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Vorwort

 

 

Der nunmehr vorliegende Leitfaden „Kindeswohl im Asyl- und Fremdenrecht“ (Stand 22.02.2022) stellt – nach Darstellung der Rechtsgrundlagen, verfahrensrechtlichen Anforderungen und zentralen Begriffsinhalten – wesentliche Kriterien der Prüfung – gegliedert nach den praktisch maßgeblichen Verfahrensarten – anhand der aktuellen Judikatur dar.

 

Er ersetzt nicht die richterliche Entscheidungsfindung im Einzelfall, erleichtert aber diese Arbeit und trägt zur Transparenz und Einheitlichkeit in der Rechtsprechung bei. Er ist Ergebnis genauer Judikaturanalysen wie einer Reihe von juristischen wie interdisziplinären Schulungen, die im letzten Halbjahr am BVwG stattgefunden haben. In seine Erstellung sind zahlreiche interne und externe Anregungen eingeflossen.

 

Es ist in erster Linie ein Behelf von Richter:innen für Richter:innen und stärkt insofern die unabhängige Justiz.

 

Der Leitfaden ist ein „work in progress“; die Fortentwicklung der Rechtsprechung und des Wissens, das Thema betreffend, kann immer wieder Anpassungen erforderlich machen. Somit ist er auch wesentlicher Teil eines dauernden und intensiven Prozesses am Bundesverwaltungsgericht.

 

Als diesbezügliche erste Ansprechstelle am BVwG steht das Team der Ansprechrichter:innen um
Dr.in Eva Singer zur Verfügung.

 

 

 

 

Dr. Christian Filzwieser                                                                                                                            Dr.in Eva Singer                                                                                        

Kammervorsitzender                                                                                                                              Ansprechrichterin 

„Kindeswohl“


 

cid:image001.png@01D7D091.1311FBE0Kind = jede Person unter 18 Jahren (Art. 1 UN-Kinderrechtskonvention, Art. 2 lit. j Dublin III-VO etc.)
Eigenständiges Rechtssubjekt – nicht bloßer „Annex“ des Elternteiles
Kindeswohlvorrang = Prüfmaßstab und Auslegungsleitlinie bei Ermessens- und Abwägungsentscheidungen; 
ein Gesichtspunkt mit vorrangiger Bedeutung, jedoch keine absolute Geltung (Begründungs- und Abwägungspflicht)

 

Das Kindeswohl im Asyl- und Fremdenrecht – ein Leitfaden

Rechtsgrundlagen zur verpflichtenden vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls

Keine eigene Definition des Kindeswohls („unbestimmter Rechtsbegriff“)
Jegliche Definition wäre zielwidrig: keine so umfassende Formulierung um jedem individuellen Einzelfall sowie den persönlichen Umständen gerecht zu werden       Einzelfallentscheidung
Leitlinien:  UNHCR-Richtlinien „Best Interests Procedure Guidelines“; EASO-Praxisleitfaden „Zum Wohl des Kindes in Asylverfahren“; UNHCR Kindeswohlbericht 2021
§ 138 ABGB als Orientierungsmaßstab (Regelungen der Privatautonomie unterliegende Eltern-Kind-Verhältnisse, daher bloß beschränkte Maßstabsfunktion, vgl. VwGH 24.9.2019; Ra 2019/20/0274, RS1 mwN)
Kindeswohl ist letztlich von Behörden/Gerichten zu ermitteln (VwGH 15.5.2019, Ra 2018/01/0076)

Völkerrecht

Europarecht

Verfassungsrecht

Einfache Gesetze

Rechtsprechung

·  UN-Kinder-

Rechtskonvention (KRK)

·  Art. 24 GRC

·  Dublin III-VO

·  Verfahrens-RL

·  Rückführungs-RL

·  Status-RL

·  Aufnahme-RL etc.

·  BVG Kinderrechte

·  EMRK

·  § 40 Abs. 2 AsylG 2005

·  § 13 Abs. 6 BFA-VG

·  NAG

·  § 138 ABGB etc.

·  EGMR

·  EuGH

·  VfGH

·  VwGH

Schutz vor physischer/psychischer Gewalt 
Art. 2 KRK, Art. 6 BVG Kinderrechte, 
§ 138 ABGB

Recht auf Partizipation 
Art. 12 KRK, Art. 4 BVG Kinderrechte,
§ 138 ABGB etc.

(kindgerechte) persönliche Befragung
-	alters-, reife- und bildungsadäquat
-	geschulte Dolmetscher:innen
-	wiederholende Befragungen möglichst vermeiden
-	vermehrt Pausen

Absehen: bei Zuwiderlaufen des Kindeswohls oder wenn keine freie/unbeeinflusste bzw. im Hinblick auf Verständnisfähigkeit überlegte Äußerung zu erwarten wäre (vgl. §105 AußStrG) 











                                

 

 

 

 

 

Recht auf Familieneinheit 
Art. 9 und 10 KRK, Art. 2 BVG Kinderrechte
Recht auf körperliche, seelische, soziale Entwicklung 
Art. 7, 8, 16, 24 KRK etc.
vgl. auch Art. 1 und 6 BVG Kinderrechte „Recht von Kindern mit Behinderungen“
 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 


                                                                        I.   Zulassungsverfahren

·       Faktoren iSv. Art. 6 Abs. 3 Dublin III-VO

-   Möglichkeiten der Familienzusammenführung

-   Wohlergehen und soziale Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung des Hintergrundes

-   Schutz- und Sicherheitserwägungen (insb. bei Gefahr des Menschenhandels)

-   Ansichten der Minderjährigen entsprechend ihrem Alter/Reife

·       Ermittlung von Familienangehörigen/Geschwistern/Verwandten unter Wahrung des Kindeswohls (Abs. 4)

·       Zuständigkeit bei UMF: Jener MS, in dem Asylantrag gestellt wurde, sofern keine Familienangehörigen/Geschwister/Verwandten ermittelbar sind und es dem Kindeswohl dient (Art. 8)

 

II.    Anträge auf internationalen Schutz – inhaltliche Prüfung

·       (Originäre) Prüfung der Asyl- bzw. Subsidiären Schutz-Gründe des Kindes

·       Kinderspezifische Länderfeststellungen

·       Geringere Anforderungen an Glaubhaftmachung und Mitwirkung (Würdigung der Minderjährigkeit)

·       Erhöhte Ermittlungspflichten (insb. bei ergänzungsbedürftigem Fluchtvorbringen)

v Asyl

·       Kindgerechte Auslegung der GFK, aber Kindeswohl kein internationaler Schutz auslösender Tatbestand

·       Beachtung kinderspezifischer Verfolgung (Zwangsrekrutierung, Kinderhandel, FGM, mangelnder Zugang zu Bildungsmöglichkeiten, Kinderheirat, Zwangsarbeit etc.)

·       „Kindsein“ – mögliche Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe

·       Niedrigere Schwelle der Asylrelevanz (Eingriffsintensität)

·       IFA-Prüfung (mögliche Schutzrisiken am Zielort unter Berücksichtigung von Alter/Anpassungsfähigkeit)

v Subsidiärer Schutz

·       Besondere Vulnerabilität von Minderjährigen (vgl. VfGH 10.3.2020, E349/2020; VfGH 4.3.2020, E2373/2019)

·       Zwingende Feststellungen zur Sicherheits- und Versorgungslage im Zusammenhang mit Minderjährigkeit

(vgl. VfGH 26.2.2019, E3837/2018; 13.3.2019, E1480/2018)

·       Tatsächliche Rückkehrsituation: Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten, Unterstützung durch Familie und Dritte, Hilfsorganisationen, Behandlungsmöglichkeiten, Lebensunterhalt (vgl. VfGH 24.2.2021, E3948/2020 mit Bezug auf

EuGH 14.1.2021, Rs C-441/19; VfGH 29.11.2021, E2517/2021; VfGH 24.11.2020, E3039/2020)

 

III.  Achtung!
Maßnahmen gg. Drittstaatsangehörige dürfen nicht dazu führen, dass ein Kind als Unionsbürger:in von Rechten 
nach Art 20 AEUV de facto ausgeschlossen wird; Abhängigkeitsverhältnis? Legitime Ausweisung im Ausnahmefall
(vgl. EuGH 8.3.2011, Ruiz Zambrano, C- 34/09; 10.5.2017, Chavez-Vilchez, C-133/15; VwGH 17.6.2019, Ra 2018/22/0195)
Aufenthaltsbeendende Maßnahmen (unmittelbar/mittelbar [Eltern, Bezugsperson])

·       Interessenabwägung und Verhältnismäßigkeitsprüfung (Art. 8 EMRK bzw. § 9 Abs. 2 BFA-VG): Kindeswohl als eigenes Kriterium (u.a. Erweiterung der „Boultif“-Kriterien, EGMR 18.10.2006, Üner/Niederlande, 46410/99)

sowie Prüfung der Kriterien iSd § 9 Abs. 2 BFA-VG unter Blickwinkel des Kindeswohles

·       Familienleben:

-   „Wahrung der Familieneinheit“: Anspruch auf verlässliche Kontakte zu beiden Elternteilen bzw. Bezugspersonen

(vgl. VwGH 30.4.2020, Ra 2019/21/0134 mwN; 6.10.2020, Ra 2019/19/0332)

-   weite Auslegung (Großeltern, Geschwister etc.); ipso iure Beziehung zwischen Eltern und Kind durch Geburt, Auflösung nur unter außergewöhnlichen Umständen zB. Verlust jeglicher Bindung (für viele: VfGH 19.6.2015, E426/2015;

VwGH 19.8.2021, Ra 2021/21/0062)

-   Notwendigkeit des ständigen Kontakts mit der Mutter in den ersten Lebensphasen (vgl. VwGH 16.1.2019, Ra 2018/18/0272; 26.2.2020, Ra 2019/18/0456)

-   Auch ungeborene Kinder/Berücksichtigung der absehbaren Geburt – Bedeutung der Bindung eines Vaters zum Kind in den ersten Lebensmonaten für die Entwicklung (vgl. VfGH 8.6.2021, E4076/2020)

·       Moderne Kommunikationsmittel zur Aufrechterhaltung eines Kontakts zu einem Kleinkind grundsätzlich lebensfremd
(vgl.
VfGH 8.6.2021, E575/2021)

·       Aufenthaltsdauer in Relation zur Gesamtlebensdauer

·       Grad der Integration: Aneignung von Sprachkenntnissen? Wahrnehmung von Aus- und/oder Weiterbildungen?

Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben? (Freundschaften, Sport, ehrenamtliche Tätigkeiten, Zukunftspläne, vgl. VwGH 25.4.2019, Ra 2018/22/0251; 30.8.2017, Ra 2017/18/0070; VfGH 7.10.2014, U2459/2012; 12.6.2013, U485/2012)

·       Erwartete Schwierigkeiten/Entwicklungen bei Rückkehr sowie soziale, kulturelle und familiäre Bindungen sowohl zum Aufenthalts- als auch zum Heimatstaat: Geburtsort? sprachliches- und kulturelles Umfeld? Ort der absolvierten Schulbildung? Sprachkenntnisse im Heimatstaat? (vgl. zuletzt VwGH 14.1.2022, Ra 2021/19/009 mwN)

·       Sozialisation etwa nach Vollendung des 3. Lebensjahres (vgl. VwGH 29.5.2017, Ra 2018/21/0067)

·       Anpassungsfähigkeit: Keine fixen Altersgrenzen, individuell abhängig von u.a. Bindungssicherheit, Stabilität von Beziehungen, existenzielle Absicherung (bspw. im Einzelfall bejaht bei 7 und 11 Jahren: VwGH 30.7.2015,

Ra 2014/22/0055; 21.3.2018, Ra 2017/18/0333; EGMR 16.1.1999, Sarumi/UK, 43279/98)

·       Jugenddelinquenz:

Fehlende Resozialisierungsmaßnahmen können für Verbleib sprechen (EGMR 23.6.2008, Maslov/Österreich, 1638/03)

bei nicht überwiegenden Gewaltdelikten (VwGH 27.8.2020, Ra 2020/21/0276)

·       Unsicherer Aufenthaltsstatus: Wenngleich minderjährigen Kindern der unsichere Aufenthaltsstatus nicht vorzuwerfen ist, muss das Bewusstsein der Eltern über die Unsicherheit ihres Aufenthalts auch auf die Kinder durchschlagen, wobei diesem Umstand allerdings bei ihnen im Rahmen der Gesamtabwägung im Vergleich zu anderen Kriterien weniger Gewicht zukommt (VwGH 28.2.2020, Ra 2019/14/0545; VwGH 7.3.2019, Ra 2019/21/0044, VfGH 10.3.2011, B1565/10).

·       RKE im Familienverband können nach sorgfältiger Prüfung (Interessensabwägung/Kriterien wie oben) zulässig sein

·       Betreffend RKE, die zu einer Trennung von Familienangehörigen führen: Feststellungen zu Auswirkungen der Trennung auf Lebenssituation des Kindes (vgl. VfGH 24.11.2002, E3806/2019) erforderlich:

Gemeinsamer Haushalt? Intensität der Beziehung? Betreuung? Vorhandene Obsorge- und Kontaktregelungen? Gründe für seltenen Kontakt sowie Auswirkung auf zukünftige Beziehung (untergeordnete Rolle begrenzter Unterhaltsleistungen bei regelmäßigem Kontakt)

·       Trennung idR zulässig bei sehr großem öffentlichen Interesse (schwere Straffälligkeit; von Anfang an beabsichtigte Umgehung der Regeln über den Familiennachzug, vgl. VwGH 13.9.2021, Ra 2021/18/0112; VfGH 12.6.2010, U614/10)

·       Bei UMF  vor Erlassung von RKE:

-   Umfassende Beurteilung der Situation sowie geeigneter Aufnahmemöglichkeit (EuGH 14.1.2021, TQ/Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid, C-441/19)

-   Gewährung von Unterstützung durch geeignete, nicht für die Vollstreckung zuständige, Behörden

(vgl. Art. 10 Abs. 1 Rückführungs-RL)

 

IV.               Visa / Familienzusammenführung

·       Anträge sind rasch, achtsam und mit besonderer Sorgfalt zu untersuchen (EGMR 10.7.2014, Mugenzi/Frankreich, 52701/09)

·       ungerechtfertigte gesetzliche dreijährige Wartefrist von Personen mit subsidiärem/vorübergehendem Status, die keine individuelle Beurteilung zulässt (EGMR 9.7.2021, M.A./Dänemark, 6697/18)

·       Zeitpunkt der Antragstellung (nicht Entscheidungszeitpunkt) maßgeblich für Beurteilung ob Familienzusammenführender ein minderjähriges Kind ist (EuGH 16.7.2020, B.M.M. ua/Belgien, C-133/19, C-136/19 und C-137/19)

·       Keine Ablehnung ausschließlich wegen fehlender Unterlagen (EuGH 13.3.2019, E/Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie,

C-635/17; VwGH 9.1.2020, Ra 2019/19/0124) sowie generelle Flexibilität bei Beweismitteln zur Bescheinigung familiärer Verhältnisse (EGMR 10.7.2014, Tanda-Muzinga/Frankreich, 2260/10)

·       Auch in Visaverfahren nach § 35 AsylG ist die Einhaltung des Art 8 EMRK zu berücksichtigen und sicherzustellen

(VwGH 01.03.2016, Ro 2015/18/0002; VfGH 06.06.2014, B369/2013)

·       Fremden ist auf ihr Verlangen eine DNA-Analyse gemäß § 13 Abs. 4 BFA-VG 2014 zum Nachweis ihres Abstammungsverhältnisses zu ermöglichen, wobei organisatorische Hilfestellung zur Beibringung des DNA-Nachweises und die entsprechende Belehrung zu erfolgen haben (VwGH 29.03.2021, Ra 2021/20/0065)

 

 

 

V.                 Schubhaft

·       Unzulässig bei unmündigen Minderjährigen; Begleitung von Obsorgeberechtigten nur bei kindgerechter Unterbringung sowie zeitnaher Abschiebung

·       Gelindere Mittel bei mündigen Minderjährigen außer Zweckvereitelung

·       Haftdauer und -bedingungen (mögliche Unzulässigkeit bereits nach wenigen Tagen; auch fehlende Spielgelegenheiten und gefährliche Umgebung beachtlich, u.a. EGMR 19.1.2010, Muskhadzhiyaeva ua/Belgien, 41442/07; 7.12.2017, S.F. ua/Bulgarien, 8138/16)

Bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung (Misshandlung, Quälen, Vernachlässigung, sexueller Missbrauch bzw. sonstiger erheblicher Gefährdung) ist Maßnahme jedenfalls unzulässig + gesetzliche Mitteilungspflicht an KJHT (vgl. § 37 B-KJHG 2013)