3936/A(E) XXVII. GP

Eingebracht am 28.02.2024
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ENTSCHLIESSUNGSANTRAG

 

des Abgeordneten Mag. Gerhard Kaniak

und weiterer Abgeordneter

betreffend Maßnahmenpaket zur Beseitigung der Medikamentenengpässe

 

 

Es gibt in Österreich eine ganze Reihe von Systemen, die uns als Gesellschaft über kurz oder lang um die Ohren fliegen werden, wenn sich nicht substanziell etwas ändert.

Das gilt für das chronisch unterversorgte Verteidigungssystem, ebenso wie für das jetzt schon unfinanzierbare Pensionssystem und es gilt auch für das zum Zerreißen gespannte System: das österreichische Gesundheitssystem.

 

Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass wir es hier nicht mit einzelnen Fehlern in einem prinzipiell funktionierenden System zu tun haben, sondern mit einem Systemfehler als solchem. Die Bundespolitik läuft seit vielen Jahren sehenden Auges in multiple Krisen und es hat erst eine Pandemie gebraucht, damit jedem klar wurde, wie schlecht es um unser Gesundheitssystem tatsächlich bestellt ist.

 

Expertenstimmen

Paul Plener, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Wiener Universitätsklinik ließ die Bundesregierung unlängst in einem medizinischen Jahrbuch wissen, dass man eine Verdoppelung der Zahl der stationären Betten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie bräuchte, um in Österreich überhaupt auf einen „europäischen Standard“ zu kommen. Im Vergleich zu vor der Pandemie hätte man im vergangenen Jahr dreimal so viele Patienten nach Suizidversuchen zu versorgen gehabt.

 

Wilhelm Marhold, ehemals Chef der städtischen Wiener Spitäler, warnt in der gleichen Publikation mit drastischen Worten wörtlich: „Es vergeht kein Tag, an dem nicht Mängel im österreichischen Spitalswesen in den Medien aufscheinen. Wenn wir so weitermachen wie bisher, fährt das System an die Wand.“

 

SOS-Kinderdorf-Geschäftsführer Christian Moser: „Wir haben es aktuell mit einer dramatischen Lage zu tun, in der es viel zu wenige Kassenplätze gibt und die vorhandenen Kassenplätze oft lange Zeit unbesetzt bleiben. Vor allem bei der psychosozialen Versorgung spitzt sich die Situation besonders zu.“

 

Das sind die Realitäten in unserem Gesundheitssystem und da sind die Medikamentenengpässe noch gar nicht dabei. Dort wird es dann richtig finster, wenn wir uns Zustände ansehen, die man so eigentlich nur aus Dritte-Welt-Ländern kennt. Das alles sind dramatische Entwicklungen. Fraglich ist, ob das auch wirklich im vollen Ausmaß im Bewusstsein der Bundesregierung angekommen ist, Zweifel sind zu Recht angebracht:

 

Erst vor wenigen Tagen lässt Bundesgesundheitsminister Johannes Rauch seine Gefolgschaft auf Twitter wissen, dass Österreich im internationalen Vergleich zwar viel Geld für sein Gesundheitssystem ausgibt, dafür aber angeblich mehr Ärzte, mehr Pflegepersonal, mehr Spitalsbetten hat und dass sich die Österreicher gesünder fühlen würden als der EU-Durchschnitt. Soll das heißen, es ist in Wahrheit alles gut oder was möchte uns der Herr Gesundheitsminister damit sagen?

 

Faktencheck

Die Studie, auf die sich Minister Rauch bezieht, ist die kürzlich vorgestellte OECD-Studie „Health at a glance 2022”. Offenbar hat Rauch ein paar entscheidende Dinge überlesen, wie etwa die Tatsache, dass Österreich im EU-Vergleich bei den Pro-Kopf-Ausgaben im Gesundheitssystem auf Platz 3 liegt, bei der durchschnittlichen Lebenserwartung aber nur auf Platz 13 aufscheint.

 

Rechnet man Norwegen, Island und die Schweiz mit ein, so liegt Österreich bei den Ausgaben nur noch auf Platz 5, rutscht aber bei der Lebenserwartung noch weiter auf Platz 16 ab.

 

Gleiches gilt für die Anzahl der durchschnittlichen gesunden Lebensjahre ab einem Alter von 65: hier liegt Österreich nur ganz knapp über dem EU-Schnitt und damit auf Platz 15. Und das, obwohl wir – man kann es nicht oft genug betonen – EU-weit am drittmeisten Geld pro Kopf ins Gesundheitssystem schütten. Es ist die Frage zu stellen: wo versickert dieses Geld und warum gelingt es den Verantwortlichen nicht, diese vielen Milliarden Euro jährlich auch adäquat in gesunde Lebensjahre umzumünzen? Das sind essenzielle Fragen für die Zukunft der Volksgesundheit, die seit Jahren unbeantwortet bleiben.

 

Zur Aussage, dass wir ja mehr Ärzte hätten als der europäische Schnitt, muss festgehalten werden: Es ist auch eine Tatsache, dass in Oberösterreich derzeit drei Dutzend Kassenarztstellen für Allgemeinmedizin und noch einmal ein gutes Dutzend Fach-Kassenarztstellen unbesetzt sind. Zudem erreichen in den kommenden zehn Jahren 40% der Allgemeinmediziner das Pensionsalter. So gehen jedes Jahr Stellen verloren, die aber bei weitem nicht mit jungen Ärzten nachbesetzt werden können. Wir steuern in ganz Österreich auf gravierende Versorgungslücken in allen medizinischen Bereichen zu, oft befinden wir uns schon mittendrin in dieser Versorgungskrise.

 

Und in diese Gemengelage hinein hat ein österreichischer Gesundheitsminister die Nerven, zu behaupten, es sei ja sowieso alles halbwegs in Ordnung und man müsse quasi nur ein paar Kleinigkeiten überarbeiten.

 

Das ist deutlich zu wenig und es ist vor allem eine verantwortungslose Schönfärberei, in Anbetracht dessen, was im Gesundheitssystem an Herausforderungen auf uns zukommt.

 

Die Bundesregierung und vor allem auch der Gesundheitsminister müssen ehrlicher sein und Lösungen vorlegen. Hier erwarte ich mir von einer Bundesregierung und vor allem auch von einem Gesundheitsminister mehr Ehrlichkeit und endlich einmal etwas Konkretes anstatt sich laufend nur in PR-Geschwurbel zu ergehen.

 

Ausgangslage Medikamentenmangel

Seit vielen Jahren herrscht nicht nur in Österreich, sondern europaweit ein starker Kostendruck auf dem Gesundheitssystemen. Dieser wird durch die älter werdende Bevölkerung und neue, effektive, aber auch teure Behandlungsmöglichkeiten verschärft. Eine der einfachsten Möglichkeiten, Geld im Gesundheitssystem einzusparen, ist die (gesetzliche) Senkung der Arzneimittelpreise, vor allem bei Arzneimitteln, deren Patentschutz ausgelaufen ist und „Nachbauprodukte“ (=Generika) verfügbar sind. Dies hat jedoch dazu geführt, dass diese Arzneimittel aus Kostengründen kaum mehr in Europa hergestellt werden, sondern schwerpunktmäßig in China und Indien.

 

Zudem muss berücksichtigt werden, dass die Produktion eines Arzneimittels in der Regel für mehrere Jahre im Voraus geplant wird und kurzfristige Nachproduktion kaum möglich ist. Meistens wird in Jahreskontingenten für ganze Versorgungsregionen (z.B. DACH-Region, West-Europa, Ost- und Mitteleuropa, Nord-Amerika,...) geplant und produziert. Dadurch kann es bei einer Störung (Verunreinigung einer Rohstoff-Charge, Lieferkettenunterbrechnung, Nicht-Verfügbarkeit von Primärverpackung,...) zu einem mehrere Monate dauernden Lieferausfall kommen. Meistens können diese Ausfälle durch vorhandene Bestände, notfalls auch aus anderen Staaten oder Regionen, ausgeglichen werden. Diesen kurzfristigen und so wichtigen Ausgleich erledigt unter anderem der "vielgescholtene" Parallelhandel.

 

Zur aktuellen Situation

Durch die relativ schwachen Grippe- und Erkältungswellen der vergangenen beiden Jahre (in der viele Arzneimittel nicht verkauft werden konnten) und den Kostendruck in der nationalen Vertriebskette ist auch die Bevorratung für die Erkältungssaison 2022/23 vorsichtig angelegt gewesen. Diese vorsichtige Vorratshaltung und auch Produktionsplanung sind nun auf eine überdurchschnittlich starke Grippe- und RSV-Welle getroffen, was für sich alleine schon zu Engpässen geführt hätte. Verschärft worden ist die Situation allerdings durch die massiven Arzneimittel-Hilfslieferungen in die Ukraine im Frühling. Denn hier wurden praktisch alle "Reserven" für den Winter 2022/23 ins Ausland geschickt, wobei die dadurch ausgelösten "Nachproduktionen" erst im Frühjahr 2023 zu erwarten sind.

 

Deshalb ist mit einer kurzfristigen Verbesserung der Situation nicht zu rechnen, sondern die Versorgungsengpässe werden sich voraussichtlich bis in den März, in Einzelfällen sogar noch länger, ziehen.

 

Lösungsvorschläge

Kurzfristig muss das, was noch vorhanden ist, bestmöglich und möglichst unbürokratisch verteilt werden. Dazu bedarf es der gegenseitigen Hilfe bzw. des ausgleichenden Handels in Europa, damit "dislozierte" Arzneimittelbestände dorthin gelangen, wo sie am dringendsten benötigt werden. Zudem brauchen wir für die unmittelbare Versorgung unserer Bevölkerung eine Erweiterung des Notfallparagraphens in der Rezeptpflichtverordnung, damit die Patienten unmittelbar in der Apotheke anstatt des verordneten, nicht-lieferfähigen Arzneimittels auch ohne erneute bzw. korrigierte Verordnung des Arztes ein anderes, gleichwertiges Präparat durch den Apotheker bekommen können. Dieses Vorgehen ist momentan rechtlich noch nicht gedeckt, auch wenn es in der Praxis bereits oft schon so gehandhabt wird.

 

Mittelfristig kann eine verpflichtende Erhöhung der Bevorratungszeit für bestimmte Arzneimittel (Antibiotika, Schmerzmittel,...) auf Ebene des pharmazeutischen Großhandels, aber auch der öffentlichen Apotheken die Anfälligkeit des Gesamtsystems bei Lieferunterbrechungen oder unvorhersehbaren Mehrbedarf reduzieren. Auch im Falle eines Black-Outs oder anderer Katastrophen ist die inländische Vorratshaltung ein wesentlicher Faktor für die Aufrechterhaltung der Versorgung. Dies kann relativ einfach und im Laufe des Jahres 2023 umgesetzt werden, allerdings ist auch für eine wirtschaftliche Entschädigung (z.B. durch eine Erhöhung des Spannenanteils oder eine gesonderte "Bevorratungsprämie") für den erhöhten Lager- und Kapitalaufwand zu sorgen. Der Aufbau eines "staatlichen Parallel-Lagers", wie es die SPÖ fordert, ist eine klare Absage zu erteilen, das ist (wie aktuell bei den COVID-Therapeutika ersichtlich) die teuerste und ineffizienteste Variante überhaupt!

 

Langfristig brauchen wir, wie schon seit Erkennen der Abhängigkeiten 2020 im Rahmen der COVID-19-Krise, wieder mehr Produktion von systemrelevanten Arzneimitteln (inklusive deren Rohstoffe) in Europa. Dazu müssen aber teilweise neue Anlagen errichtet werden und vor allem auch ein finanzieller Anreiz/Ausgleich geschaffen werden, da die Produktion in Europa oder Österreich ansonsten wirtschaftlich nicht vertretbar ist. Eine Möglichkeit wäre es, kürzere Lieferwege und eine höhere innerösterreichische (oder innereuropäische) Fertigungstiefe bei der Höhe des Erstattungspreises eines Arzneimittels zu berücksichtigen.

 

Fazit

Im österreichischen Gesundheitssystem gibt es einen großen Handlungsbedarf. Es reicht nicht aus, sich als Gesundheitsminister hinter europäischen Vergleichen zu verstecken und darauf zu verweisen, dass es ja irgendwo ein paar Staaten gibt, die im Ranking noch schlechter abschneiden. Diese alte Leier haben wir schon während Corona ständig gehört, als es hieß: „Wir sind besser durch die Krise gekommen als das Land Soundso“ – das kann doch bitte nicht unser Anspruch sein, dass wir schon zufrieden sind, wenn es irgendwo noch jemanden gibt, der es noch schlechter macht als wir.

 

Die Versorgungssicherheit im Bereich der Medikamente und die Stabilität des Gesundheitssystems als Ganzes ist nicht nur ein isoliert zu betrachtendes Feld, sondern dies hängt mit vielen anderen Fragen der sozialen Sicherheit, des sozialen Friedens, dem Wirtschaftsstandort und unserer Lebensqualität zusammen. In letzter Konsequenz ist die Frage der medizinischen Versorgung natürlich auch eine Frage der nationalen Sicherheit und der Umfassenden Landesverteidigung.

 

Wenn wir nicht in der Lage sind, die grundlegenden medizinischen Bedürfnisse der Bevölkerung zu stillen und uns Turbulenzen auf dem Weltmarkt in Versorgungsengpässe treiben, dann kann es mit unserer Autarkie und unserer nationalen Souveränität nicht weit her sein.

 

 

In diesem Zusammenhang stellen die unterfertigten Abgeordneten daher nachstehenden

 

Entschließungsantrag

 

Der Nationalrat wolle beschließen:

 

„Die Bundesregierung, insbesondere der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, wird aufgefordert, dem Nationalrat eine Regierungsvorlage zuzuleiten, die folgendes Maßnahmenpaket zur Beseitigung der Medikamentenengpässe beinhaltet:

 

 

 

1.    Neuerstellung der Verordnung zur Sicherstellung der Arzneimittelversorgung.

2.    Erleichtern der Abgabe- und Verrechnungsbestimmungen für Apotheken

a.    Abgabeerlaubnis von gleichwertigen Arzneimitteln – notfalls auch in anderer Stärke und Stückzahl, sofern eine verordnete Therapie damit durchgeführt werden kann UND die verordneten Arzneimittel nicht verfügbar sind.

b.    Erlaubnis der magistralen Rezeptur erweitern.

c.    Sicherstellung der Kostenübernahme in den oben genannten Fällen durch die SV (wie in Deutschland seit 2020!)

3.    Festlegung einer „Liste essenzieller Arzneimittel“, wobei die Arzneimittel-Großhändler eine Lagerreichweite von drei Monaten haben müssen, sowie im Gegenzug Einführung einer Aufwandsentschädigung für den Großhandel und Einführung einer Belieferungspflicht an den vollsortierten Großhandel.

4.    Evaluierung der österreichischen Arzneimittel-Preise und Arzneimittel-Spannen sowie eine automatische Aufhebung des Höchstpreises bei versorgungsrelevanten Lieferengpässen.

5.    Schaffung eines Anreizsystems bei der Preisfestlegung von Arzneimitteln, in dem hohe europäische/österreichische Fertigungstiefe bei Arzneimitteln auch finanziell belohnt wird und dadurch Investitionsanreize für eine europäische Produktion gesetzt werden.“

 

 

 

 

 

In formeller Hinsicht wird ersucht, diesen Antrag dem Gesundheitsausschuss zuzuweisen