1400 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XXVII. GP

 

Bericht

des Justizausschusses

über die Regierungsvorlage (1291 der Beilagen): Bundesgesetz, mit dem die Jurisdiktionsnorm, die Zivilprozessordnung, das Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, das Gerichtsorganisationsgesetz, das Sachverständigen- und Dolmetschergesetz, das Gerichtsgebührengesetz, das Gerichtliche Einbringungsgesetz, das E-Commerce-Gesetz, das Rechtspflegergesetz, das Strafvollzugsgesetz, das Kinderbetreuungsgeldgesetz und das Familienzeitbonusgesetz geändert werden (Zivilverfahrens-Novelle 2021 – ZVN 2021)

Die Digitalisierung schreitet in allen Lebensbereichen – Bevölkerung und Wirtschaft gleichermaßen umfassend – unaufhaltsam voran. In zunehmendem Maße wird auch von der Justiz ein Angebot an digitalen Leistungen erwartet. Um den Bedürfnissen der digitalisierten Gesellschaft nachzukommen und Effizienzpotentiale zu heben, muss die Digitalisierung auch in der Justiz vorangetrieben werden. Im Regierungsprogramm findet sich im Kapitel Justiz ein klares Bekenntnis zum Ausbau der Digitalisierung in der Justiz. Die Weiterführung der strategischen Initiative Justiz 3.0. zur Digitalisierung der Aktenführung wird ausdrücklich erwähnt. Mit diesem Vorhaben arbeitet das Bundesministerium für Justiz unter Einbeziehung aller Berufsgruppen und Standesvertretungen an vollständig digitalen Arbeitsabläufen sowie den dafür notwendigen IT-Arbeitsplätzen an den Gerichten und Staatsanwaltschaften. Damit wird das Ziel verfolgt, die von der Justiz angebotenen Services für Bürger:innen sowie Unternehmen bei stetig wachsender Arbeitslast und zunehmenden Herausforderungen zeitgemäß und effizient zu bewältigen. Nachdem im Dezember 2016 mit dem Pilotbetrieb an vier Gerichten gestartet werden konnte, sind in den Folgejahren permanent Verbesserungen an der Stabilität und Performance des Gesamtsystems sowie funktionale Erweiterungen insbesondere auf Basis von Feedback und Anregungen der Justizmitarbeiter:innen vorgenommen worden, sodass derzeit im Bereich Zivilverfahren und Justizverwaltung 18 Gerichte im Echtbetrieb der vollständig digitalen Akten- und Verfahrensführung sind. Die aktuellen Planungen sehen eine Anpassung der Systeme für einen Einsatz auch im Strafverfahren vor. Seit Juli 2020 wird der Neuanfall bei der Staatsanwaltschaft Korneuburg ausschließlich elektronisch bearbeitet.

Digitale Verfahrensführung bedeutet eine jederzeitige zentrale Zugriffsmöglichkeit auf den Akt, mobile orts- und zeitunabhängige Bearbeitungsmöglichkeiten, eine Steigerung der Qualität durch zeitgemäße Recherche- und Wissensmanagementfunktionen sowie die Nutzung von Rationalisierungspotenzialen. Da es derzeit noch auf längere Sicht Papierakten geben wird, sind Regelungen für beide Arten der Aktenführung erforderlich.

Die bisher gewonnenen Erfahrungen in der Praxis machen zur weiteren Optimierung einige Anpassungen in der Anwendung, im technischen Bereich sowie auch bei der rechtlichen Ausgestaltung nötig.

Die verfahrensrechtlichen Vorgaben und Abläufe sollen grundsätzlich nicht verändert werden. Dort, wo die digitale Aktenführung Sonderregelungen erfordert, wie dies etwa bei der Unterschriftsleistung der Fall ist, werden neue Regelungen geschaffen, die parallel zu den für auf Papier geführten Akten für digital geführte Akten gelten. An die Stelle der im Papierakt vorgesehenen handschriftlichen Unterfertigung tritt die qualifizierte Signatur im digital geführten Akt. Je nach Aktenführung bestehen daher zwei gleichwertige Unterschriftsmöglichkeiten.

Weitere Sonderregelungen, die ausschließlich für die digitale Aktenführung von Bedeutung sind, betreffen den Umgang mit Papierstücken, die in den digital geführten Akt Eingang finden sollen. Regelungen sind auch für diejenigen Papierstücke oder Gegenstände erforderlich, die nicht eingescannt oder sonst in ein elektronisches Dokument umgewandelt werden können. Auch die digitale Akteneinsicht (§ 89i GOG) ist neu zu regeln.

Wegen des Ziels, eine möglichst vollständige digitale Aktenführung zu gewährleisten und die parallele Führung eines Papierakts zu vermeiden, soll die Einbringung von physischen Originalen minimiert werden. Dies kann dadurch erreicht werden, dass einerseits möglichst viele Eingaben elektronisch erfolgen und andererseits möglichst wenige Urschriften und Originale dem Gericht vorgelegt werden. Viele Eingaben erfolgen ohnedies bereits unter Verwendung des elektronischen Rechtsverkehrs. Für manche Personengruppen oder Institutionen ist dieser verpflichtend (§ 89c Abs. 5 GOG), andere verwenden den ERV freiwillig. Anreize, mit dem Gericht elektronisch zu kommunizieren, wurden bereits gesetzt und werden auch weiterhin erfolgen. So ist bereits seit 2013 die Einbringung mittels Bürgerkartenfunktion auch für sonst nicht am ERV teilnehmende Personen möglich, der Kreis der zur Teilnahme am ERV verpflichteten Personen und Organisationen wird laufend erweitert und auch Sachverständige und Dolmetscher sind mittlerweile in den ERV eingebunden (§ 89c Abs. 5a GOG). Es soll aber auch soweit als möglich vermieden werden, dass neben den im ERV einlangenden Aktenstücken weitere Papierstücke einlangen, um einerseits die mit der Aufnahme in den digitalen Akt verbundene Arbeitsbelastung gering zu halten, andererseits soll auch verhindert werden, dass physische Aktenteile verwaltet werden müssen. Dies lässt sich im Zivilprozess aber nicht gänzlich vermeiden. Einerseits gibt es Originalurkunden, die sich nicht scannen lassen, ohne dass ihr Beweiswert verloren geht, andererseits muss es dem Gegner des die Urkunde Vorlegenden, aber auch dem Gericht möglich sein, das Original zu überprüfen. Auch Augenscheinsgegenstände sind einem Scan meist nicht zugänglich (man denke an Muster in Markenschutzstreitigkeiten). Es ist aber jedenfalls anzustreben, die Anzahl jener Verfahren zu reduzieren, in denen wegen physischer Beweismittel neben dem digitalen Akt auch ein physischer (Bei)Akt geführt werden muss. Es wird daher – die gängige Praxis festschreibend – vorgesehen, dass Urkunden nur mehr in Abschrift vorzulegen sind, soweit nicht ausdrücklich deren Vorlage in Urschrift vom Gesetz angeordnet oder vom Gericht (auf Antrag des Gegners oder von Amts wegen) verfügt wird.

Unmittelbar im Zusammenhang mit der Digitalisierung steht auch die Neuregelung der Gerichtsgebühren für die Akteneinsicht. Die Gebühren für Aktenabschriften nach der Tarifpost 15 bauen noch auf der analogen Welt auf; so wird die so genannte „Kopiergebühr“ nach (ausgedruckten) Seiten bemessen. Für digitale Aktenkopien gibt es nur unzureichende Regelungen, bei denen Unterschiede in der Kopierdauer und unterschiedlich große Dateninhalte in vielen Fällen zu Unzulänglichkeiten bei der Berechnung der Gebühren führten. Auch bei der Akteneinsicht im Wege der Amtshilfe und der Herstellung von Kopien zu wissenschaftlichen oder statistischen Zwecken bestehen in der Praxis Unklarheiten und damit Rechtsunsicherheit.

Ein weiterer Themenkomplex, der mit diesem Entwurf geregelt werden soll, betrifft die Abschaffung von Doppelgleisigkeiten bei der Einbringung von Gebühren, Geldstrafen und Kosten. Das Gerichtliche Einbringungsgesetz sieht derzeit vor, dass alle nach § 1 GEG einzubringenden Beträge mittels Bescheid im Justizverwaltungsweg zu bestimmen sind, wenn diese nicht sogleich nach § 4 GGG entrichtet werden oder deren Einziehung erfolglos geblieben ist (§ 6a Abs. 1 GEG). Die Vorschreibungsbehörde muss daher selbst dann, wenn ein an sich bereits exekutionsfähiger Titel eines Gerichts oder einer anderen Verwaltungsbehörde vorliegt, einen weiteren Titel im Verwaltungsweg schaffen (Zahlungsauftrag). Dieser verwaltungsbehördliche Titel wird letztlich auch von der Einbringungsstelle als Exekutionstitel nach § 1 Z 12 EO betrieben.

Dies schafft eine Vielzahl von Problemen und führt unter anderem zu einer Doppelgleisigkeit der Rechtsmittelzüge, die in manchen Fällen vermieden werden kann. Es wird daher vorgeschlagen, dass mit dem Titel des Grundverfahrens unmittelbar Exekution geführt werden kann und dadurch der verwaltungsbehördliche „Doppeltitel“ nicht mehr notwendig ist. Voraussetzung dafür ist die hinreichende Bestimmtheit der Entscheidung des Gerichts oder der Verwaltungsbehörde des Grundverfahrens und somit die Eignung, nach der EO vollstreckt zu werden.

In Ergänzung zu den gebührenrechtlichen Bestimmungen werden auch in der Zivilprozessordnung Änderungen bei den Bestimmungen über die Verfahrenshilfe und die psychosoziale Prozessbegleitung getroffen.

Im gerichtlichen Sachverständigenwesen werden gesetzliche Nachschärfungen in den Verfahrensbestimmungen zur Bestellung von Sachverständigen vorgesehen. Diese Maßnahmen sollen zu einer Steigerung der Qualität im Sachverständigenrecht beitragen.

Mit dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 121/2017 wurden im E-Government-Gesetz die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für die Etablierung eines umfassenden elektronischen Identitätsnachweises (E-ID) geschaffen. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei die Weiterentwicklung der österreichischen Bürgerkarte (insbesondere in ihrer Ausprägung als so genannte Handy-Signatur) hin zu einem jedenfalls auch in den anderen EU-Mitgliedstaaten rechtlich anerkannten elektronischen Identifizierungsmittel. Ein wesentliches (Sicherheits-)Element ist dabei der hoheitliche Registrierungsprozess, mit dem die verlässliche und eindeutige Feststellung der Identität sichergestellt wird. Die notwendigen (technischen) Vorarbeiten zur tatsächlichen Etablierung des E-ID stehen zwischenzeitig vor ihrem Abschluss, die Aufnahme des Echtbetriebs ist noch für 2021 in Aussicht genommen.

Aufgrund der interoperablen Konzeption des E-ID nach dem E-GovG kann und soll dieses sichere digitale Identitätsmanagement in den verschiedenen Datenanwendungen des öffentlichen Bereichs zum Einsatz kommen. Von dieser Möglichkeit soll daher künftig im Bereich der elektronischen Kommunikation der Sachverständigen und Dolmetscher mit den Gerichten und Staatsanwaltschaften im Weg des elektronischen Rechtsverkehrs Gebrauch gemacht werden. Die dafür notwendigen Zugangsberechtigungen sollen im Weg des E-ID eingeräumt werden. Die Bezugnahme auf die Funktion E-ID entsprechend den §§ 4 ff. E-GovG umfasst dabei auch elektronische Identifizierungsmittel anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die die Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 910/2014 über die elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 1999/93/EG (im Folgenden: elDAS-VO), ABl. Nr. L 257 vom 28.08.2014 S. 73, in der Fassung der Berichtigung ABl. Nr. L 155 vom 14.06.2016 S. 44, erfüllen (§ 6 Abs. 5 E-GovG). All dies macht eine umfassende Überarbeitung der Regelungen im Sachverständigen- und Dolmetschergesetz zum Ausweis der Sachverständigen und Dolmetscher notwendig.

Der Entwurf enthält auch sonstige Änderungen im zivilgerichtlichen Verfahren, die mit der Einführung des digitalen Aktes nicht in direktem Zusammenhang stehen. Dies betrifft

- die Schaffung neuer Gerichtsstände für Persönlichkeitsrechtsverletzungen in einem elektronischen Kommunikationsnetz und für Ansprüche aus der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (Fluggastrechte-Verordnung), ABl. Nr. L 046 vom 17.2.2004 S. 1, in der Fassung der Berichtigung ABl. Nr. L 119 vom 07.05.2019 S. 202,

- die Modernisierung der Bestimmungen über die Bestellung der fachmännischen (in Hinkunft: fachkundigen) Laienrichter in Handelssachen,

- die Ermöglichung der streitwertunabhängigen Anrufung des Obersten Gerichtshofs in Streitigkeiten nach dem Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz,

- die Erweiterung der für ein strittiges Trennungsverfahren gewährten Verfahrenshilfe auf das einvernehmliche Trennungsverfahren,

- die Übernahme des Inhalts der Kaiserlichen Verordnung vom 14. Dezember 1915 über die Abfassung und Unterfertigung von gerichtlichen Entscheidungen in Zivil- und Strafsachen und von Protokollen bei dauernder Verhinderung des Richters oder des Schriftführers in die Zivilprozessordnung,

- eine Anpassung im Rechtspflegergesetz aufgrund der Reform des Exekutionsrechts (GREx) sowie

- die Richtigstellung von Zitaten.

Im ASGG werden eine Nachfolgeregelung für die vom VfGH aufgehobene Sonderbestimmung zu Verfahren über den Rückersatz von zu Unrecht empfangenen Versicherungsleistungen oder eines Pflegegeldes geschaffen und auch das Kinderbetreuungsgeldgesetz und das Familienzeitbonusgesetz entsprechend angepasst.

 

Der Justizausschuss hat die gegenständliche Regierungsvorlage in seiner Sitzung am 15. März 2022 in Verhandlung genommen. An der Debatte beteiligten sich außer der Berichterstatterin Abgeordneten Mag. Agnes Sirkka Prammer die Abgeordneten Dr. Johannes Margreiter, Mag. Selma Yildirim, Mag. Klaus Fürlinger, Mag. Harald Stefan und Mag. Christian Drobits sowie die Bundesministerin für Justiz Dr. Alma Zadić, LL.M.

 

Im Zuge der Debatte haben die Abgeordneten Mag. Michaela Steinacker und Mag. Agnes Sirkka Prammer einen Abänderungsantrag eingebracht, der wie folgt begründet war:

„Das Inkrafttreten der Bestimmung ist ebenso wie die in der Kurzbezeichnung enthaltene Jahreszahl anzupassen. Gleichzeitig soll aufgrund der ca 15 %-igen Erhöhung der Stundensätze für die Abgeltung der Leistungen der psychosozialen Prozessbegleitung der in § 73b enthaltene Betrag angehoben werden.

Mit den Änderungen zu Art. 5 (SDG) wird darauf Bedacht genommen, dass sich der E-ID aktuell noch im Pilotbetrieb befindet, sodass es hier einer gewissen Flexibilität bei dessen Nutzung im Gerichtssachverständigen- und -dolmetscherbereich bedarf.

Zu Art. 6 (Gerichtsgebührengesetz): Gemäß § 31a Abs. 1 erster Satz GGG sind die festen Gebühren neu festzusetzen, sobald und soweit sich der von der Bundesanstalt Statistik Österreich verlautbarte Verbraucherpreisindex gegenüber der für März 2011 veröffentlichten und in der Folge gegenüber der letzten Festsetzung zugrunde gelegten Indexzahl um mehr als 5% geändert hat. Die letzte Anpassung der festen Gebühren sowie der in § 31a angeführten Beträge um die Steigerung des VPI 2015 erfolgte durch die Verordnung der Bundesministerin für Justiz über die Neufestsetzung von Gerichtsgebühren, BGBl. II Nr. 160/2021, auf der Basis des VPI 2015 vom Dezember 2020. Die Inflation hat in den letzten Monaten stark angezogen – der vorläufige VPI Dezember 2021 weist schon wieder eine Steigerung von 4,2% im Vergleich zum Dezember 2020 aus – sodass davon auszugehen ist, dass die 5%-Schwelle im Laufe des Jahres 2022 neuerlich überschritten wird. Um diese inflationsbeschleunigende Wirkung abzumildern, soll die Erhöhung nach dem Vorbild des § 14 2. COVID-19-Justizbegleitgesetzes, BGBl. I Nr. 24/2020, auf das Jahr 2023 verschoben werden. Sollte die Inflation weiter anhalten, könnte frühestens mit Veröffentlichung der endgültigen Indexzahl für den Monat Mai 2023 (die für den Juli 2023 zu erwarten ist) eine Erhöhung stattfinden, die dann mit 1. Oktober 2023 gelten würde.“

 

Bei der Abstimmung wurde der in der Regierungsvorlage enthaltene Gesetzentwurf unter Berücksichtigung des oben erwähnten Abänderungsantrages der Abgeordneten Mag. Michaela Steinacker und Mag. Agnes Sirkka Prammer einstimmig beschlossen.

Als Ergebnis seiner Beratungen stellt der Justizausschuss somit den Antrag, der Nationalrat wolle dem angeschlossenen Gesetzentwurf die verfassungsmäßige Zustimmung erteilen.

Wien, 2022 03 15

                    Mag. Agnes Sirkka Prammer                                          Mag. Michaela Steinacker

                                  Berichterstatterin                                                                           Obfrau