An das

Sozialministerium

Stubenring 1

1010 Wien

 

Wien, am 3. November 2014

 

 

 

 

Betrifft: GZ: BMASK-40101/0018-IV/B/4/2014;

                 Bundesgesetz, mit dem das Bundespflegegeldgesetz geändert wird

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren!

Der Behindertenanwalt dankt für die Übermittlung des Entwurfes eines Bundes­gesetzes, mit dem das Bundespflegegeldgesetz geändert wird, und nimmt dazu wie folgt Stellung:

 

I.     Sozialpolitische Rahmenbedingungen von Menschen mit Behinderung

 

Nach Schätzungen der WHO bzw. der UN sind etwa 15% der Bevölkerung eines Landes von einer Form von Behinderung betroffen. Bezogen auf Österreich, und unter Berücksichtigung aktueller statistischer Daten (Statistik Austria, 2013) muss von einer Anzahl von etwa 1,3 Mio. Menschen ausgegangen werden, welche von Behinderung betroffen sind.

Das Pflegegeld hat den Zweck, in Form eines Beitrages pflegebedingte Mehraufwen­dungen pauschaliert abzugelten, um pflegebedürftigen Personen so weit wie möglich die notwendige Betreuung und Hilfe zu sichern sowie die Möglichkeit zu verbessern, ein selbstbestimmtes, bedürfnisorientiertes Leben zu führen.

Aufgrund der Bestimmungen des Bundespflegegeldgesetzes wird das Pflegegeld derzeit etwa einem Drittel der Betroffenen, d.h. ca. 450.000 Personen, zuerkannt. In diesem Sinne stellt das Pflegegeld einen wichtigen Eckpfeiler in der Erfüllung der von Österreich 2008 ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention dar (insb. Artikel 19 - Recht auf selbstbestimmtes Leben).

Aus sozialpolitischer Sicht ist das Pflegegeld als staatliche Transferleistung für Menschen mit Behinderung zu betrachten. Unter Berücksichtigung verfügbarer Daten zum Haushalts- und Personeneinkommen (EU-SILC, Statistik Austria) kann gezeigt werden, dass das Einkommen von Haushalten, in denen Personen mit Behinderung leben, zu 20% (2006) von Transferleistungen gedeckt wird.

 

Diese Transferleistungen halbieren das Risiko in Armutsgefährdung (2006: 13% der Bevölkerung, 2012: 18.5% der Gesamtbevölkerung) zu geraten. Armutsgefährdung tritt ein, wenn die verfügbaren finanziellen Mittel einer Person oder einen Haushaltes 60% des Medianlebensstandards unterschreiten (Euro 1090,-- pro Monat im Jahr 2012).

Menschen mit Behinderung sind aufgrund mehrfaktorieller Einflüsse in besonders hohem Maße armutsgefährdet, gleichwohl sie – pflegebedarfsbedingt – erhöhte Lebenserhaltungskosten aufweisen. Eine strukturbedingte Armutsgefährdung und Deprivation erscheint mit dem zentralen Element der UN-Behindertenrechts­konvention – dem Recht auf selbstbestimmtes Leben – unvereinbar.

 

II. Folgeabschätzung der geplanten BPGG-Novelle

 

Die geplante Novelle zum Bundespflegegeldgesetz sieht als wichtigste Faktoren eine Neufestsetzung des Zugangs zum Pflegegeld und eine Neubemessung der Höhe des Pflegegeldes in den einzelnen Stufen vor.

Unter der Berücksichtigung von Kostendämpfungseffekten soll in einem ersten Schritt die Zugangsschwelle zum Pflegegeld für Neuanträge angehoben, in einem weiteren Schritt die Erhöhung der Pflegegeldbeträge vorgenommen werden. Die Abstimmung beider Maßnahmen aufeinander soll mit Blick auf das Jahr 2018 zu Einsparungen von ca. Euro 20 – 30 Mio. pro Jahr führen.

Für PflegegeldbezieherInnen und deren pflegende Angehörige ergeben sich je nach zutreffender Maßnahme zwei verschiedene Szenarien, welche im Folgenden betrachtet werden sollten:

 

a)   Erhöhung des bereits zuerkannten Pflegegeldes im Ausmaß von 2 %

Nach der letzten Anpassung aller Pflegegeldstufen im Jahr 2009 ist diese Maß­nahme grundsätzlich zu begrüßen. Wie in den erläuternden Bemerkungen fest­gestellt, dient dies zu Entlastung aufgrund der Preisentwicklung im Bereich der professionellen Pflege.

In diesem Zusammenhang wird bemerkt, dass der Verbraucherpreisindex (VPI) seit der letzten Valorisierung des Pflegegeldes um etwa 10 Zählerpunkte, d.h. um etwa das 5-fache der geplanten Erhöhung gestiegen ist.

Ferner muss angenommen werden, dass die Entwicklung in der professionellen Pflege noch dynamischer erfolgt ist. Darüber hinaus erfolgt in den Pflegestufen 1 und 2 eine Reduktion der Stundensätze um ca. 6% (Stufe 1) bzw. 9% (Stufe 2).

Es wird daher angeregt, zu prüfen, ob die vorgesehene Maßnahme in Hinblick auf das angeführte Wirkungsziel angemessen und ausreichend erscheint.

 

 

Ferner wird eine Prüfung angeregt, ob die geringe Inanspruchnahme professioneller Pflegedienste in den Pflegegeldstufen 1 und 2 möglicherweise den eher marktun­üblichen Stundensätzen, gerundet zwischen Euro 2,50 und Euro 3,00, unter Berücksichtigung der weiteren ungünstigen Ausgangslagen (wie in Pkt. I doku­mentiert) geschuldet ist. Unter Zugrundelegung dieser Annahme wäre die Be­gründung der Maßnahme zur Anhebung der Stundenerfordernisse für die Stufen 1 und 2 nicht nachvollziehbar, da der Rückgriff auf die Angehörigenpflege weniger als Entscheidung selbstbestimmter Lebensführung, sondern als ökonomischer Sach­zwang zu Subsistenzlösungen plausibel erscheint.

 

b)   Anhebung der Mindeststundensätze bei Neuzugängen zu den Pflege­geldstufen 1 und 2

Die Anhebung der Formalqualifikation zum Pflegegeldzugang ist aus der Sicht des Behindertenanwaltes unabhängig von den tatsächlich zu erbringenden Pflege­leistungen zu betrachten.

Unter der Prämisse, dass die Pflegeleistungen weiterhin erbracht werden (müssen), jedoch im Falle von nicht mehr qualifizierenden Neuanträgen mit einer Minder­leistung von Euro 1.850,40 pro Jahr (Stufe 1) bzw. einer Minderleistung von Euro 1.561,20 pro Jahr (Differenz Pflegegeldstufe 1 zu 2), ist von einem deutlichen Anstieg der Individualbelastung auszugehen.

Diese Beträge machen einen bedeutsamen Anteil der Transferleistungen an Menschen mit Behinderungen aus, deren Wegfall bzw. Fehlkompensation zu einer beträchtlichen Erhöhung der bereits aufgrund anderer Faktoren wie z.B. struktureller Arbeitslosigkeit absehbar zu einer deutlichen Erhöhung der Armutsgefährdung von Menschen mit Behinderungen und deren Angehörigen führen kann.

Bekannt ist, dass in den Pflegegeldstufen 1 und 2 aus den in a) angeführten Grün­den wenig Leistungen extern zugekauft werden. Es ist davon auszugehen, dass diese Leistungen von Nachbarn und Angehörigen erbracht werden und das Pflege-geld der Entschädigung für den Pflegeaufwand dient. Ein Wegfall des Pflegegeldes bzw. ein fehlender Anspruch auf Pflegegeld würde daher die Erbringung dieser familiären Pflegeleistungen massiv gefährden.

 

III. Empfehlungen zur Novellierung des Bundespflegegeldgesetzes

 

Die in Punkt II. diskutierten Maßnahmen sind grundsätzlich abzulehnen, da die zu erwartenden Folgen, mithin der Armutsgefährdung bedeuten, dass Österreich säumig bezüglich der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention würde, insbesondere betreffend

 

 

 

-      Artikel 19: Recht auf selbstbestimmtes Leben

-      Artikel 28: Recht auf angemessenen Lebensstandard und soziale Sicherheit

-      Artikel 29 und 30: Recht auf gesellschaftliche Teilhabe

 

Ferner wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Armut bzw. Armutsgefährdung in den Sozialwissenschaften als signifikanter Prädiktor für weitere ungünstige Lebensumstände etabliert ist. Hier ist insbesondere auf den Zusammenhang zwischen Armutsgefährdung und deren negativer Einfluss auf Gesundheit sowie Armutsgefährdung und deren negativer Einfluss auf Erwerbschancen zu verweisen.

Folglich ist aus volkswirtschaftlicher Sichtweise anzumerken, dass die prognos­tizierten Einsparungen im Ausmaß von Euro 20 – 30 Mio. pro Jahr durch die einhergehend erhöhte Armutsgefährdung von ca. 10 – 15% der österreichischen Bevölkerung (d.h. PflegegeldbezieherInnen und deren Angehörige) zu effektiven Mehrkosten in anderen Bereichen des Sozialsystems führen können, sodass mittel- und langfristig davon auszugehen ist, dass die gegenständliche Novelle sowohl eine Mehrbelastung Betroffener als auch des Haushaltsbudgets zur Folge haben würde.

Der Behindertenanwalt empfiehlt daher, neben den fiskalpolitischen Ausführungen zur Gesetzesnovelle darüber hinaus sozialpolitische und volkswirtschaftliche Überlegungen in Erwägung zu ziehen, um im Sinne der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen das Bundespflegegeldgesetz dahin­gehend zu novellieren, sodass

  1. der Zugang zu den formalen Pflegegeldstufen den tatsächlichen Pflegebedarf repräsentiert,
  2. die Höhe des Pflegegeldes durch eine laufende, jährliche Valorisierung auch zukünftig den tatsächlichen Kosten professioneller Pflegeleistungen ent­spricht, sodass Menschen mit Behinderungen im Sinne der selbstbestimmten Lebensführung frei über die Art der konsumierten Leistung entscheiden können.

Sollte aus diesen Maßnahmen weiterer Deckungsbedarf des Pflegegeldsystems erwachsen, so wird eine Prüfung anderer, ressortgebundener Finanzierungsmöglich­keiten angeregt. Insbesondere wird in diesem Zusammenhang auf die bevor­stehende Evaluierung der Lockerung des erhöhten Kündigungsschutzes und der Prüfung der Steuerungseffekte durch eine Erhöhung der Ausgleichstaxen verwiesen.

 

Zusammenfassend lehnt die Behindertenanwaltschaft die geplanten weiteren Zugangserschwernisse ab und erachtet die Valorisierung zwar als begrüßenswerten ersten Schritt, insgesamt aber als unzureichend.

 

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Erwin Buchinger