614 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XXVII. GP

 

Bericht

des Volksanwaltschaftsausschusses

über den Sonderbericht der Volksanwaltschaft betreffend "Keine Chance auf Arbeit – Die Realität von Menschen mit Behinderung" (III-66 d.B.)

In Österreich kann die Situation von vielen Menschen mit Behinderung in Bezug auf ihre Arbeitsmöglichkeiten am besten mit folgenden Worten beschrieben werden:

„unbefriedigend und unzulässig“

Die meisten Menschen mit Behinderung, denen eine Leistungsfähigkeit von unter 50 % attestiert wurde, haben derzeit nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie sind in einer Beschäftigungstherapiewerkstätte bzw. ähnlicher, sogenannter Tagesstruktur (Werkstätten) tätig oder sie sind zum Nichtstun verurteilt.

Die Kommissionen der Volksanwaltschaft haben in den vergangenen Jahren fast 600 Besuche in Einrichtungen von Menschen mit Behinderung absolviert. Dabei wurden zahlreiche Beschwerden von Betroffenen, Angehörigen, Expertinnen und Experten aber auch Einrichtungen zu diesem Thema geäußert. Aus diesem Grund möchte die Volksanwaltschaft mit diesem Bericht auf die unzureichende Situation hinweisen. Das bedeutet aber nicht, dass in Einrichtungen schlecht gearbeitet wird. Viele Menschen mit Behinderung haben sich bei Befragungen grundsätzlich zufrieden und positiv über die Betreuung geäußert. Das Personal ist in der Mehrzahl der Werkstätten sehr engagiert und begegnet den Betroffenen mit besonderer Wertschätzung. Kommissionen der Volksanwaltschaft bezeichneten mehrere Einrichtungen als Best-Practice-Beispiele.

Österreich hat sich in internationalen Übereinkommen verpflichtet Menschen mit Behinderung nicht zu diskriminieren. So sieht beispielsweise die UN-Behindertenrechtskonvention das Recht auf Arbeit für Menschen mit Behinderung vor. Österreich ist dadurch verpflichtet, einen inklusiven Arbeitsmarkt zu schaffen.

Dies wäre dann erreicht, wenn alle Bevölkerungsmitglieder im erwerbsfähigen Alter – auch solche mit erhöhtem Unterstützungsbedarf – bezahlte Arbeit erhalten könnten. Ein solcher inklusiver Arbeitsmarkt ist aber derzeit in keiner Weise verwirklicht.

So lag die Erwerbsquote von Menschen mit Behinderung im Erwerbsalter (58,5 %) im Jahr 2018 deutlich unter jener von Menschen ohne Beeinträchtigung der gleichen Altersgruppe (77,8 %). Zusätzlich scheint es auch eine Tendenz zu geben, dass Menschen mit Behinderung nicht verbesserte, sondern immer schlechtere Möglichkeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt vorfinden. Im Zeitraum von 2007 bis 2017 ist die Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinderung um 139,22 % gestiegen.

Wenn nun ein Mensch mit Behinderung einen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt sucht, bekommt er vom Arbeitsmarktservice nur dann Unterstützung, wenn er im Sinne des Arbeitslosenversicherungsgesetz bzw. ASVG arbeitsfähig ist. Sollte bei einer ärztlichen Untersuchung eine Arbeitsfähigkeit von weniger als 50 % festgestellt werden, sind Förderungen durch das AMS aber gänzlich ausgeschlossen. Ob diese Personen für sie geeignete Schulungen besuchen bzw. arbeiten wollen oder nicht, ist nach dieser Logik völlig unerheblich.

Ausschlaggebend ist die rein medizinische Beurteilung, dass sie, nach diesem Maßstab, nicht arbeitsfähig seien.

Als Folge der Feststellung der mangelnden Arbeitsfähigkeit werden Menschen mit Behinderung auf eine Tätigkeit in Beschäftigungstherapiewerkstätten oder anderen Tagesstrukturen verwiesen.

In Österreich sind über 20.000 Menschen in diesen Werkstätten tätig, wobei in den Einrichtungen oft eine ganze Palette an Aktivitäten in unterschiedlichen Gruppen angeboten wird. Zu den Angeboten gehören Beschäftigungstherapien, die den Fokus primär auf eine Tagesstruktur und lebenspraktische Förderung legen. Kreative und persönlichkeitsentfaltende Tätigkeiten stehen im Vordergrund. Es gibt auch Gruppen mit arbeitsmarktähnlichen Angeboten bzw. beruflichen Qualifizierungsangeboten. Für Nutzerinnen und Nutzer mit erhöhtem Förderbedarf gibt es überdies spezielle Förderungs- und Unterstützungsmaßnahmen.

Obwohl Arbeitszeiten geregelt sind und die erbrachte Arbeitsleistung oft erheblich ist, sind diese Tätigkeiten, nach der Rechtsprechung des OGH, nicht als Arbeit zu verstehen. Als Folge besteht deshalb kein sozialversicherungsrechtlicher Anspruch, der durch diese Arbeit begründet wird.

Das bedeutet, dass allgemeine Rechte wie das Recht auf Krankengeld oder AlVG-Leistungen, für diese Menschen nicht gelten. Da sie auch von einem Pensionsversicherungsschutz ausgeschlossen sind, können die Betroffenen niemals Pensionsleistungen in Anspruch nehmen. Lediglich eine gesetzliche Unfallversicherung ist für die Tätigkeit in anerkannten Einrichtungen vorgesehen.

Die Auswirkungen des Ausschlusses dieser Beschäftigungsverhältnisse von der Sozialversicherung sind klar. Die betroffenen Menschen mit Behinderung sind von den Leistungen der Sozialhilfe bzw. von Waisenpensionen und den damit verbundenen Sozialversicherungsansprüchen abhängig.

Diese Abhängigkeit ist für viele Menschen mit Behinderung ein Problem. Sie wünschen sich, dass ihre Arbeit wertgeschätzt wird und sie sich durch ihre Leistung etwas schaffen können. Dies wurde Kommissionen der Volksanwaltschaft bei zahlreichen Besuchen in Einrichtungen mitgeteilt. Es mache beispielsweise einen Unterschied, ob man (aufgrund eigener Ansprüche) in Alterspension gehen kann oder ob einem dies verwehrt ist. Überdies kann es auch für Angehörige sehr belastend sein, dass das Kind mit Behinderung von den eigenen Ansprüchen abhängig oder auf die Sozialhilfe angewiesen ist. Aber wie im Folgenden gezeigt wird, hat die Unterscheidung zwischen eigenen und abgeleiteten Ansprüchen auch Auswirkungen auf die allgemeine Lebenssituation der Menschen.

Den Beschäftigten in Werkstätten werden nur Taschengelder, die zwischen ca. 5 Euro und (in sehr seltenen Fällen) 200 Euro im Monat betragen, ausbezahlt. Die Finanzierung eines „normalen“ Alltages ist damit keinesfalls möglich. Eine von einer Kommission befragte Klientin berichtete beispielsweise, dass sie sich einen Friseurbesuch praktisch nicht leisten könne. Von einem selbstbestimmten Leben kann bei solchen Rahmenbedingungen nicht mehr gesprochen werden.

Zusammenfassend hält die Volksanwaltschaft fest, dass Menschen mit Behinderung

1.     nicht ausreichend beruflich integriert sind bzw. es keinen inklusiven Arbeitsmarkt gibt,

2.     deshalb auf eine Beschäftigung in Werkstätten angewiesen sind,

3.     gleichzeitig oft keine Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Einrichtung haben,

4.     in diesen Werkstätten keinen eigenen Sozialversicherungsanspruch erwerben,

5.     für ihre Arbeit nur ein Taschengeld erhalten und

6.     aus diesen Gründen in einer Zwangssituation sind.

 

Der fehlende Sozialversicherungsanspruch und die Qualifizierung als nicht Arbeitsfähig ziehen weitreichende rechtliche Folgen nach sich:

•       Betroffene können keine Maßnahmen des AMS in Anspruch nehmen, um am ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.

•       Es gibt keine Möglichkeit für Krankenstand oder die Inanspruchnahme anderer ArbeitnehmerInnenrechte.

•       Betroffene sind von Waisenrente oder Sozialhilfe abhängig.

•       Bei Bezug von Sozialhilfe ist kein Vermögensaufbau möglich.

•       Es gibt keinen Pensionsanspruch und damit keine Möglichkeit der Alterspension.

•       Dies hat zur Folge, dass in vielen Wohneinrichtungen, auch alte Menschen mit Behinderung tagsüber in Werkstätten gehen müssen, weil andere Betreuungsangebote fehlen.

 

Der Volksanwaltschaftsausschuss hat den gegenständlichen Bericht der Volksanwaltschaft in seiner Sitzung am 17. Dezember 2020 in Verhandlung genommen. An der Debatte beteiligten sich außer der Berichterstatterin Abgeordneten Heike Grebien die Abgeordneten Kira Grünberg, Rudolf Silvan, Mag. Christian Ragger, Fiona Fiedler, BEd, Dr. Gudrun Kugler, Sabine Schatz, Ing. Reinhold Einwallner, Petra Bayr, MA MLS, Cornelia Ecker, David Stögmüller, sowie die Volksanwälte Werner Amon, MBA, Mag. Bernhard Achitz und Dr. Walter Rosenkranz und die Ausschussobfrau Abgeordnete Martina Diesner-Wais.

 

Bei der Abstimmung wurde einstimmig beschlossen, dem Nationalrat die Kenntnisnahme des gegenständlichen Berichtes zu empfehlen.

 

Als Ergebnis seiner Beratungen stellt der Volksanwaltschaftsausschuss somit den Antrag, der Nationalrat wolle den Sonderbericht der Volksanwaltschaft betreffend "Keine Chance auf Arbeit – Die Realität von Menschen mit Behinderung" (III-66 d.B.) zur Kenntnis nehmen.

 

Wien, 2020 12 17

                                  Heike Grebien                                                           Martina Diesner-Wais

                                  Berichterstatterin                                                                           Obfrau