1437 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XXVII. GP

 

Bericht

des Gesundheitsausschusses

über die Regierungsvorlage (1403 der Beilagen): Bundesgesetz, mit dem das Ärztegesetz 1998, das Apothekengesetz, das Apothekerkammergesetz 2001, das Gehaltskassengesetz 2002, das Hebammengesetz, das Tierärztegesetz, das Zahnärztegesetz und das Zahnärztekammergesetz geändert werden (EU-Berufsanerkennungsgesetz-Gesundheitsberufe 2022 – EU-BAG-GB 2022)

Die Richtlinie 2013/55/EU zur Änderung der Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen und der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt-Informationssystems („IMI-Verordnung“) war bis 18. Jänner 2016 in innerstaatliches Recht umzusetzen.

Die Europäische Kommission hat im Zuge der Prüfung der von Österreich gesetzten Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie 2013/55/EU drei unterschiedliche Bereiche der Richtlinie betreffende Vertragsverletzungsverfahren Nr. 2018/2161, 2018/2282 und 2018/2377 eingeleitet, von denen aufgrund der Stellungnahmen Österreichs bis dato die meisten Beanstandungen geklärt bzw. Österreich durch ergänzende Umsetzungsmaßnahmen die EU-Konformität herstellen konnte (siehe dazu u.a. Berufsanerkennungsgesetz Gesundheit 2020, BGBl. I Nr. 50/2021).

Zu folgender Bestimmung der Richtlinie 2013/55/EU war allerdings im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens Nr. 2018/2161 noch keine einvernehmliche Rechtsansicht zwischen der Europäischen Kommission und Österreich erzielt worden:

Artikel 4f der Richtlinie 2005/36/EG sieht eine neue Verpflichtung der Mitgliedstaaten vor, Berufsangehörigen aus anderen Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen einen partiellen Berufszugang zu einem reglementierten Beruf des Aufnahmemitgliedstaates zu gewähren:

(1) Die zuständige Behörde des Aufnahmemitgliedstaats gewährt auf Einzelfallbasis partiellen Zugang zu einer Berufstätigkeit im Hoheitsgebiet dieses Staates nur, wenn alle folgenden Bedingungen erfüllt sind:

a)     der Berufsangehörige ist ohne Einschränkung qualifiziert, im Herkunftsmitgliedstaat die berufliche Tätigkeit auszuüben, für die im Aufnahmemitgliedstaat ein partieller Zugang begehrt wird;

b)     die Unterschiede zwischen der rechtmäßig ausgeübten Berufstätigkeit im Herkunftsmitgliedstaat und dem reglementierten Beruf im Aufnahmemitgliedstaat sind so groß, dass die Anwendung von Ausgleichsmaßnahmen der Anforderung an den Antragsteller gleichkäme, das vollständige Ausbildungsprogramm im Aufnahmemitgliedstaat zu durchlaufen, um Zugang zum ganzen reglementierten Beruf im Aufnahmemitgliedstaat zu erlangen;

c)     die Berufstätigkeit lässt sich objektiv von anderen im Aufnahmemitgliedstaat unter den reglementierten Beruf fallenden Tätigkeiten trennen.

Für die Zwecke von Buchstabe c berücksichtigt die zuständige Behörde des Aufnahmemitgliedstaats, ob die berufliche Tätigkeit im Herkunftsmitgliedstaat eigenständig ausgeübt werden kann.

(2) Der partielle Zugang kann verweigert werden, wenn diese Verweigerung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt und geeignet ist, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.

(3) Anträge für die Zwecke der Niederlassung in einem Aufnahmemitgliedstaat werden gemäß Titel III Kapitel I und IV geprüft.

(4) Anträge für die Zwecke der vorübergehenden und gelegentlichen Erbringung von Dienstleistungen im Aufnahmemitgliedstaat im Zusammenhang mit Berufstätigkeiten, die die öffentliche Gesundheit und Sicherheit berühren, werden gemäß Titel II geprüft.

(5) Abweichend von Artikel 7 Absatz 4 Unterabsatz 6 und Artikel 52 Absatz 1 wird die Berufstätigkeit unter der Berufsbezeichnung des Herkunftsmitgliedstaats ausgeübt, sobald partieller Zugang gewährt worden ist. Der Aufnahmemitgliedstaat kann vorschreiben, dass die Berufsbezeichnung in den Sprachen des Aufnahmemitgliedstaats benutzt wird. Berufsangehörige, denen partieller Zugang gewährt wurde, müssen den Empfängern der Dienstleistung eindeutig den Umfang ihrer beruflichen Tätigkeiten angeben.

(6) Dieser Artikel gilt nicht für Berufsangehörige, für die die automatische Anerkennung ihrer Berufsqualifikationen nach Titel III Kapitel II, III und IIIa gilt.

Österreich hat im Rahmen des gegenständlichen Vertragsverletzungsverfahrens die umfassend begründete Ansicht vertreten, dass sich aus Artikel 4f Abs. 6 die Nichtanwendung der Bestimmung auf die unter Titel III Kapitel III fallenden „sektorellen“ Berufe ergibt, das sind jene Berufe, für die die Richtlinie Mindestanforderungen an die Ausbildung festlegt und damit harmonisiert (Ärzt:innen, Zahnärzt:innen, Tierärzt:innen, Apotheker:innen, Hebammen, allgemeine Krankenpfleger:innen) und daher keine innerstaatliche Umsetzungsverpflichtung eines partiellen Berufszugangs für diese Berufe besteht. Die Europäische Kommission interpretiert allerdings Artikel 4f Abs. 6 im Sinne der Wortinterpretation dahingehend, dass lediglich für „Berufsangehörige“, die unter Titel III Kapitel III fallen, der partielle Berufszugang ausgeschlossen werden kann, nicht aber, dass zu diesen EU-rechtlich harmonisierten „Berufen“ der partielle Berufszugang verwehrt werden könne.

Im Jahr 2019 wurde der Europäische Gerichtshof (EuGH) vom französischen Conseil d’Etat mit Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C-940/19 mit der Frage der Interpretation des Artikel 4f Abs. 6 der Richtlinie 2005/36/EG befasst, die dieser mit Urteil vom 25. Februar 2021 wie folgt beantwortet:

„Artikel 4f Abs. 6 der Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen in der durch die Richtlinie 2013/55/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. November 2013 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, nach denen die Möglichkeit eines partiellen Zugangs zu einem der Berufe besteht, die unter den in Titel III Kapitel III dieser Richtlinie in geänderter Fassung vorgesehenen Mechanismus der automatischen Anerkennung von Berufsqualifikationen fallen.“

Aus den Entscheidungsgründen dieses Urteils sind folgende zentrale Passagen hervorzuheben:

„21 Gemäß Art. 4f Abs. 6 der geänderten Richtlinie 2005/36 gilt dieser Artikel nicht für Berufsangehörige, für die die automatische Anerkennung ihrer Berufsqualifikationen nach Titel III Kapitel II, III und IIIa gilt.

22 Somit ergibt sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmung, dass von dem in Art. 4f Abs. 1 bis 5 der geänderten Richtlinie 2005/36 vorgesehenen partiellen Zugang die Berufsangehörigen, für die die automatische Anerkennung ihrer Berufsqualifikationen nach Titel III Kapitel II, III und IIIa der Richtlinie gilt, ausgenommen sind und nicht die von einer solchen automatischen Anerkennung betroffenen Berufe.

23 Dem Wortlaut von Art. 4f Abs. 6 der geänderten Richtlinie 2005/36 ist daher zu entnehmen, dass er sich auf Einzelpersonen bezieht.

24 Eine solche Auslegung des Wortlauts der genannten Bestimmung steht im Einklang mit dem Kontext und dem Ziel dieser Richtlinie.

25 Hierzu ist festzustellen, dass sowohl die Entstehungsgeschichte der Richtlinie 2005/36 als auch deren Systematik bestätigen, dass der Unionsgesetzgeber zwischen der Verwendung der Begriffe „Berufe“ und „Berufsangehörige“ unterscheiden wollte.

26 Zum einen ergibt nämlich die Prüfung der dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass der Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2005/36 (KOM[2011] 883 endg.) keine Bestimmung wie den derzeitigen Art. 4f Abs. 6 der Richtlinie 2005/36 enthielt und das Europäische Parlament eine Änderung vorschlug, die auf den Ausschluss von Berufen, für die die automatische Anerkennung gilt, vom partiellen Zugang abzielte.

27 Die am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe einigten sich jedoch darauf, den Begriff „Berufsangehörige“ heranzuziehen.

28 Was zum anderen die Systematik der automatischen Anerkennung betrifft, ist zwar in Art. 4f Abs. 6 der geänderten Richtlinie 2005/36 von den „Berufsangehörigen“, für die sie gilt, die Rede; andere Bestimmungen dieser Richtlinie, wie die vom Generalanwalt in Nr. 23 und in Fn. 4 seiner Schlussanträge angeführten, beziehen sich dagegen auf die „Berufe“, für die sie gilt oder nicht gilt.

29 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass nach dem siebten Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/55 ein Mitgliedstaat bei Vorliegen zwingender Gründe des Allgemeininteresses in der Lage sein sollte, den partiellen Zugang zu verweigern, insbesondere bei Gesundheitsberufen, sofern sie Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit oder die Patientensicherheit haben. Zu den Gesundheitsberufen gehören u. a. Berufe, die von der automatischen Anerkennung von Berufsqualifikationen betroffen sind. Dabei handelt es sich um die Berufe des Arztes, der Krankenschwester und des Krankenpflegers, die für die allgemeine Pflege verantwortlich sind, des Zahnarztes, des Tierarztes, der Hebamme und des Apothekers, die in Art. 21 der geänderten Richtlinie 2005/36 genannt sind und für die die automatische Anerkennung gilt. Die Möglichkeit, den partiellen Zugang zu diesen Berufen zu verweigern, setzt daher voraus, dass der partielle Zugang zu ihnen nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist.

30 Ein solcher partieller Zugang entspricht zum einen der im ersten Erwägungsgrund der geänderten Richtlinie 2005/36 niedergelegten allgemeinen Zielsetzung, Hindernisse für den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten zu beseitigen. Zum anderen entspricht er auch dem spezifischeren, dem siebten Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/55 zu entnehmenden Ziel, über die Richtlinie 2005/36 hinauszugehen, die nur für Berufsangehörige galt, die in einem anderen Mitgliedstaat denselben Beruf ausüben wollen, und dem Berufsangehörigen auf Antrag einen partiellen Zugang zu gewähren, wenn die betreffenden Tätigkeiten Teil eines Berufs sind, der im Aufnahmemitgliedstaat ein breiteres Spektrum von Tätigkeiten als im Herkunftsmitgliedstaat umfasst, und die Unterschiede zwischen den Tätigkeitsfeldern so groß sind, dass der Berufsangehörige ein vollständiges Ausbildungsprogramm absolvieren müsste, um seine Lücken auszugleichen.

31 Ohne die Möglichkeit eines partiellen Zugangs zu den in Rn. 28 des vorliegenden Urteils aufgeführten Gesundheitsberufen, d. h. den unter Titel III Kapitel III der geänderten Richtlinie 2005/36 fallenden Berufen, wären viele Angehörige von Gesundheitsberufen, die in einem Mitgliedstaat im Rahmen eines dieser Berufe zur Ausübung bestimmter, im Aufnahmemitgliedstaat keinem bestehenden Beruf entsprechender Tätigkeiten qualifiziert sind, weiterhin mit Mobilitätshindernissen konfrontiert.

32 Überdies kann, wie der Generalanwalt in Nr. 33 seiner Schlussanträge im Wesentlichen feststellt, die Gestattung eines partiellen Zugangs zu Tätigkeiten, die von Berufen erfasst werden, für die u. a. nach Titel III Kapitel III der geänderten Richtlinie 2005/36 die automatische Anerkennung der Berufsqualifikationen gilt, die im ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/55 angesprochene Harmonisierung der Mindestanforderungen an die Ausbildung zu diesen Berufen nicht beeinträchtigen.“

Aus den angeführten Entscheidungsgründen dieses Urteils ergibt sich klar, dass die Ermöglichung eines partiellen Zugangs zu sektorellen Berufen nicht nur – wie aus der Beantwortung der Vorlagefrage hervorgeht – vom Unionsrecht gestattet ist, sondern dass diese vielmehr verpflichtend umzusetzen ist.

Das EuGH-Urteil vom 25. Februar 2021 in der Rechtssache C-940/19 hat folgende Auswirkungen auf das Vertragsverletzungsverfahren Nr. 2018/2161:

Da aus dem gegenständlichen EuGH-Urteil nunmehr die höchstgerichtliche Auslegung des Artikel 4f Abs. 6 der Richtlinie 2005/36/EG klar hervorgeht, mit der der Europäische Gerichtshof die Rechtsansicht der Europäischen Kommission bestätigt, besteht für Österreich kein Spielraum mehr für die bisherige Position, die die beanstandete Nichtumsetzung des partiellen Berufszugangs zu den sektorellen Gesundheitsberufen als EU-konform argumentiert hat.

Die Europäische Kommission hat im Hinblick auf dieses EuGH-Urteil mitgeteilt, dass, da dadurch die Rechtslage betreffend den partiellen Berufszugang für sektorelle Gesundheitsberufe und die Verpflichtung zur innerstaatlichen Umsetzung nunmehr höchstgerichtlich geklärt sei, die zu diesem Thema laufenden Vertragsverletzungsverfahren nunmehr weitergeführt werden und von den betroffenen Mitgliedstaaten zeitnah eine Rückmeldung erwartet werde.

Um für Österreich ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof zu vermeiden, dessen Erfolgschancen angesichts des gegenständlichen Judikats jedenfalls nicht mehr gegeben wären, wurde im laufenden Vertragsverletzungsverfahren eine ergänzende Stellungnahme abgegeben, in der die ergänzende Umsetzung des Artikel 4f der Richtlinie 2005/36/EG für die sektorellen Gesundheitsberufe ehestmöglich in Aussicht gestellt wurde.

Es sind daher nunmehr entsprechende Umsetzungsbestimmungen für den partiellen Berufszugang zu den Berufen der Ärzt:innen, Zahnärzt:innen, Tierärzt:innen, Apotheker:innen und Hebammen zu schaffen.

Für den sektorellen Beruf der Krankenpflege wurde eine partielle Anerkennung in Entsprechung der Vorgaben des Artikel 4f der Richtlinie bereits im Rahmen des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 8/2016 durch § 30a Gesundheits- und Krankenpflegegesetz umgesetzt.

Zu den spezifischen Umsetzungsmaßnahmen in den einzelnen Berufsgesetzen einschließlich der erforderlichen berufsrechtlichen Adaptierungen hinsichtlich Berufsangehöriger, denen künftig ein partieller Berufszugang gewährt wird, wird auf die Ausführungen im Besonderen Teil der Erläuterungen verwiesen.

Finanzielle Auswirkungen:

Es ist davon auszugehen, dass nur eine sehr geringe Anzahl von im EWR-Ausland ausgebildeten Berufsangehörigen, die in Österreich ihren Beruf ausüben wollen, die Voraussetzungen für einen partiellen Berufszugang zu einem der sektorellen Gesundheitsberufe erfüllt. Auch wenn diese Verfahren aufwändiger sind als herkömmliche Anerkennungsverfahren nach der Richtlinie 2005/36/EG, werden diese nur vereinzelt durchzuführen sein, sodass gegebenenfalls nur geringfügige Mehrkosten für die vollziehenden Behörden anfallen werden.

Kompetenzgrundlage:

In kompetenzrechtlicher Hinsicht stützt sich das vorliegende Bundesgesetz auf Artikel 10 Abs. 1 Z 12 B-VG („Gesundheitswesen“, „Veterinärwesen“) und Artikel 10 Abs. 1 Z 8 B-VG („Einrichtung beruflicher Vertretungen, soweit sie sich auf das ganze Bundesgebiet erstrecken“).

 

Der Gesundheitsausschuss hat die gegenständliche Regierungsvorlage in seiner Sitzung am 21. April 2022 in Verhandlung genommen. An der Debatte beteiligten sich außer dem Berichterstatter Abgeordneten Laurenz Pöttinger die Abgeordneten Dr. Werner Saxinger, MSc, Ralph Schallmeiner, Fiona Fiedler, BEd und Philip Kucher sowie der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz Johannes Rauch und der Ausschussobmann Abgeordneter Mag. Gerhard Kaniak.

Bei der Abstimmung wurde der in der Regierungsvorlage enthaltene Gesetzentwurf mit Stimmenmehrheit (dafür: V, S, G, N, dagegen: F) beschlossen.

Als Ergebnis seiner Beratungen stellt der Gesundheitsausschuss somit den Antrag, der Nationalrat wolle dem von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf (1403 der Beilagen) die verfassungsmäßige Zustimmung erteilen.

Wien, 2022 04 21

                              Laurenz Pöttinger                                                       Mag. Gerhard Kaniak

                                   Berichterstatter                                                                           Obmann