3822/A XXVII. GP

Eingebracht am 15.12.2023
Dieser Text wurde elektronisch übermittelt. Abweichungen vom Original sind möglich.

Antrag

der Abgeordneten Mag. Michaela Steinacker, Mag. Agnes Sirkka Prammer,

Kolleginnen und Kollegen

betreffend ein Bundesgesetz, mit dem die Strafprozeßordnung 1975, das Jugendgerichtsgesetz 1988, das Finanzstrafgesetz und das Verwaltungsstrafgesetz 1991 geändert werden

Der Nationalrat wolle beschließen:

Bundesgesetz, mit dem die Strafprozeßordnung 1975, das Jugendgerichtsgesetz 1988, das Finanzstrafgesetz und das Verwaltungsstrafgesetz 1991 geändert werden

Der Nationalrat hat beschlossen:

Artikel 1

Änderung der Strafprozeßordnung 1975

Die Strafprozeßordnung 1975, BGBl. Nr. 631/1975, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl. I Nr. xxx/2023, wird wie folgt geändert:

1. In § 59 Abs. 1 lautet der zweite Satz:

„In diesem Fall ist der Beschuldigte auf die Folgen dieses Verzichts und die jederzeitige Möglichkeit, diesen zu widerrufen, hinzuweisen.“

2. In § 164 Abs. 2 lauten der erste und zweite Satz:

„Der Beschuldigte hat das Recht, seiner Vernehmung einen Verteidiger beizuziehen; § 59 Abs. 1 gilt sinngemäß. Nimmt er dieses Recht in Anspruch, so ist die Vernehmung bis zum Eintreffen des Verteidigers aufzuschieben.“

3. In § 171 Abs. 4 wird nach der Wendung „§ 50“ die Wendung „, § 59 Abs. 1“ eingefügt.

4. Dem § 514 wird folgender Abs. 53 angefügt:

„(53) § 59 Abs. 1, § 164 Abs. 2 und § 171 Abs. 4 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. xxx/2023 treten mit 1. Jänner 2024 in Kraft.“

6. Dem § 516a wird folgender Abs. 15 angefügt:

„(15) § 59 Abs. 1, § 164 Abs. 2 und § 171 Abs. 4 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. xxx/2023 dienen der Umsetzung der Richtlinie 2013/48/EU über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs, ABl. Nr. L 294 vom 06.11.2013 S. 1.“

Artikel 2

Änderung des Jugendgerichtsgesetzes 1988

Das Jugendgerichtsgesetz 1988, BGBl. Nr. 599/1988, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl. I Nr. 98/2023, wird wie folgt geändert:

1. In § 19 Abs. 2 entfällt die Wendung „17b,“.

2. In § 35 Abs. 4 wird nach dem Wort „Grund“ die Wendung „oder die Verständigung dem Kindeswohl“ eingefügt.

3. In § 38 Abs. 1a wird vor dem Punkt am Ende die Wendung „ , es sei denn, dass dies dem Kindeswohl widerspricht“, in § 38 Abs. 2 nach dem Wort sind die Wendung „– sofern dies nicht dem Kindeswohl widerspricht –“eingefügt.

4. Dem § 63 wird folgender Abs. 18 angefügt:

„(18) § 19 Abs. 2, § 35 Abs. 4 und § 38 Abs. 1a und 2 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. xxx/2023 treten mit 1. Jänner 2024 in Kraft.“

5. Der bisherige Inhalt des § 65 erhält die Absatzbezeichnung „(1)“, und es wird in § 65 folgender Absatz 2 angefügt:

„(2) Dieses Bundesgesetz dient der Umsetzung der Richtlinie 2013/48/EU über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs, ABl. Nr. L 294 vom 06.11.2013 S. 1.“

Artikel 3

Änderung des Finanzstrafgesetzes

Das Finanzstrafgesetz, BGBl. Nr. 129/1958, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl. I Nr. 110/2023, wird wie folgt geändert:

1. In § 77 Abs. 1 werden der erste bis dritte Satz durch folgende Sätze ersetzt:

„Beschuldigte haben das Recht, in jeder Lage des Verfahrens den Beistand eines Verteidigers in Anspruch zu nehmen oder über ausdrückliche Erklärung auf die Inanspruchnahme eines Verteidigers zu verzichten und sich selbst zu verteidigen. Die Erklärung ist für das weitere Verfahren nicht bindend. Im Falle des Verzichts ist der Beschuldigte auf die Folgen dieses Verzichts und die jederzeitige Möglichkeit, diesen zu widerrufen, hinzuweisen. Die Erklärung ist in der Niederschrift über die Vernehmung festzuhalten.“

2. In § 84 Abs. 2 wird nach dem ersten Satz folgender Satz eingefügt:

„§ 77 Abs. 1 gilt sinngemäß.“

3. In § 85 Abs. 4 werden der erste und zweite Satz durch folgende Sätze ersetzt:

„Jeder Festgenommene ist unverzüglich der zuständigen Finanzstrafbehörde vorzuführen und von dieser ohne unnötigen Aufschub zur Sache und zu den Voraussetzungen der Verwahrung zu vernehmen. Nimmt der Festgenommene sein Recht auf Beiziehung eines Verteidigers in Anspruch, so ist die Vernehmung bis zum Eintreffen des Verteidigers aufzuschieben. § 77 Abs. 1 gilt sinngemäß.

4. Dem § 265 wird folgender Absatz 5 angefügt:

„(5) § 77 Abs. 1, § 84 Abs. 2 und § 85 Abs. 4 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. xxx/2023 treten mit 1. Jänner 2024 in Kraft.“

Artikel 4

Änderung des Verwaltungsstrafgesetzes 1991

Das Verwaltungsstrafgesetz 1991 – VStG, BGBl. Nr. 52/1991, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl. I Nr. 88/2023, wird wie folgt geändert:

1. § 33 Abs. 2 lautet:

„(2) Der Beschuldigte ist, erforderlichenfalls unter Beiziehung eines Dolmetschers, in einer für ihn verständlichen Sprache zu informieren:

           1. über die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen, und über das Recht, sich zur Sache zu äußern oder nicht auszusagen;

           2. über das Recht auf Beiziehung eines Verteidigers;

           3. über die Möglichkeit eines Verzichts auf das Recht auf Beiziehung eines Verteidigers, die möglichen Folgen eines solchen Verzichts und über die Möglichkeit, den Verzicht jederzeit während des Strafverfahrens zu widerrufen.

Eine Verzichtserklärung muss freiwillig und unmissverständlich abgegeben werden. Die Erteilung der Information sowie ein allfälliger Verzicht auf das Recht auf Beiziehung eines Verteidigers sind schriftlich festzuhalten.“

2. § 36 Abs. 1 dritter Satz erster Halbsatz lautet:

„Hat er von seinem Recht auf Beiziehung eines Verteidigers Gebrauch gemacht, so ist die Vernehmung bis zum Eintreffen des Verteidigers aufzuschieben, es sei denn, eine sofortige Vernehmung erscheint aus besonderen Gründen unbedingt erforderlich, um eine erhebliche Beeinträchtigung der Ermittlungen oder von Beweismitteln abzuwenden;“

3. In § 68 Abs. 3 wird die Wortfolge „in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 57/2018“ durch die Wortfolge „in der Fassung der Bundesgesetze BGBl. I Nr. 57/2018 und BGBl. I Nr. xxx/2023“ ersetzt.

4. Dem § 69 wird folgender Abs. 23 angefügt:

„(23) § 33 Abs. 2, § 36 Abs. 1 dritter Satz und § 68 Abs. 3 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. xxx/2023 treten mit 1. Jänner 2024 in Kraft.“

Begründung:

Hauptgesichtspunkte des Antrags:

Um einzelnen Kritikpunkten, die die Europäische Kommission an den bestehenden Regelungen in Österreich im Vertragsverletzungsverfahren Nr. 2023/2009 wegen nicht ordnungsgemäßer Umsetzung der Richtlinie 2013/48/EU über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs, ABl. Nr. L 294 vom 06.11.2013 S. 1 (in der Folge „RL Rechtsbeistand“), – insbesondere von Art. 3 Abs. 5, Art. 5 Abs. 2 und Art. 9 – geäußert hat, sollen, um jegliche Zweifel an der ordnungsgemäßen Umsetzung der RL Rechtsbeistand auszuschließen, einzelne Regelungen präzisiert werden. Zu diesem Zweck sollen insbesondere folgende Klarstellungen im Hinblick auf den Zugang zu einem Rechtsbeistand und über die Berücksichtigung des Kindeswohls vorgenommen werden:

–      Entfall der Möglichkeit des Absehens vom Aufschub der Vernehmung eines bzw. einer Beschuldigten bis zum Eintreffen des Verteidigers bzw. der Verteidigerin, wenn damit eine unangemessene Anhaltung verbunden ist, in § 164 Abs. 2 zweiter Satz StPO;

–      Klarstellung, dass die Belehrung des bzw. der Beschuldigten auch die Folgen des Verzichts auf die Beigebung eines Rechtsbeistandes zu umfassen hat (§ 59 Abs. 1 StPO);

–      Ergänzungen, dass der bzw. die Beschuldigte auch bei jeder weiteren Vernehmung sowie im Fall einer zuvor abgegebenen Verzichtserklärung über die Möglichkeit, sich mit einem Verteidiger bzw. einer Verteidigerin zu beraten und die Folgen eines Verzichts zu belehren ist, in § 164 Abs. 2 und § 171 Abs. 4 StPO;

–      Klarstellung, dass Verständigungen gemäß § 35 Abs. 4 JGG sowie § 38 Abs. 1a und 2 JGG immer zu unterbleiben haben, wenn sie dem Kindeswohl widersprechen würden;

–      Klarstellung, dass im Falle der Festnahme bis zum Eintreffen des Verteidigers bzw. der Verteidigerin zuzuwarten ist, und dass der bzw. die Beschuldigte im Falle des Verzichtes auf einen Verteidiger bzw. eine Verteidigerin ausdrücklich auf die Folgen des Verzichts sowie darauf hingewiesen wird, dass der Verzicht jederzeit widerrufen werden kann (§ 77 Abs. 1, § 84 Abs. 2, § 85 Abs. 4 FinStrG);

–      Klarstellung, dass der bzw. die Beschuldigte im Verwaltungsstrafverfahren auch über die Möglichkeit eines Verzichts auf das Recht auf Beiziehung eines Verteidigers bzw. einer Verteidigerin, die möglichen Folgen eines solchen Verzichts und über die Möglichkeit, den Verzicht jederzeit während des Strafverfahrens zu widerrufen, zu informieren ist (§ 33 Abs. 2 VStG);

–      Klarstellung, dass im Verwaltungsstrafverfahren die Vernehmung bis zum Eintreffen des Verteidigers bzw. der Verteidigerin grundsätzlich aufzuschieben ist, so der bzw. die Beschuldigte von seinem bzw. ihrem Recht auf Beiziehung eines Verteidigers bzw. einer Verteidigerin Gebrauch gemacht hat.

Kompetenzgrundlage:

Die Zuständigkeit des Bundes zur Erlassung dieses Bundesgesetzes ergibt sich aus Art. 10 Abs. 1 Z 6 B-VG („Strafrechtswesen“) und Art. 11 Abs. 2 B-VG („Verwaltungsstrafverfahren“).

Zu Art. 1 (Änderung der Strafprozeßordnung 1975)

Z 1 bis Z 3 (§ 59 Abs. 1, § 164 Abs. 2 und § 171 Abs. 4 StPO):

Die verfahrensrechtliche Umsetzung der RL Rechtsbeistand erfolgte mit dem Strafprozessrechtsänderungsgesetz I 2016 (StPRÄG I 2016), BGBl. I Nr. 26/2016, sowie dem Strafprozessrechtsänderungsgesetz II 2016, BGBl. I Nr. 121/2016.

Gemäß Art. 8 Abs. 1 der RL Rechtsbeistand, der Bedingungen für Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand und auf Verständigung eines Dritten nach Art. 3 Abs. 5 oder Abs. 6 oder nach Art. 5 Abs. 3 regelt, sind derartige Ausnahmen nur zulässig, wenn sie verhältnismäßig und zeitlich eng begrenzt sind, nicht über das erforderliche Maß hinausgehen, nicht ausschließlich durch die Art oder die Schwere der mutmaßlichen Straftat begründet werden und insgesamt ein faires Verfahren nicht beeinträchtigen. Da Art. 3 Abs. 6 der RL Rechtsbeistand eine Beschränkung des Kontakts mit dem Verteidiger bzw. der Verteidigerin nur unter außergewöhnlichen Umständen und nur zum Zweck sofortigen Handelns der Ermittlungsbehörden erlaubt, wurde mit dem StPRÄG I 2016 klargestellt, dass im Hinblick auf das ausdrücklich festgelegte Recht auf Anwesenheit des Verteidigers bzw. der Verteidigerin die bis dahin vertretene Ansicht, dass auf das Eintreffen des Verteidigers bzw. der Verteidigerin nicht zugewartet werden muss, nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Daher wurde angelehnt an § 37 JGG in § 164 Abs. 2 StPO festgelegt, dass mit der Vernehmung des bzw. der festgenommenen Beschuldigten bis zum Eintreffen des Verteidigers bzw. der Verteidigerin zuzuwarten ist, sofern dies nicht zu einer unangemessenen Verlängerung der Anhaltung führt (vgl. die Erläuterungen zur RV 1058 d.B. XXV. GP, 19).

Im Zusammenhang mit dem Verzicht auf einen Rechtsbeistand führen die Erläuterungen zum StPRÄG I 2016 aus, dass den Vorgaben des Art. 9 Abs. 1 der RL Rechtsbeistand, hinsichtlich der Information des bzw. der Beschuldigten, der Freiwilligkeit und der Möglichkeit des jederzeitigen Verzichts bereits durch eine Reihe gesetzlicher Bestimmungen entsprochen war. Daher wurde lediglich in § 50 Abs. 3 StPO ausdrücklich klargestellt, dass der Verzicht auf einen Rechtsbeistand schriftlich zu dokumentieren ist.

Trotz der bereits in den Jahren 2016/2017 erfolgten und bislang auf europäischer Ebene nicht kritisierten Umsetzung der RL Rechtsbeistand vertritt die Europäische Kommission in einem an die Republik Österreich gerichteten Mahnschreiben vom Juli 2023, dass der Verpflichtung zur ordnungsgemäßen Umsetzung von Art. 3 Abs. 5 sowie Art. 9 iVm Art. 15 der RL Rechtsbeistand nicht nachgekommen worden sei. Begründend führt sie zusammengefasst aus, dass § 164 Abs. 2 zweiter Satz StPO ermögliche, von der Aufschiebung der Vernehmung bis zum Eintreffen des Verteidigers bzw. der Verteidigerin abzusehen, wenn dadurch eine unangemessene Anhaltung vermieden werden kann. Dabei werde allerdings nicht auf die in Art. 3 Abs. 5 der RL Rechtsbeistand geregelte Ausnahme der geografischen Entfernung Bezug genommen, sondern bloß auf eine mögliche Verlängerung des Freiheitsentzuges.

Darüber hinaus würden sich § 49, § 50, § 59 und § 171 Abs. 4 StPO auf Informationen über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand nach der Festnahme oder im Zusammenhang mit der Unterrichtung über das Verfahren und vor der ersten Vernehmung der Person beziehen. Diese Information würde somit bei späteren Vernehmungen nicht erneut übermittelt werden. Somit würde es keine Bestimmungen geben, die die Unterrichtung der verdächtigen Person über die möglichen Folgen der Nichtausübung dieses Rechts und die Möglichkeit, die Entscheidung zum Verzicht auf einen Rechtsbeistand zu überdenken, vorsehen. Die Entscheidung, ohne Unterstützung durch einen Rechtsbeistand fortzufahren, müsse freiwillig, unmissverständlich und aufgezeichnet sein (Art. 9 Abs. 1 lit. b und Abs. 2 der RL Rechtsbeistand), und zwar nicht nur im Rahmen der ersten Vernehmung, sondern auch für anschließende Vernehmungen oder Beweiserhebungen.

Art. 3 der RL Rechtsbeistand regelt den Zugang zu einem Rechtsbeistand im Strafverfahren. Nach Art. 3 Abs. 2 können Verdächtige oder beschuldigte Personen ab dem zuerst eintretenden der folgenden Zeitpunkte Zugang zu einem Rechtsbeistand erhalten:

               a) vor ihrer Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden;

               b) ab der Durchführung von Ermittlungs- oder anderen Beweiserhebungshandlungen durch Ermittlungs- oder andere zuständige Behörden gemäß Abs. 3 lit. c;

                c) unverzüglich nach dem Entzug der Freiheit;

               d) wenn die bzw. der Verdächtige oder die beschuldigte Person vor ein in Strafsachen zuständiges Gericht geladen wurde, rechtzeitig bevor der bzw. die Verdächtige oder die beschuldigte Person vor diesem Gericht erscheint.

Art. 3 Abs. 3 regelt den inhaltlichen Umfang des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand. Art. 3 Abs. 5 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten unter außergewöhnlichen Umständen und nur im vorgerichtlichen Stadium vorübergehend von der Anwendung des Abs. 2 lit. c abweichen können, wenn aufgrund der geografischen Entfernung der Verdächtigen oder beschuldigten Personen eine unverzügliche Gewährleistung des Zugangs zu einem Rechtsbeistand nach der Freiheitsentziehung nicht möglich ist.

Die Ausnahmeregelung des Art. 3 Abs. 5 bezieht sich ausschließlich auf Art. 3 Abs. 2 lit. c. Selbst wenn aufgrund der geografischen Entfernung des bzw. der Verdächtigen oder der beschuldigten Person ein unverzüglicher Zugang zu einem Rechtsbeistand nicht gewährleistet werden kann, muss dieser Zugang vor einer Befragung sichergestellt werden (vgl. Art. 3 Abs. 2 lit. a). Demgegenüber ermöglicht § 164 Abs. 2 zweiter Satz StPO die Vernehmung des bzw. der angehaltenen Beschuldigten ohne Beiziehung eines Verteidigers bzw. einer Verteidigerin, wenn der Aufschub der Vernehmung bis zu dessen bzw. deren Eintreffen mit einer unangemessenen Verlängerung der Anhaltung verbunden wäre. Eine solche Ausnahmeregelung ist in Art. 3 der RL Rechtsbeistand nicht vorgesehen.

Zur Sicherstellung einer richtlinienkonformen Umsetzung von Art. 3 und Entkräftung der Kritikpunkte der Europäischen Kommission wird vorgeschlagen, in § 164 Abs. 2 zweiter Satz StPO den letzten Halbsatz („, es sei denn, dass damit eine unangemessene Verlängerung der Anhaltung verbunden wäre“) entfallen zu lassen und damit sicherzustellen, dass von der Beiziehung eines Verteidigers bzw. einer Verteidigerin (auch bei Anhaltung des bzw. der Beschuldigten) nur nach Maßgabe des § 164 Abs. 2 fünfter Satz StPO abgesehen werden darf. Dies wird voraussichtlich keine erheblichen praktischen Auswirkungen haben, weil gemäß der Vereinbarung zwischen dem Bundesministerium für Justiz und dem Österreichischen Rechtsanwaltskammertag über den rechtsanwaltlichen Bereitschaftsdienst im Fall von Festnahmen und Vorführungen zur Vernehmung ohnedies innerhalb von drei Stunden ein Verteidiger bzw. eine Verteidigerin erscheinen muss. Auch von Wahlverteidigerinnen und Wahlverteidigern kann erwartet werden, dass diese (ggf. durch einen Substituten bzw. eine Substitutin) innerhalb dieser zeitlichen Grenzen verfügbar sind. Im gerichtlichen Bereich ist überdies auf die Möglichkeit nach § 62 Abs. 2 StPO (sog. Dringlichkeitsverteidigerin bzw. Notverteidiger) hinzuweisen.

Art. 9 der RL Rechtbeistand regelt den Verzicht auf eines der in den Art. 3 und 10 genannten Rechte. Nach Art. 9 Abs. 1 müssen dafür folgende Voraussetzungen erfüllt sein:

               a) der bzw. die Verdächtige oder die beschuldigte Person hat mündlich oder schriftlich eindeutige und ausreichende Informationen in einfacher und verständlicher Sprache über den Inhalt des betreffenden Rechts und die möglichen Folgen eines Verzichts auf dieses Recht erhalten, und

               b) die Verzichtserklärung wird freiwillig und unmissverständlich abgegeben.

Art. 9 Abs. 2 ordnet an, dass der Verzicht, der schriftlich oder mündlich erklärt werden kann, sowie die Umstände der Verzichterklärung unter Verwendung des Verfahrens für Aufzeichnungen nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats schriftlich festgehalten werden müssen. Nach Art. 9 Abs. 3 ist sicherzustellen, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen einen Verzicht jederzeit während des Strafverfahrens widerrufen können und dass sie über diese Möglichkeit informiert werden. Der Widerruf ist ab dem Zeitpunkt wirksam, zu dem er erfolgte.

Zur Gewährleistung einer richtlinienkonformen Umsetzung von Art. 9 der RL Rechtsbeistand wird daher vorgeschlagen, den in § 59 Abs. 1 StPO geregelten Umfang der Belehrung des bzw. der Beschuldigten um die Folgen des Verzichts auf die Beigebung eines Rechtsbeistands zu erweitern. Dass der bzw. die Beschuldigte auch bei jeder weiteren Vernehmung und auch dann, wenn zuvor eine Verzichtserklärung abgegeben wurde, über die Möglichkeit, sich mit einem Verteidiger bzw. einer Verteidigerin zu beraten, zu belehren ist, kann zwar bereits aus § 164 Abs. 1 StPO abgeleitet werden, zur Klarstellung soll aber § 164 Abs. 2 StPO durch einen Verweis auf § 59 Abs. 1 StPO ergänzt werden; von der fortlaufenden Belehrung soll damit ausdrücklich auch die Belehrung über die Folgen des Verzichts umfasst sein. In diesem Sinne wird auch vorgeschlagen, im Zusammenhang mit dem Umfang der Rechtsbelehrung im Fall der Festnahme den bereits in § 171 Abs. 4 StPO enthaltenen Verweis auf die Belehrung nach § 50 StPO um die Belehrung nach § 59 Abs. 1 StPO zu erweitern.

Zu Art. 2 (Änderung des Jugendgerichtsgesetzes 1988)

Zu Z 1 (§ 19 Abs. 2 JGG)

Die Anordnung, dass in Verfahren zur strafrechtliche Unterbringung von Jugendlichen in einem forensisch-therapeutischen Zentrum Jugendpsychiater beizuziehen sind (§ 32 Abs. 5 JGG), gilt nicht auch für junge Erwachsene (weil jene Bestimmung, die bestimmte Regelungen, die im Strafverfahren gegen Jugendliche gelten, auch für junge Erwachsene anwendbar macht, § 46a Abs. 2 JGG, § 32 Abs. 5 JGG nicht anführt). Im Gegensatz dazu führt jene Bestimmung, die bestimmte materielle Bestimmungen des JGG für junge Erwachsene anwendbar macht, § 19 Abs. 2 JGG, auch § 17b JGG an, der die Prüfung dieser Unterbringung regelt und namentlich die Beiziehung eines Jugendpsychiaters anordnet. Dies ist inkonsistent; die Beiziehung eines Jugendpsychiaters auch für junge Erwachsene scheint nicht angebracht und war auch nicht intendiert. Dieses Redaktionsversehen soll daher behoben werden, indem der Verweis auf § 17b JGG aus § 19 Abs. 2 JGG entfernt wird.

Zu Z 2 und 3 (§ 35 Abs. 4 und § 38 Abs. 1a JGG)

1. Die Europäische Kommission kritisiert in ihrem Mahnschreiben, § 35 Abs. 4 JGG regle zwar die Verständigung eines Erziehungsberechtigten über den Freiheitsentzug, wenn ein Kind dem aus triftigem Grund widerspricht, jedoch nicht für den Fall, dass die Benachrichtigung dem Wohl des Kindes abträglich wäre. Weiters nehme auch § 38 JGG keinen Bezug auf ein Ausbleiben der Benachrichtigung der Obsorgeberechtigten, wenn diese Benachrichtigung dem Wohl des Kindes abträglich wäre. Es sei daher Art. 5 Abs. 2 der RL Rechtsbeistand unzureichend umgesetzt.

2. Grundsätzlich entspricht ein Unterbleiben der Verständigung gemäß § 35 Abs. 4 JGG sowie § 38 Abs. 1a und 2 JGG, wenn das Kind dieser widerspricht, dem Kindeswohl und somit jedenfalls dem Zweck der Bestimmung der RL Rechtsbeistand.

Um jegliche Zweifel an der ordnungsgemäßen Umsetzung der RL Rechtsbeistand auszuschließen, sollte jedoch ausdrücklich klargestellt werden, dass die Verständigung unabhängig davon, ob ihr das Kind widerspricht, immer zu unterbleiben hat, wenn sie dem Kindeswohl zuwiderliefe. In diesem Sinn sollen daher die Bestimmungen in § 35 Abs. 4 JGG und § 38 Abs. 1a und 2 JGG ergänzt werden.

Zu Art. 3 (Änderung des Finanzstrafgesetzes)

Zu Z 1 bis 4 (§ 77 Abs. 1, § 84 Abs. 2, § 85 Abs. 4, § 265 Abs. 4 FinStrG)

Die Umsetzung der RL Rechtsbeistand im Finanzstrafgesetz erfolgte durch das Bundesgesetz BGBl. I Nr. 62/2018. Im Vertragsverletzungsverfahren Nr. 2023/2009 vertritt die Europäische Kommission die Auffassung, dass die Republik Österreich im Zusammenhang mit dem Finanzstrafgesetz ihren Verpflichtungen aus folgenden Bestimmungen der RL Rechtsbeistand nicht nachgekommen sei:

–      Art. 3 Abs. 5 der Richtlinie (Abweichung vom Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand aufgrund der geografischen Entfernung) und

–      Art. 9 der Richtlinie (Verzicht auf das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand).

Um jeglichen Zweifel an der vollständigen Umsetzung in Österreich auszuräumen, sollen einzelne Bestimmungen im FinStrG entsprechend der Auffassung der Europäischen Kommission angepasst werden. So soll im Falle der Festnahme bis zum Eintreffen des Verteidigers bzw. der Verteidigerin zugewartet werden, und der Beschuldigte im Falle des Verzichtes auf einen Verteidiger bzw. eine Verteidigerin ausdrücklich auf die Folgen des Verzichts sowie darauf hingewiesen werden, dass der Verzicht jederzeit widerrufen werden kann.

Zu Art. 4 (Änderung des Verwaltungsstrafgesetzes 1991):

Zu Z 1 (§ 33 Abs. 2 VStG):

Die vorgeschlagene Neufassung der Bestimmung soll den Umfang der Information über das Recht auf Beiziehung eines Verteidigers bzw. einer Verteidigerin (siehe dazu auch Art. 9 der RL Rechtsbeistand) klarstellen. So soll der bzw. die Beschuldigte insbesondere auch über die Möglichkeit eines Verzichts auf das Recht auf Beiziehung eines Verteidigers bzw. einer Verteidigerin, die möglichen Folgen eines solchen Verzichts und über die Möglichkeit, den Verzicht jederzeit während des Strafverfahrens zu widerrufen, zu informieren sein. Dass ein solcher Verzicht jederzeit widerrufen werden kann, ergibt sich zwar schon nach geltender Rechtslage aus dem Fehlen einer gesetzlichen Regelung über eine Bindung an diesen (siehe dazu bereits die Erläuterungen zur Regierungsvorlage 193 d.B. XXVI. GP, 6), soll jedoch der Klarheit halber ausdrücklich normiert werden.

Zu Z 2 (§ 36 Abs. 1 dritter Satz erster Halbsatz VStG):

Bereits die geltende Fassung des § 36 Abs. 1 dritter Satz erster Halbsatz VStG lässt eine sofortige Vernehmung nur als (eng auszulegende) Ausnahme von der Regel des Aufschiebens bis zum Eintreffen des Verteidigers bzw. der Verteidigerin zu. Der vorgeschlagene § 36 Abs. 1 dritter Satz erster Halbsatz VStG soll dies vor dem Hintergrund des Art. 3 Abs. 6 Buchst. b der RL Rechtsbeistand noch deutlicher zum Ausdruck bringen.

Zu Z 3 (§ 68 Abs. 3 VStG):

Umsetzungshinweis.

Zu Z 4 (§ 69 Abs. 23 VStG):

Inkrafttretensbestimmung.

In formeller Hinsicht wird die Zuweisung an den Justizausschuss vorgeschlagen.