Erläuterungen

Allgemeiner Teil

Hauptgesichtspunkte des Entwurfs:

Durch Änderung des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes 1991 – VVG, BGBl. Nr. 53/1991, sollen die Beugehaft nach dem Inkrafttreten der Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof (VfGH 7.10.2020, G 164/2020 ua.) wiedereingeführt, eine höchstzulässige Gesamtdauer der Beugehaft festgelegt und ein neues, erweitertes Rechtsschutzinstrumentarium geschaffen werden.

Kompetenzgrundlage:

Die Zuständigkeit des Bundes zur Erlassung dieses Bundesgesetzes ergibt sich aus Art. 10 Abs. 1 Z 1 B‑VG („Verwaltungsgerichtsbarkeit ...“) und Art. 11 Abs. 2 B‑VG („Verwaltungsverfahren …“, insb. „Verwaltungsvollstreckung“).

Besonderheiten des Normerzeugungsverfahrens:

Die vorgeschlagene Änderung des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes 1991 sieht ein einheitliches Rechtsmittel vor, das sich an der Schubhaftbeschwerde im Sinne des § 22a Abs. 1 bis 4 des BFA-Verfahrensgesetzes – BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012, orientiert. Im Lichte der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zur Schubhaftbeschwerde (VfSlg. 19.970/2015) wird damit eine „Gesamtbeschwerde“ nach den Tatbeständen des Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG, Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG und Art. 130 Abs. 2 Z 1 B-VG eingeführt. Gemäß Art. 130 Abs. 2 zweiter Satz B-VG dürfen in den Angelegenheiten der Vollziehung des Bundes, die nicht unmittelbar von Bundesbehörden besorgt werden, sowie in den Angelegenheiten der Art. 11, 12, 14 Abs. 2 und 3 und 14a Abs. 3 und 4 B-VG Bundesgesetze gemäß Art. 130 Abs. 2 Z 1 und 4 B-VG nur mit Zustimmung der Länder kundgemacht werden. Wird im VVG, einem sowohl für die Bundesverwaltung als auch die Landesverwaltung geltenden Bundesgesetz, welches primär von den Bezirksverwaltungsbehörden vollzogen wird, (auch) eine Beschwerde gemäß Art. 130 Abs. 2 Z 1 B-VG vorgesehen, ist vor der Kundmachung die Zustimmung der Länder einzuholen.

Besonderer Teil

Zu Z 1 (§ 5 Abs. 1):

Die Gesamtdauer der Haft, die zur Vollstreckung einer Verpflichtung zulässigerweise verhängt werden darf, soll mit einem Jahr begrenzt werden. Damit soll den Anforderungen, die der Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis VfGH 7.10.2020, G 164/2020 ua., an eine verfassungskonforme gesetzliche Regelung der Beugehaft postuliert hat, entsprochen werden.

Die Verpflichtung, auf die sich die Gesamtdauer der Haft bezieht, ergibt sich aus dem Vollstreckungstitel. Zur Vollstreckung eines Vollstreckungstitels soll mit Vollstreckungsverfügung(en) Haft verhängt werden können, deren Gesamtdauer ein Jahr nicht überschreiten darf. Sollten sich die Vollstreckungsverfügungen auch graduell unterscheiden, soll die Gesamtdauer der Haft stets in Bezug auf die sich aus dem Vollstreckungstitel ergebende Verpflichtung zu bemessen sein.

Zu Z 2 (§ 5 Abs. 3):

Die Zwangsmittel der Geldstrafe und der Haft können gemäß § 5 Abs. 2 VVG auch mehrmals nacheinander verhängt werden. Für jede einzelne Verhängung soll, wie bereits bisher gemäß § 5 Abs. 3 VVG idF BGBl. I Nr. 137/2001, ein Höchstbetrag bzw. eine Höchstdauer vorgesehen werden. Der Höchstbetrag der Geldstrafe wurde zuletzt mit dem Bundesgesetz vom 4. November 1964, mit dem die Verwaltungsverfahrensgesetze geändert werden, BGBl. Nr. 275/1964, erhöht und ist seither unverändert mit 10 000 Schilling bzw. nunmehr mit 726 Euro bemessen. Im Zuge der Neuregelung der Höchstdauer der Haft soll auch eine Anpassung des Höchstbetrags der Geldstrafe erfolgen. In den Verwaltungsvorschriften sollen abweichende Regelungen getroffen werden können.

Mit dem Vollzug der Haft ist ein Entzug der persönlichen Freiheit des Verpflichteten verbunden. Die Haft soll nur dann angedroht und verhängt werden dürfen, wenn und soweit dies im Hinblick auf ihren Zweck (zB um die Mitwirkung des Verpflichteten an der Beschaffung eines Heimreisezertifikates gemäß § 46 Abs. 2a und 2b des Fremdenpolizeigesetzes 2005 – FPG, BGBl. I Nr. 100/2005, zu erzwingen) verhältnismäßig ist. Die vorgeschlagene Bestimmung ist an Art. 1 Abs. 3 zweiter Halbsatz des Bundesverfassungsgesetzes über den Schutz der persönlichen Freiheit, BGBl. Nr. 684/1988, angelehnt.

In Zusammenhalt mit § 2 Abs. 1 VVG soll auch sichergestellt werden, dass Haft nur solange verhängt wird, als nicht absehbar ist, dass selbst eine Anhaltung im Ausmaß der höchstzulässigen Gesamtdauer nicht zum Erfolg führen würde (vgl. VfGH 7.10.2020, G 164/2020 ua., Rz 43).

Zu Z 3 (§ 6 Abs. 2):

Im Interesse einer Erhöhung des Rechtsschutzes soll der vorgeschlagene § 6 Abs. 2 die sinngemäße Anwendung der für den Vollzug von Freiheitsstrafen geltenden Bestimmungen des III. Teiles des Verwaltungsstrafgesetzes 1991 – VStG, BGBl. Nr. 52/1991, mit Ausnahme des § 53b Abs. 3, aber einschließlich der ua. auf § 53c Abs. 6 VStG gestützten Anhalteordnung – AnhO, BGBl. II Nr. 128/1999, gewährleisten. Abweichend von § 53c Abs. 1 letzter Satz VStG sollen die Häftlinge jedenfalls in Hafträumen anzuhalten sein, die von Hafträumen, in denen Häftlinge, die nach anderen Bestimmungen als nach diesem Bundesgesetz angehalten werden, getrennt sind. In den Verwaltungsvorschriften sollen abweichende Regelungen getroffen werden können. Außerdem soll die – als solche inhaltlich unbedenkliche – Vollzugskostenregelung des § 6 Abs. 2 VVG weiterhin in Geltung bleiben, die in ihrem Anwendungsbereich § 54d Abs. 3 letzter Satz VStG als lex specialis vorgehen soll.

Zu Z 4 (§ 10 Abs. 1) und Z 6 (§ 14a):

Die Verweisungen auf Bestimmungen anderer Bundesgesetze (in den Bestimmungen des VVG und in den gemäß § 10 Abs. 1 VVG auf das Vollstreckungsverfahren sinngemäß anzuwendenden Bestimmungen des AVG) sollen dynamischen Charakter haben.

Zu Z 5 (§ 10a):

Es soll ein Rechtsmittel nach dem Vorbild der Schubhaftbeschwerde (§ 22a BFA-VG) eingeführt werden, um den vom Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis VfGH 7.10.2020, G 164/2020 ua., postulierten Anforderungen an den Rechtsschutz im Zusammenhang mit der Beugehaft zu entsprechen („Beugehaftbeschwerde“). Im Lichte der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zur Schubhaftbeschwerde (VfSlg. 19.970/2015) soll damit eine „Gesamtbeschwerde“ nach den Tatbeständen der Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG (Bescheid über die Verhängung der Haft nach § 5), Art. 130 Abs. 1 Z 2 B‑VG (Festnahme und Anhaltung, soweit diese nicht vom Bescheid gedeckt sind oder den zugrundeliegenden Bescheid überschreiten) und Art. 130 Abs. 2 Z 1 B-VG (Festnahme und Anhaltung, soweit es sich dabei um bloße Vollstreckungsmaßnahmen handelt) eingeführt werden.

Nach der Rechtsprechung des VwGH zu § 22a BFA-VG (VwSlg. 17.892 A/2010, 18.623 A/2013, 19.481 A/2016; vgl. auch VfSlg. 16.638/2002) sind die Modalitäten der Haft (zB fehlende medizinische Versorgung, Zustände im Haftraum, Verpflegung, Erleiden von Verbrennungen als Minderjähriger in Einzelhaft in einem versperrten Haftraum, Unterbindung von Besuchskontakten zu einem Schubhäftling) nicht mit einer Beschwerde auf Grund des § 22a BFA-VG, sondern mit einer „allgemeinen“ Maßnahmenbeschwerde („Administrativbeschwerde“) gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG anfechtbar. Entsprechendes soll auch für die Beugehaft gelten.

Die von Lehre und Rechtsprechung als „Verfahrensanordnung“ (Kolonovits/Muzak/Stöger, Grundriss des österreichischen Verwaltungsverfahrensrechts11 [2019] Rz. 1323 mwN; Walter/Thienel, Die österreichischen Verwaltungsverfahrensgesetze II2 [2000] § 5 VVG Anm. 6; VwGH 3.6.1975, 0585/74; 3.10.2013, 2012/06/0099; vgl. auch VfSlg. 5183/1965: „prozessuale Handlung ist, die mangels jeden rechtserzeugenden oder rechtsfeststellenden Inhaltes kein Bescheid ist“) qualifizierte Androhung der Haft im Sinne des § 5 Abs. 2 VVG soll nach dem vorgeschlagenen § 10a Abs. 1 (weiterhin) nicht (gesondert) anfechtbar sein; ihr Fehlen oder ihre sonstige Rechtswidrigkeit soll allerdings vom Verwaltungsgericht im Rahmen des Beschwerdeverfahrens nach dem vorgeschlagenen § 10a Abs. 1 aufgegriffen werden können.

Auf Beschwerden gemäß dem vorgeschlagenen § 10a Abs. 1 sollen die für Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG geltenden Bestimmungen des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes – VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden sein, dass belangte Behörde jene Behörde ist, die den angefochtenen Bescheid erlassen hat oder der die Festnahme oder die Anhaltung zuzurechnen ist. Sofern die Rechtssache nicht zur Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichtes gehört, soll das Landesverwaltungsgericht jenes Landes örtlich zuständig sein, in dem die belangte Behörde ihren Sitz hat. § 8a VwGVG soll mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden sein, dass dem Verpflichteten die Verfahrenshilfe auch zu bewilligen ist, soweit dies auf Grund des Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, oder des Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 S. 389, nicht geboten ist. Die sonstigen Voraussetzungen des § 8a VwGVG sollen auch im Verfahren gemäß dem vorgeschlagenen § 10a Abs. 1 aufrechtbleiben. Der Verpflichtete soll sogleich oder unmittelbar nach seiner Festnahme oder nach Antritt der Haft schriftlich in einer für ihn verständlichen Sprache über sein Recht, einen Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe zu stellen, zu belehren sein. Ist die schriftliche Belehrung in einer Sprache, die der Verpflichtete versteht, nicht verfügbar, so soll er mündlich unter Beiziehung eines Dolmetschers zu belehren sein und die schriftliche Übersetzung soll ihm nachzureichen sein. Der Umstand der Belehrung soll schriftlich festzuhalten sein. Es ist angezeigt, den Verpflichteten in der Hafteinrichtung beim Ausfüllen des Formulars zur Beantragung der Verfahrenshilfe inklusive des Vermögensbekenntnisses im Sinne der Effektivität des Rechtsschutzes angemessene Unterstützung zukommen zu lassen.

Die Entscheidung des Verwaltungsgerichtes über die Fortsetzung der Haft soll binnen einer Woche zu ergehen haben, es sei denn, die Anhaltung des Verpflichteten hätte vorher geendet. Hat das Verwaltungsgericht dem Beschwerdeführer gemäß § 13 Abs. 3 des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 – AVG, BGBl. Nr. 51/1991, aufgetragen, innerhalb bestimmter Frist einen Mangel der Beschwerde zu beheben, soll der Lauf der Entscheidungsfrist bis zur Behebung des Mangels oder bis zum fruchtlosen Ablauf der Frist gehemmt werden.

Sofern die Anhaltung noch andauert, soll das Verwaltungsgericht jedenfalls festzustellen haben, ob zum Zeitpunkt seiner Entscheidung die für die Fortsetzung der Haft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen. Soll ein Verpflichteter länger als vier Monate durchgehend in Haft angehalten werden, so soll die Verhältnismäßigkeit der Anhaltung nach dem Tag, an dem das vierte Monat überschritten wurde, und danach alle vier Wochen vom Verwaltungsgericht überprüft werden. Die Vollstreckungsbehörde soll die Verwaltungsakten so rechtzeitig vorzulegen haben, dass dem Verwaltungsgericht eine Woche zur Entscheidung vor den gegenständlichen Terminen bleibt. Mit der Vorlage der Verwaltungsakten soll die Beschwerde als für den in Haft befindlichen Verpflichteten eingebracht gelten. Die Vollstreckungsbehörde soll darzulegen haben, warum die Aufrechterhaltung der Haft notwendig und verhältnismäßig ist. Das Verwaltungsgericht soll jedenfalls festzustellen haben, ob zum Zeitpunkt seiner Entscheidung die für die Fortsetzung der Haft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen und ob die Aufrechterhaltung der Haft verhältnismäßig ist. Diese Überprüfung soll zu entfallen haben, soweit eine Beschwerde gemäß dem vorgeschlagenen § 10a Abs. 1 bereits eingebracht wurde.

Eine dem § 22a Abs. 5 BFA-VG entsprechende Regelung soll nicht vorgesehen werden, weil es sich bei Bescheiden über die Verhängung der Haft nach § 5 nicht um Mandatsbescheide handelt und das Rechtsmittel der Vorstellung (§ 57 Abs. 2 AVG) daher von vornherein nicht in Betracht kommt (anders stellt sich die Situation grundsätzlich bei der Schubhaft dar; vgl. § 76 Abs. 4 FPG).

§ 10 Abs. 2 VVG als allgemeine Regelung kommt auf Beschwerden gemäß dem vorgeschlagenen § 10a Abs. 1 nicht zur Anwendung, sondern wird von § 22 Abs. 1 VwGVG als lex specialis verdrängt.

Welches Verwaltungsgericht über die Beschwerde gemäß dem vorgeschlagenen § 10a Abs. 1 zu entscheiden hat, soll nach den allgemeinen Regeln des Art. 131 B-VG unter Bedachtnahme auf Art. 11 Abs. 4 B-VG zu beurteilen sein. Gemäß § 1 VVG sind, soweit gesetzlich nicht anderes bestimmt ist (zB § 3 Abs. 3 BFA-VG), Vollstreckungsbehörden die Bezirksverwaltungsbehörden (Abs. 1) und die Landespolizeidirektionen (Abs. 2). Anzumerken ist, dass die Landespolizeidirektion, wenn sie im Rahmen der Sicherheitsverwaltung (§ 2 Abs. 2 des Sicherheitspolizeigesetzes – SPG, BGBl. Nr. 566/1991) vollstreckt, nicht in Rechtssachen in den Angelegenheiten der Vollziehung des Bundes, die unmittelbar von Bundesbehörden besorgt werden (Art. 131 Abs. 2 B-VG), tätig wird (vgl. VwSlg. 19.481 A/2016).

Zu Z 7 (§ 13 Abs. 8):

Die vorgeschlagenen Bestimmungen sollen mit 1. Jänner 2022 in Kraft treten, nachdem die Aufhebung der entsprechenden Vorgängerbestimmungen durch den Verfassungsgerichtshof (VfGH 7.10.2020, G 164/2020 ua.) mit Ablauf des 31. Dezember 2021 in Kraft treten wird.