene zu tun haben –, warum schafft man diese Versammlung. Warum wird diese Versammlung mit dem Versprechen versehen, auch direkt gewählt zu werden? Warum nennt sich diese Versammlung ab 1962 selbst „Parlament“? Und warum kommt es schließlich zu Beginn der siebziger Jahre zu einer Debatte über die Demokratie in der Europäischen Gemeinschaft? 1976 dann der Beschluss zur Direktwahl und 1979 dann die Direktwahl selbst. Das ist doch irgendwie zumindest mit einem Fragezeichen zu versehen. Also: Warum geschieht das alles?

Seither hat das Parlament von Vertragsänderung zu Vertragsänderung an Kompetenzen gewonnen und ist jetzt im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach dem Vertrag von Lissabon gleichberechtigter Gesetzgeber neben dem Rat.

Mein erstes Fazit: Die Union folgt dem Prinzip, dass Demokratie unabdingbar an die Existenz eines Parlaments gebunden ist, wenngleich es nach wie vor eine Reihe von Politikbereichen gibt, in denen das EP nur Anhörungsrechte hat – und die Besonderheit, dass es kein Initiativrecht hat. Darüber ließe sich diskutieren.

Der Vertrag von Lissabon enthält darüber hinaus einen neuen Titel mit Bestimmungen zu den demokratischen Grundsätzen der Union, in dem das Prinzip der repräsentativen Demokratie verankert ist; Artikel 10. Die Bürger und Bürgerinnen sind, so heißt es hier, direkt im Europäischen Parlament vertreten, während die Staaten im Rat und im Europäischen Rat vertreten sind. In diesen Titel finden sich Bekenntnisse zu europäischen Parteien, der Einbindung zivilgesellschaftlicher Kräfte und Sozialpartner und ein direkt-demokratisches Element in der sogenannten Europäischen Bürgerinitiative.

Bemerkenswert ist auch Artikel 12 des EUV zu den nationalen Parlamenten, die – ich zitiere wörtlich –

aktiv zur guten Arbeitsweise der Union beitragen sollen.

Die beiden Protokolle über die Rechte der nationalen Parlamente in der Europäischen Union und über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit spezifizieren diese Rechte. Das hat niemand Geringeren als Elmar Brok und Martin Selmayr dazu verleitet, zu sagen:

Dieser Vertrag ist ein Vertrag der Parlamente.

Und jetzt müssen wir uns fragen: Ist diese Euphorie auch gerechtfertigt? Sind die Parlamente tatsächlich in das Zentrum der europäischen Politik zurückgekehrt, nachdem der Integrationsprozess als Siegeszug der Exekutiven, der Staatskanzleien und der Mehr-Ebenen-Demokratie beschrieben worden ist? Erhöht die explizite Repräsentationsfunktion des EP und subsidiär der nationalen Parlamente die Legitimität der europäischen Politik? Ist das alles das Ende des vielbeklagten europäischen Demokratie-Defizits?

Man könnte die neuen Bestimmungen in diesem Sinne lesen, doch auch für die europäischen Institutionen gilt der Grundsatz: Der Lackmustest findet immer in Krisen statt.

Das Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon fiel wohl mit der größten Krise des Einigungsprozesses zusammen, nämlich mit der Finanzkrise. Der Ausbruch der Finanz- und Schuldenkrise hat einen Ausnahmezustand heraufbeschworen, der die vertraglichen Errungenschaften in Frage stellt.

Das Europäische Parlament gehört in der Krisenbekämpfung nicht zu den zentralen Akteuren, während die nationalen Parlamente, denen unerwartet eine neue Macht in den Ratifikationsprozessen der intergouvernementalen Abkommen von ESM und Fiskalpakt zugewachsen ist – mit Argumenten der Alternativlosigkeit und der Gefahr für den Euro und damit für die gesamte Union zur Zustimmung genötigt wurden.

Legendär ist in diesem Zusammenhang der Satz Angela Merkels – auch Schäuble hat ihn mehrfach wiederholt –, zu diesen Abkommen gäbe es keine Alternative, während Mario Monti in einem „Spiegel“-Interview nicht davor zurückscheute, die Notwendigkeit einer Regierung, ihr Parlament im Griff zu haben, betonte. Wörtliches Zitat:

Wenn sich Regierungen vollständig durch die Entscheidungen ihrer Parlamente binden ließen, ohne einen eigenen Verhandlungsspielraum zu bewahren, wäre das Auseinanderbrechen Europas wahrscheinlicher als eine engere Integration. – Zitatende.

Mario Monti hat knapp eineinhalb Jahre regiert. Die wichtigsten Entscheidungen zur Reform vor allem Wirtschaft in Italien geschah durch 34 Vertrauensabstimmungen, also eine Abstimmung über ein Gesetz, die stets mit dem Vertrauen für die Regierung kombiniert wird. Monti ist trotzdem sozusagen nicht wiedergewählt worden, er hat 10 Prozent bei der Wahl am 25. Januar 2013 erhalten – während der deutsche Bundesrat angesichts neuer Mehrheiten letzte Woche das Merkel´sche Prestigeprojekt, nämlich den Fiskalpakt, abgelehnt hat. Es kommt jetzt zu einem Vermittlungsausschuss zwischen Bundesrat und Bundestag. Wir werden sehen, was herauskommt.

Demokratische Politik steht und fällt mit funktionierenden Parlamenten auf allen Ebenen. Das ist ein normatives Postulat. Ein Parlament ist das wichtigste Organ der Repräsentation der Bürger und Bürgerinnen, die zentrale Arena der Auseinandersetzung über die politische Ordnung und das gute Leben einer politischen Gemeinschaft. Das kann man wahrscheinlich alles unterschreiben. Aber es ist für mich vor allem auch der Ort der Rechtfertigung von Entscheidungen.

Demokratie beruht auf dem Recht auf Rechtfertigung, wie Rainer Forst das modalische Minimum von Demokratie definiert hat; also noch nicht einmal die Frage der Partizipation, der Mitbestimmung et cetera, et cetera, sondern das Recht auf Rechtfertigung. Dies ist auch die nobelste Aufgabe des Europäischen Parlaments und daher meine normative Haltung: seine Existenz unhinterfragbar, weil überall dort, wo Macht durch Exekutiven ausgeübt wird, es dieser Einrichtung bedarf.

Ich zweifle nicht daran, dass Exekutiven schneller, tüchtiger, vielleicht sogar besser entscheiden und angesichts der Finanzkrise und den Vorgaben, die die Finanzmärkte gemacht haben, es nicht möglich ist, monatelang zu deliberieren – darüber brauchen wir uns gar nicht streiten –, aber es bedarf am Ende einer Rechtfertigung dessen, was getan wurde. Und daher glaube ich, dass wir auf Parlamente nicht verzichten können.

Das EP ist aber noch aus einem anderen Grund wichtig. Es repräsentiert europäische Bürger und Bürgerinnern, auch wenn die Wahlen immer nach nationalen Bedingungen stattfinden. Es repräsentiert gemeinsam mit der Europäischen Kommission europäische Interessen. Seine Sorge sind europäische Lösungen für europäische Probleme, während nationale Differenzen im Rat und im Europäischen Rat zur Sprache kommen.

Nationale Parlament in den europäischen Politikprozess einzubinden, kann nur der Legitimation der Positionen nationaler Regierungen und deren Kontrolle dienen. Die nationalen Parlamente können nur schwer gesamteuropäische Interessen im Auge haben, denn sie sind bis heute – trotz Artikel 9 und 10 des ersten Protokolls zur Zusammenarbeit zwischen EP und den nationalen Parlamente – den Ausweis einer Europäisierung schuldig geblieben. Ich weiß, ich sage jetzt etwas ganz Gefährliches in diesem Haus. Schuldig geblieben aus dem simplen Grund, weil die Rechte in den Protokollen und im Übrigen auch so, wie das österreichische Verfassungsrecht ausgestaltet ist, im Wesentlichen Abwehrrechte gegen national unerwünschte europäische Lösungen. Man sagt, was man nicht will. Man sagt nicht, wie die europäische Lösung aussehen soll.

Die europäische Finanz- und Fiskalkrise hat dennoch die nationalen Parlamente zu einer neuen Verantwortung aufgerufen, weil der ESM, davor der EFSF, dann der ESM und nun der Fiskalpakt, intergouvernementale Verträge sind, keine europäischen Verträge im klassischen Sinne des Wortes. Und sie sind nun dazu aufgerufen, in ihren Entscheidungen Externalitäten zu berücksichtigen. Sie müssen berücksichtigen, welche Wirkung ihre Entscheidung auf Dritte hat.

Das war die große Herausforderung des Deutschen Bundestages bei der Entscheidung über den ESM, mit einer nicht unerheblichen Summe von 220 Milliarden €, zu bewilligen, die diesem ESM zur Verfügung gestellt werden, um allfällige Probleme in Drittstaaten zu lösen.

Das heißt, alles, was ein nationales Parlament nun entscheidet, muss diesem Gedanken folgen. Auch der Deutsche Bundestag ist dem Alternativlosigkeitsargument der Regierung gefolgt. Sie haben mehrheitlich die Zustimmung zum Rettungsschirm gegeben – im Übrigen mit der Mehrheit der Opposition – und auch die einhergehenden Konditionalitäten des Fiskalpakets akzeptiert – und das trotz höchstgespaltener Öffentlichkeiten in Geber- wie in Nehmerländern.

Das EP dagegen bleibt in der Krise auf der Zuschauerbank. War seine Zustimmung zu vier der sechs Gesetzgebungsvorhaben im sogenannten Sixpack noch notwendig, so kommen die einschneidenden Verträge zum ESM und zum Fiskalpakt ohne sie zustande. Dass der Fiskalpakt Informationsrechte des EP und eine gemeinsame Versammlung aus EP und nationalen Parlamenten zur Erörterung einer Fiskal- und Wirtschaftspolitik in Aussicht stellt, empfindet man wohl zu Recht als Feigenblatt, und das Versprechen, den Fiskalpakt zu gegebener Zeit in EU-Recht zu überführen, als vage.

Das EP ist aber auch in den aktuellen Verhandlungen zum siebenjährigen Finanzrahmen in eine Zwickmühle geraten: Zum einen sind die Verhandlungen der Staats- und Regierungschefs zum erwarteten Bazar über Rabatte und Ausnahmen – 40 an der Zahl auf der einen Seite – und über das Sichern von Beständen wie in der Agrarpolitik auf der anderen Seite geraten. Der äußerst geringe Finanzrahmen von knapp 1 Prozent der EU-Bruttoinlandproduktes ist trotz Erweiterung auf 28 Staaten und gewachsenen Aufgaben und vor allem Erwartungen an die EU zum ersten Mal in der Geschichte der Union kleiner als zuvor, und er erhält eine Kluft zwischen programmierten Ausgaben und tatsächlicher finanzieller Abdeckung von 60 Milliarden €.

Das Europäische Parlament kalkuliert angesichts bereits in der Vergangenheit akkumulierter Defizite und den neu entstehenden Schulden von 300 Milliarden €. Dabei ist es der Union verboten, Schulden zu machen, daher bleibt unklar, wie diese Lücke zu schließen ist.

Das EP kann nun im Sinne der Vertragstreue und Good Governance den Finanzrahmen einfach ablehnen – und wird dennoch in Zeiten der Authority Politik diese Haltung nur mit größten Schwierigkeiten in der Öffentlichkeit rechtfertigen können. Das Europäische Parlament oder die Parlamentarier müssten jetzt an die nationalen Öffentlichkeiten treten und sagen, sie lehnen den Finanzrahmen ab, weil er zu gering ist, um alle programmierten Ausgaben abzudecken – und das angesichts der Sparpolitik in allen Mitgliedsstaaten.

Wir können uns ausrechnen, was das bedeutet für die Wahl 2014. Daher nehme ich an, dass das Europäische Parlament, mit einigen Kompromissen, zustimmen wird.

Das Europäische Parlament ist trotz aller Machtzuwächse bis heute ein Organ mit Fragezeichen geblieben. Europäische Wahlen sind weitgehend nationale Wahlen. Wir haben es in der Politikwissenschaft als Second-order-Elections zur Sanktionierung nationaler Regierungen bezeichnet. Die Union figuriert darin bestenfalls als „Subventionstopf“, aus dem wahlkämpfende Parteien versprechen, ein Maximum für das eigene Land oder die eigene Region heimzuholen. Dies ist umso verblüffender, als die europäischen Bürger und Bürgerinnen, zumindest laut Eurobarometer-Umfragen, diesem Organ mehr Vertrauen schenken als nationalen Parlamenten und Regierungen, auch wenn sie beständig über dessen Distanziertheit klagen.

Wichtiger erscheint mir die Rivalität zwischen dem Europäischen Parlament und nationalen Organen in dieser Debatte, die immer wieder vom deutschen Bundesverfassungsgericht vorangetrieben wird; darauf ist ja auch schon eingegangen worden.

Das Bundesverfassungsgericht hat im Lissabon-Urteil – in dem das Gericht nicht müde wird, die Unmöglichkeit eines echten Parlaments auf europäischer Ebene zu betonen – vor allem den Deutschen Bundestag und den Deutschen Bundesrat gestärkt, was, wie ich glaube, demokratiepolitisch eine sinnvolle Entscheidung war, aber das Ausspielen nationaler Parlamente gegen europäische Parlamente führt meines Erachtens auch im Sinne der europäischen Politik, wie ich sie vorhin geschildert habe, an den Dingen vorbei. Zum einen, so Karlsruhe, sei durch die degressive Proportionalität, nach der das EP zusammengesetzt ist, das „One man-one vote“-Prinzip verletzt und zum anderen sei die Inexistenz eines europäischen Volkes ein unaufhebbarer Mangel.

Ich stehe nicht, an zu sagen, das ist ein Diskurs des 19. Jahrhunderts, in dem ein kulturell homogenes Volk Voraussetzung von Repräsentation im Nationalstaat war – oder zumindest zu einem solchen stilisiert wurde.

Es ist hier nicht der Ort – und ich habe schon gar nicht die Zeit dazu –, auf dieses Konstrukt im Detail einzugehen, nur so viel: Kulturelle Homogenität ist in keinem Nationalstaat gegeben. Auch die Nation ist eine imaginierte Gemeinschaft, die über Jahrhunderte und durch eine Vielzahl soziopolitischer und kultureller Praktiken hervorgebracht wird.

Die gemeinsame Sprache hat die Österreicher nicht davon abgehalten, nach dem Zusammenbruch des Habsburger Reiches an der Nation Österreich zu zweifeln – mit allen Konsequenzen, die heute hier besprochen wurden.

Bleibt also die Frage, wie man ein europäisches Volk konstruiert beziehungsweise, ob man das überhaupt will. Wenn wir dieses sehr deutsche Wort „Volk“ mit all seinen ethnizistischen Belastungen durch den Begriff des „demos“ ersetzen gewinnen wir vielleicht einen festeren Boden. Der „demos“ entsteht zunächst in einem gemeinsamen Wahlakt, nicht, indem wir uns zusammenfinden und uns gegenseitig unserer Zuneigung und Liebe versichern. Das wichtigste Repräsentationsorgan, das durch den „demos“ gewählt wird, ist das Parlament, das wiederum eine Exekutive wählt. Der „demos“ kann aber auch entstehen aus einem gemeinsamen konstitutionellen Akt als „Pouvoir constituant“.

Insofern wäre eine in allen Mitgliedsstaaten zeitgleich stattfindende Ratifikation der Verträge ein wichtiges Moment, ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

Vertragsratifikationen sind aber stets Akte ex post, in dem nur ein Ja oder ein Nein möglich ist. Und wie wir aus vielen Studien zu den verschiedenen Ja und Nein der Ratifikationen der letzten 20 Jahre wissen, haben diese sehr unterschiedliche Gründe, die oft sehr wenig oder manchmal gar nichts mit dem vorgelegten Text zu tun haben.

Wichtiger für die Konstruktion eines „demos“ – immer vorausgesetzt, dass man das will – wäre ein Akt ex ante.

Angesichts der in der Krise notwendig gewordenen nächsten Vertragsänderung durch einen Konvent – da sind sich, glaube ich, alle wichtigen Akteure einig, man wird nur vor der deutschen Bundestagswahl diesen Herbst nicht daran rühren – schließe ich mit einem cetero censeo und bitte all jene, zu entschuldigen, die das schon oft von mir gehört haben.

Ein solcher Konvent sollte in einer allgemeinen europäischen Wahl zustande gekommen, in der die Kandidaten ihre konstitutionelle Vision der Union darlegen. Die ebenso europaweite Ratifikation wäre dann der zweite Schritt.

Nichts dient der Konstruktion eines „demos“ besser als der Respekt vor dem Recht einer Bürgerschaft, einen gestaltenden Beitrag zu einer Fassung leisten zu können, unter der sie dann in der Folge ja leben müssen. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall.)

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Parlamentsvizedirektorin Dr. Susanne Janistyn: Vielen Dank für die Ausführungen.

Herr Prof. Bruckmüller, darf ich Sie nun bitten.

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zusammenfassender Kommentar

em. Univ.-Prof. Dr. Ernst Bruckmüller: Das ist ein großer Bogen: von der Ausschaltung des österreichischen Parlaments bis zu einer Neukonstituierung des europäischen Parlaments. Das ist wirklich ein großer Bogen, der da gespannt wird.

Beginnen wir mit Dieter Stiefel. Dieter Stiefel hat uns mit großer Routine erzählt, was da alles los war. Also es geht um die Zurückdrängung des Einflusses der Arbeiterschaft oder der organisierten Arbeiterklasse, also der Sozialdemokratie. Es geht um Umverteilung, Verlagerung von den nach Ansicht der Unternehmerseite der 1920-er Jahre zu stark gestiegenen Anteilen der Lohnsumme zur Unternehmergewinnsumme. Das ist einmal eine wichtige Feststellung.

Es geht aber nicht darum, sondern es geht auch um Verteilungskämpfe innerhalb dieser so definierten Gesellschaft der Selbständigen, die ja als eine Zielvorstellung hier genannt wird. Diese Zielvorstellung – auch darauf hat Herr Stiefel hingewiesen – ist reichlich unrealistisch. Freilich konnte es erscheinen, gerade auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise, als sei eine Re-agrarisierung und eine Ent-industrialisierung in der Tat eine Alternative. Es gibt auch so was. Es gibt Siedlungsprojekte, man versucht, Arbeitslose zu Bauern zu machen, zumindest zu Kleingärtnern, damit sie ihre Erdäpfel selber züchten und auf diese Weise überleben können. Es gibt Ansätze dazu, selbstverständlich war aber das Geld nicht da, um diese Projekte über einige Musterprojekte hinaus weitergedeihen zu lassen.

Aber im Prinzip steht die Idee einer vorindustriellen, gewerblich-agrarisch dominierten Gesellschaft hinter dieser Idee des Ständestaates. Diese Idee ist relativ alt, sie kommt aus der deutschen Romantik. Sie wird von Karl von Vogelsang – nicht jedoch ausformuliert – immer wieder programmiert, und diese Idee tritt dann interessanterweise bei Schindler, dem programmatischen Weiterführer Vogelsangs und dem durch 20 Jahre wichtigsten Ideologen der Christlichsozialen, wenn man so will, deutlich zurück. Bei Schindler ist eigentlich die Ständestaatsidee nichts anderes als die gute neue Sozialpartnerschaft, als Ergänzung zum Gesetzgebungs- und zum Verwaltungsapparat, hat längst nicht die Bedeutung die sie in den dreißiger Jahren bekommt. Und sie bekommt dann diese Bedeutung eben wieder in der Abwehr der parlamentarischen Demokratie und ihrer Probleme.

Also das musste scheitern, das wissen wir sowieso. Warum es gescheitert ist, könnte man vielleicht so formulieren: Es scheitert einmal an der Problematik der wirtschaftlichen Zielvorgabe. Die wirtschaftliche Zielvorgabe lautete: auf alle Fälle ein ausgeglichenes Budget. Das ist einmal das Alpha und Omega der Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Jahre. Nun war das nicht besonders originell, aber das Originelle daran war: Sogar wenn es Überschüsse gab, hat man sie nicht für Investitionen verwendet, sondern für die vorzeitige Rückzahlung von Schulden. Da ist, glaube ich, die ganze Absurdität dieser Wirtschaftspolitik am besten zu erkennen, und das zeigt sich auch darin, dass der Goldbestand der Nationalbank, der in der Krise stark geschrumpft war und enorm zurückgegangen ist.

Dieser Gold- und Devisenstand steigt bis 1938 kontinuierlich und hat dann dem „Großdeutschen Reich“ gute Dienste bei der Kriegsfinanzierung geleistet.

Also diese Art der Wirtschaftspolitik hat wirklich etwas sehr, sehr Seltsames.

Noch etwas – Dieter Stiefel hat es angedeutet –: Wenn man den Gegner ausgeschaltet hat – der ist k.o., liegt in der Ecke oder sitzt in Brünn im Exil –, dann findet man die Gegner intern. Kaum sind die Heimwehrler und Christlichsozialen alle unter sich, streiten sie wie die Berserker – nicht so öffentlich, aber dafür hinter dem Vorhang. Der Außenfeind ist weg, der Außenfeind, der eigentlich dieses ganze Ensemble zusammenhält, dafüraber  bekämpft man sich dann im Inneren umso erbitterter. Die Intrigen um Starhemberg und so weiter, das könnte eine Unterhaltungssendung füllen, wie etwa der frühere Frontführer der Vaterländischen Front zum Mütterbeauftragten degradiert wird und so weiter. Also das sind ja unglaublich skurrile Angelegenheiten.

Den Vortrag von Frau Schuberth brauche ich eigentlich nicht sehr zu kommentieren; er wurde ja kurz vorgestellt.

Nun die Ursache der Weltwirtschaftskrise – das ist interessant, aber das konnte Frau Schuberth hier nicht ausführen – liegt natürlich nicht nur so in einer Spekulationskrise, auch das, selbstverständlich, aber dahinter stehen die enormen Ungleichgewichtigkeiten, die durch die Kriegsfinanzierung des Ersten Weltkrieges entstanden waren, ebenso durch die Reparationen. Das heißt, in den zwanziger Jahren ist das gute alte Finanzsystem der Welt, das vor dem Ersten Weltkrieg irgendwo um London, vielleicht auch um Paris gruppiert war, mit dem Zentrum nach Amerika gewandert.

Die USA sind eigentlich der einzige Gläubigerstaat der Welt; alle anderen sind Schuldner. Die Einen sind Schuldner, weil sie wie England und Frankreich aus Amerika Rüstungsgüter bezogen und dafür noch nicht bezahlt haben, die anderen sind Schuldner, wie die Deutschen, weil sie von den Amerikanern Kredite bekommen, damit sie ihre Wirtschaft ankurbeln, damit sie jene Reparationen bezahlen können, mit denen die Engländer und Franzosen dann wieder den Amerikanern ihre Schulden zahlen können. So ungefähr also.

Das heißt, das ist eine äußerst komplizierte Geschichte, die durch Inflationen – wir hatten das 1922; die Deutschen ein Jahr später – als auch durch Spekulationskrisen, die France-Spekulation, die die österreichische Postsparkasse in den Ruin getrieben hat, 1924/25 und so weiter, noch verschlimmert wurden.

Dazu kam verschärfend das österreichische Bankenproblem, also ein Spezifikum Österreichs. Das konnte hier nicht ausgeführt werden, steht aber dahinter. Das Bankenproblem lautet schlicht und ergreifend: Die österreichische Bankenwelt bestand aus den Wiener Banken und diese Wiener Banken haben bis 1918/19 ganz Mitteleuropa mit Investitionen versorgt. Diese Wiener Bankenwelt verliert durch den Krieg und durch die Inflation einen großen Teil ihres Kapitals. Sie rekapitalisiert sich durch relativ kurzfristige Geldversorgung aus den USA, aus der Schweiz, aus Holland und so weiter, was da zu einer extremen West-Abhängigkeit führt.

Diese Wiener Bankenwelt macht aber mit diesem Geld nichts im Inland, sie investiert das Geld nicht in Tauernkraftwerke, in die österreichische Industrie, sondern sie investiert dort, wo so immer investiert hat: in der neuen Tschechoslowakei, im neuen Polen, im neuen Ungarn, im neuen Jugoslawien. Dieses Geld sieht man hier nicht. Die Aktionäre der österreichischen Banken haften aber dafür, dass die Einlagen, die aus dem Westen kommen, notfalls zurückgezahlt werden können.

Die österreichischen Banken betreiben diese Politik so konsequent, dass sie sogar Positionen, die sie schon aufgegeben hatten, teils durch Sequestrierungen, durch Nationalisierungen, wieder zurückkaufen. Die von den Slowenen gekaufte Filiale der Creditanstalt in Ljubljana, eine selbständige Bank, gerät 1929 in Schwierigkeiten, wird von der Creditanstalt wieder zurückgekauft, und zwar um viel Geld. Nur damit die diese alte Position wieder haben können.

Das heißt, das Wiener Bankensystem arbeitet mit dem Geld aus dem Westen in den umliegenden Staaten, aber kaum in Österreich. Nun kommen die großen Zusammenbrüche: zuerst die Boden- und dann die Creditanstalt selber – und nun muss der österreichische Staat einspringen, also anstelle des Versuches, die Aktiva in den Nachfolgestaaten zu reaktivieren und damit zu retten, was zu retten ist, ist es der österreichische Steuerzahler. Kommt uns nicht ganz unbekannt vor – oder? Das ist eine Methode, die offenbar heute auch so ähnlich angewendet wird. Irgendwo wird investiert, mehr oder weniger sinnvoll, und dann, wenn es schief geht, haftet der Steuerzahler.

Diese Zuspitzung der Finanzkrise ist der Hintergrund für die politische Krise. Die Zuspitzung der Finanzkrise führt dann dazu – Peter Huemer könnte das genauer schildern –, dass man das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz gegen Direktoren der Creditanstalt in Anwendung bringt, was eine populistische Sache ersten Ranges ist – und damit kann man sagen: Wunderbar, die Regierung ist handlungsfähig; wir brauchen das Parlament nicht, wir haben ein Gesetz und damit kann man agieren! – Diesen Hintergrund muss man sich bewusst machen.

Ein zweiter Hintergrund wird bei Stiefel angedeutet mit dem Agrarsektor. Ich fürchte, dass ich jetzt zu viel rede, aber das muss man schon noch sagen: Wir haben bis jetzt noch gar nicht den Außenhandel andiskutiert. Österreich war extrem außenhandelsabhängig, hatte ein sehr, sehr hohes Außenhandelsdefizit, brauchte also stets Einfuhren an Rohmaterialien, an Kohle vor allem, aber auch an Lebensmitteln, an Vorprodukten aller Art – und war gleichzeitig exportabhängig.

In der Krise brechen zuerst die Exporte ein. Ganze Wirtschaftszweige – die Wiener Möbelindustrie zum Beispiel – brechen 1931/32 einfach weg, weil in den Nachfolgestaaten nichts mehr gekauft wird. Die haben früher nach Budapest, Bukarest, Belgrad, Zagreb verkauft. Das ist einfach weg. Die anderen Staaten umgeben sich mit hohen Schutzmauern. Österreich macht das auch: im Sinne seiner Landwirtschaft.

Die österreichische Landwirtschaft wird geschützt, die österreichische Industrie steht aber schutzlos da beziehungsweise hat sie keine Chance, die neuen Zollmauern und die neuen Schutzmauern der Nachbarstaaten zu durchdringen und hat also extreme Schwierigkeiten im Export.

Beides, Importe und Exporte, geht in der Krise rasant zurück, mit der Folge einer allgemeinen Arbeitslosigkeit. Auch das steht hinter dieser Demokratie-Krise. Wer ist schuld? – Die Parteien sind schuld, sie haben keine Lösungen, sie diskutieren im Parlament, sie werfen sich alle möglichen „Freundlichkeiten“ an den Kopf, aber Lösungen finden sie nicht. Das fand übrigens 1930/31 niemand, muss man dazu sagen. Es gab niemanden, vielleicht ein paar Theoretiker, die gesagt haben: Jetzt machen wir Schulden!

Auch Otto Bauer sagt 1930: Schulden machen, das haben wir gerade gehabt. Keine Inflation.“ Von Deficit spending kann keine Rede sein. Erst viel später kommen interessanterweise aus Gewerkschaftskreisen solche Vorschläge.

Die Frage, wie die Parlamente mit der Wirtschaftskrise umgehen, hat auch Herrn Lindseth beschäftigt – freilich unter einem anderen Aspekt: mehr unter dem theoretischen Aspekt der Konzentration der nationalen Souveränität in den Parlamenten und der möglichen Abtretung solcher Souveränität an bevollmächtigte Regierungen, so zum Beispiel die Präsidialregierungen Brüning, Papen, Schleicher in der Weimarer Republik. Das ist eine hochinteressante Geschichte.

Übrigens müsste man ergänzen: Die österreichischen Christlichsozialen haben mit vollem Neid nach Deutschland geschaut. Genau diese Präsidialkabinette, das waren ihre Vorbilder. Das hätten sie auch gerne gehabt, aber die Verfassung 1929 hat das eben nicht gespielt. Das war genau das, was ihnen die Verfassungsnovelle 1929 nicht geboten hat.

Diese Sache mit der Abtretung von Kompetenzen an Regierungen: Man könnte das in der Tat so interpretieren, aber ob da freilich, wie Herr Lindseth in der Zusammenfassung schreibt, eine ältere Auffassung des Parlamentarismus aus dem 19. Jahrhundert weiterwirkt, weiß ich nicht wirklich, und zwar schon deswegen, weil ja die deutsche parlamentarische Tradition vor 1918 nicht so wirklich stark war.

Zu Österreich fällt mir ein: Da gab es das ja auch. Da gab es das ja auch. Die Abtretung der Kompetenz des Parlaments an ein Expertengremium, im Jahre 1922. Im Zuge der Genfer Sanierung verlangten die Völkerbund-Experten von der österreichischen Regierung, dass die Regierung quasi die Kompetenz der Durchführung übernehme. Die Sozialdemokraten wetterten dagegen. Schließlich findet man einen Kompromiss, das ist dieser Außerordentliche Kabinettsrat, quasi ein verstärkter Unterausschuss des Nationalrates, der das Parlament ersetzt, aber er steht immer noch auf parlamentarischer Basis. Aber im Prinzip ist das ein ähnliches Modell wie die Abtretung von Kompetenzen an Spezialisten-Regierungen oder wie immer man das nennt.

Freilich stellt sich schon die Frage, ob es im Falle Deutschlands da nicht doch auch so ähnlich wie Österreich eine gewisse Fortsetzung der Tradition der kaiserlichen Regierungen gibt. Der Reichspräsident als Ersatzkaiser hat in der Weimarer Republik eine sehr, sehr starke Position. – Aber gut, in diese verfassungshistorische Diskussion kann ich höchstens fragend eingreifen, aber nicht mehr.

Frau Puntscher-Riekmann sieht die europäische Nachkriegsordnung und darin dann wieder das europäische Einigungswerk als einen Versuch, den großen Zivilisationsbruch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verarbeiten. Man spricht ja auch von einem Krieg, der in Wirklichkeit von 1914 bis 1945 dauert, also von einem 31-jährigen Krieg mit einigen Kampfpausen. Das wird also als Versuch gesehen, diesen Zivilisationsbruch zu verarbeiten und in einem neuen Institutionengeflecht Sicherungen zu schaffen, damit so etwas nicht mehr vorkommt.

Irgendwo hat ja auch Herr Lindseth diese Sicherungsfunktion der neuen Ordnungen nach 1945 – das Grundgesetz oder auch die neue französische Verfassung – bemüht, um zu zeigen, dass es ja sozusagen einen unaufgebbaren Kern der parlamentarischen Kompetenz geben muss, den man einfach nicht hergeben darf.

Frau Puntscher Riekmann, die ja auch gesagt hat, dass sie da bei Herrn Lindseth fortsetzt, stellt ganz auf das europäische Einigungswerk ab und fokussiert das Problem am Europäischen Parlament, an unserem gemeinsamen Europäischen Parlament, das ja bis heute eine etwas unbefriedigende Situation hat, obwohl man ihm schon zugutehalten muss, dass es sich tapfer hält. Bei allen Schwierigkeiten ist das EP doch drauf und dran, sich ein etwas Mehr an Kompetenzen anzueignen.

Der Versuch, eine europäische Einigung über die Wirtschaft zu beginnen – EGKS, EWG –, ist auch eine Antwort auf die Krise, eine Antwort auf die Weltwirtschaftskrise, die ja genau daran scheiterte, dass es eben keine übergeordnete europäische Instanz gab. Es gab den Völkerbund, aber das war keine europäische, sondern eine weltweite Instanz, damals freilich noch mit dem Zentrum in Europa.

Es gab verschiedene Kooperationsansätze. Ich denke da etwa an den Tardieu-Plan 1932, aber das war eigentlich eine bescheidene Sache, mit einem Plan von Präferenzzöllen innerhalb der Gebiete der ehemaligen Habsburger Monarchie – und das wurde von den Nationalisten aller Lager erbittert bekämpft. Und das ist gestorben, bevor es überhaupt irgendwo zur Welt kommen konnte.

Es gab also zu wenig an europäischem Bewusstsein und es gab ein Viel-zu-Wenig an europäischen Organisationen, an Institutionen, die in der Tat in der Lage gewesen wären, solche Fragen zu lösen.

Man hat eher den Eindruck, dass die dreißiger Jahre ein Regress sind im Hinblick auf Integration oder auf überregionale Kommunikation, im Hinblick auf übernationalen Handel. Man regrediert, man zieht sich zurück, die Mauern werden geschlossen, der Handel wird immer mehr auf Gegenseitigkeit aufgebaut, auf bargeldlose Bartergeschäfte, die eigentlich auf den Tauschhandel zurückführen und wo möglichst wenig Devisen verbraucht werden sollen. Das ist die ganze Geschichte.

Übrigens: Das war eine jener Erscheinungen, die dann dem „Dritten Reich“ einen erheblichen Einfluss vor allem gegenüber den Agrarländern Südosteuropas zu gewinnen. Die waren alle devisenarm so wie das Deutsche Reich, waren aber sehr beglückt, wenn ihnen die Deutschen Waffen und Maschinen geliefert haben und wenn sie dafür etwas zu Essen bekamen, so zum Beispiel Ungarn, Rumänien oder Jugoslawien.

Diesen Rückfall auf Nationalwirtschaften konnten sich einige Große ganz gut leisten, aber die Kleinen haben eigentlich alle darunter gelitten. – Danke schön. (Beifall.)

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Parlamentsvizedirektorin Dr. Susanne Janistyn: Vielen Dank, Herr Prof. Bruckmüller.

Ich lade die ReferentInnen jetzt zu einer abschließenden Runde ein.

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em. Univ.-Prof. DDr. Dieter Stiefel: Im Prinzip habe ich nicht viel zu sagen, weil Herr Bruckmüller mich ja hervorragend ergänzt hat.

Ich möchte aber zwei Dinge noch anmerken. Wenn die von mir sehr geschätzte Frau Schuberth auf diese Finanzkrisen und das Verhältnis zur politischen Entwicklung eingeht – soweit ich das verstanden habe in dem kurzen Paper –, so kann man sicherlich nicht sagen, dass eine große Finanzkrise in irgendeiner Form zu autoritären Strukturen führt, vielleicht verstärkt sie Entwicklungen, die da sind – aber wenn diese Entwicklung, diese Tendenz nicht schon da ist, kommt es sicherlich nicht so weit.

Es gibt schon einen sehr großen Unterschied der Finanzkrise der dreißiger Jahre zur Finanzkrise, in der wir heute noch drinnen stecken.

Die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre mit der Finanzkrise hat dazu geführt, dass alle Länder versucht haben, sich selber zu retten. Das heißt, man ist dazu übergegangen, Devisenkontrollen zu machen, Außenhandelskontrollen zu machen. Wenn Sie ins Ausland reisen wollten, so brauchten Sie Extragenehmigungen und einen guten Grund, dass Sie das durften. Das heißt, gegen Ende der dreißiger Jahre entsteht eine außerordentlich feindliche Stimmung in ganz Europa. Waren, Geld und Menschen werden unbeweglich; die Kontakte zwischen den einzelnen Ländern werden sehr stark erschwert und alle Länder versuchen, die Folgen der Krise auf die anderen abzuschieben, etwa indem sie permanent abgewertet haben.

Die Krise, in der wir jetzt drinnen stecken, hat sicherlich andere Gründe wie die der dreißiger Jahre. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir gelernt, dass internationale Probleme nur international zu lösen sind. Das betrifft also nicht nur die jetzige Wirtschaftskrise, sondern das war auch mit Mexiko der Fall, mit der Asien-Finanzkrise und so weiter.

Das heißt, es gibt internationale Organisationen – dazu möchte ich natürlich auch die Europäische Union zählen, genauso die Weltbank und den IWF –, die dazu beitragen, dass sich alle Länder beteiligen und dass sich etwa Österreich finanziell an der Krise in Griechenland beteiligt, sich selbst an der Krise in Mexiko beteiligt, weil es weiß, dass man nicht fiedeln kann, wenn irgendwo das Haus des Nachbarn brennt. Da gibt es also eine internationale Solidarität.

Das Zweite mit der Zwischenkriegszeit, was eigentlich bis heute gilt und was ich immer sehr erstaunlich gefunden habe: Wir leben in einer zwiespältigen Welt, eigentlich von zwei organisatorischen Elementen, die nicht miteinander vereinbar sind. Wir fordern auf der einen Seite mehr Demokratie und – ich traue mich das Wort jetzt fast nicht mehr zu sagen, weil das nicht so genau ist, was das ist – mehr Mitbestimmung. Auf der anderen Seite aber leben wir den Großteil unserer Zeit in Organisationen, die streng hierarchisch aufgebaut sind. Das ist die Wirtschaft genauso wie die Schule oder das Ministerium oder die Parteien. Das sind alles hierarchische Strukturen. Wir wechseln also von Hierarchien hinüber zu Demokratien und wieder zurück. Und vielleicht sind manche Wahlergebnisse genau das Resultat, dass wir eigentlich lieber Hierarchien haben als Demokratien, weshalb es dann vielleicht auch absolute Mehrheiten gibt und nicht ein vielfältigeres System.

Wohin die Menschen mehr tendieren, ist sicherlich eine Frage der Sozialisation. Ich habe es schon erwähnt: Wir dürfen nicht vergessen, dass die Menschen der Zwischenkriegszeit im 19. Jahrhundert sozialisiert worden sind. Das waren Leute, die aus der Monarchie kamen – auch in Deutschland. Wenn Sie etwa von Heinrich Mann den Roman „Der Untertan“ lesen. Wie er den Kaiser erblickt, das ist ein religiöses Gefühl. Die Worte „Vaterland“. „Ehre“ und „Nation“ sind alles ganz große Worte, in denen man drinnen ist, und selbstverständlich ist der Vater der Leiter der Familie und selbstverständlich ist der Chef zuständig für alles, einschließlich auch der Sorgen, die ein Untergebener hat. Ein Unternehmensleiter ist wie ein Handwerksmeister zuständig für die Gesellen und für die Lehrlinge; diese haben ihm entsprechend zu gehorchen. Das Ganze wurde ja durch das Militär geprägt, das ja sehr stark verpflichtend war in der Monarchie, nämlich drei Jahre, außer man hat es geschafft, als einjährig Freiwilliger Offizier zu werden.

Das hierarchische Denken, das Denken in einfachen Lösungen, das sicherlich heute noch da ist, ist in dieser Zeit damals sicherlich viel einfacher.

Schließen möchte ich mit einer Bemerkung von Oskar Morgenstern, eben aus dieser liberalen volkswirtschaftliche Schule. Morgenstern schreibt Anfang der dreißiger Jahre:

Man sollte das so machen wie im alten Rom!

Im alten Rom ist es angeblich so gewesen: Wenn Friedenszeiten waren, war Demokratie. Im Krieg hat man sich einen Diktator gewählt – und wenn der Krieg vorbei war, ist es wieder Demokratie geworden. Zum Schluss hat aber Caesar nicht abgedankt, was ziemlich typisch sein dürfte für diese Entwicklung.

Es gab also diesen Vergleich: Wenn es wirtschaftlich gut geht, machen wir Demokratie; haben wir eine Krise, schieben wir die Demokratie weg – und dann kann der kluge, der weise Diktator das Ganze viel besser lösen.

Das also stammt von einer theoretisch international hochanerkannten Schule der Volkswirtschaftslehre, die sonst nur liberal ist.

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Prof. Peter Lindseth, JD, PhD (in englischer Sprache, ohne Übersetzung)

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Univ.-Prof. Dr. Sonja Puntscher-Riekmann: Ich würde gerne, bevor ich auf Peter Lindseth eingehe, noch einen Satz zu Herrn Stiefel sagen, nämlich zu dieser Dichotomie-Hierarchie versus Demokratie. – Ich würde das überhaupt nicht so formulieren.

Demokratie ist eine ganz präzise Form von Herrschaft, in der es auch Hierarchien gibt. Gerichte können Dinge tun, die Sie und ich nicht dürfen. Also auch eine demokratisch verfasste Ordnung ist hierarchisch geordnet – nur, dass wir ab und zu dann auch was mitreden dürfen, vor allem in Form von Wahlen.

Der zweite Satz, wenn ich sie richtig verstanden habe, Frau Schuberth hinterfragte, dass Finanzkrisen zu einer Verstärkung autoritärer Tendenzen führen – Sie aber sagten, nur dann, wenn es solche vorher schon gibt. Das, was es an europäischen Institutionen gegeben hat, die demokratiepolitisch mehr oder weniger gut kontrolliert sind, wurde gestärkt. Dazu gehört die EZB und dazu gehört vor allem der Europäische Rat. Es ist das also nicht der Autoritarismus faschistischer Regime, aber es sind zweifelsohne jene Organe gestärkt worden, die am wenigsten demokratiepolitisch verankert sind, würde ich sagen.

Jetzt zu dem, was Peter Lindseth gesagt hat. Es ist wahr – und deswegen habe ich ja auch bei jedem Satz, den ich zur Frage des künftigen konstitutionellen Prozesses gesagt habe, vorangestellt: vorausgesetzt, man will das! –, es ist wahr, wenn – und jetzt rede ich zunächst einmal eher von den politischen Eliten Europas als von den großen Massen – die politischen Eliten das wollen, werden sie es auch, zumindest ein großes Stück weit, inszenieren können. – Ich habe aber den Eindruck, dass dieser Wille prekär ist.

Trotzdem wissen auch Schäuble, Merkel und Hollande, dass sie mit dem jetzigen konstitutionellen Konstrukt an Grenzen stoßen. Deswegen finden Sie schon im letzten Herbst Aussagen sowohl von Schäuble als auch von Merkel: Wir brauchen eine neue institutionelle Grundlage!

Ich bin aber auch bei Ihnen, wenn Sie sagen, all das lässt sich nicht einfach als „institutional engineering“ inszenieren, aber irgendwo muss man beginnen.

Ich darf vielleicht auf die amerikanische Verfassungswerdung ein Licht werfen; das ist natürlich gefährlich angesichts Ihrer Präsenz hier. Auch die amerikanische Verfassung entsteht zunächst einmal als ein Stück „institutional engineerings“ – und nicht, weil alle 13 Gliedstaaten sich nichts sehnlichster wünschen, als in diese Gemeinschaft einzutreten.

Ich darf auch daran erinnern, dass diese Gemeinschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts drauf und dran war, zu zerbrechen, und zwar aufgrund sehr unterschiedlicher Vorstellungen, wie eine gemeinsame Politik aussehen könnte.

Damit komme ich – noch ein abschließender Gedanke – zu der höchst fragwürdigen Konstruktion der Wirtschafts- und Währungsunion. Wir haben eine hochzentralisierte Geldpolitik und eine weitgehend dezentralisierte Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialpolitik. Sie haben es selbst angesprochen: Das, was die Krise jetzt hervorbringt, ist eine Ingerenz in die Wirtschafts-, Sozial- und Fiskalpolitik, die wir bisher nicht hatten – und die ohne jene Legitimation stattfindet, die wir aber brauchen, um die entsprechende Akzeptanz zu lukrieren.

Vielleicht finden alle anderen – Sie hier im Saale und ich weiß nicht, wo auf der Welt – einen besseren Weg als den konstitutionellen.

Mir ist noch kein anderer eingefallen. (Beifall.)

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Parlamentsvitedirektorin Dr. Susanne Janistyn: Mein Dank gilt allen Referenten und Frau Dr. Puntscher-Riekmann hier am Podium.

Ich bedanke mich bei Ihnen, meine Damen und Herren, für Ihr Interesse, für Ihre Aufmerksamkeit und ich hoffe, dass wir ein Ziel, das wir mit dem heutigen Symposium verbunden haben, erreicht haben, nämlich das Jahresdatum 4. März 1933 mehr in den Mittelpunkt des Interesses und in die Diskussion zu stellen. Ich würde mir natürlich wünschen, wie es auch Herr Dr. Wohnout angesprochen hat, dass mehr darüber geforscht wird. Es gibt tatsächlich auch noch über diese Periode einige Flecken, die aufzuarbeiten wären. Und ich denke mir, man kann die Gegenwart nicht verstehen, ohne sich mit der Vergangenheit auseinandergesetzt zu haben.

Am Anfang wurde es schon gesagt: Es wird in diesem Jahr ein Tagungsband über dieses Symposium erscheinen; nachzulesen sein werden dann auch die Ergebnisse der heutigen Vorträge.

Jetzt bleibt mir nur noch, Sie ganz herzlich einzuladen in die Säulenhalle. – Vielen Dank. (Beifall.)

Schluss des Symposiums: 18.22 Uh