712 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XXVII. GP

 

Bericht

des Ausschusses für Wirtschaft, Industrie und Energie

über die Regierungsvorlage (645 der Beilagen): Bundesgesetz über eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlassung neuer Berufsreglementierungen (Verhältnismäßigkeitsprüfungs-Gesetz – VPG)

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die Richtlinie (EU) 2018/958 über eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlass neuer Berufsreglementierungen, ABl. Nr. L 173 vom 9.7.2018 S. 25, für den Bereich des Bundes umgesetzt werden. Die genannte Richtlinie wird in weiterer Folge mit der Abkürzung VP-RL bezeichnet.

Hauptgesichtspunkte des Entwurfs:

Das Regelungsziel der VP-RL ergibt sich insbesondere aus den Erwägungsgründen (ErwG) der Richtlinie:

Die Berufsfreiheit ist ein Grundrecht, die Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantiert die Berufsfreiheit und die unternehmerische Freiheit. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit sind Grundprinzipien des Binnenmarktes, die im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verankert sind. Nationale Bestimmungen, die den Zugang zu reglementierten Berufen regeln, sollten daher keine ungerechtfertigten oder unverhältnismäßigen Hindernisse für die Ausübung dieser Grundrechte schaffen. (ErwG 1)

Bestehen im Unionsrecht keine spezifischen Rechtsvorschriften zur Harmonisierung der Anforderungen an den Zugang zu einem reglementierten Beruf oder zur Ausübung eines solchen Berufs, so fällt die Entscheidung, ob und wie ein Beruf zu reglementieren ist, in den Zuständigkeitsbereich eines Mitgliedstaats, solange die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben. (ErwG 2)

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehört zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts. Aus der Rechtsprechung ergibt sich, dass nationale Maßnahmen, welche die im AEUV garantierte Ausübung der Grundfreiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können, vier Bedingungen erfüllen sollten, sie sollten nämlich: in nichtdiskriminierender Weise angewendet werden, durch Ziele des öffentlichen Interesses gerechtfertigt sein, geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist. (ErwG 3)

Die Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, ABl. Nr. L 255 vom 30.9.2005 S 22, in der Fassung der Richtlinie 2013/55/EU, ABl. Nr. L 345 vom 28.12.2013 S. 132, enthält eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Verhältnismäßigkeit der eigenen Anforderungen, die den Zugang zu reglementierten Berufen oder deren Ausübung beschränken, zu prüfen und die Ergebnisse dieser Prüfung der Kommission vorzulegen, wodurch der Prozess der gegenseitigen Evaluierung eingeleitet wird. Dieser Prozess bedeutet, dass die Mitgliedstaaten eine Überprüfung sämtlicher Rechtsvorschriften zu allen in ihrem Hoheitsgebiet reglementierten Berufen vornehmen mussten. (ErwG 4)

Die Ergebnisse des Prozesses der gegenseitigen Evaluierung offenbarten einen Mangel an Klarheit hinsichtlich der von den Mitgliedstaaten bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Anforderungen für den Zugang zu reglementierten Berufen oder ihre Ausübung anzuwendenden Kriterien sowie eine uneinheitliche Kontrolle dieser Anforderungen auf allen Regulierungsebenen. Um eine Fragmentierung des Binnenmarktes zu vermeiden und Schranken bei der Aufnahme und Ausübung bestimmter abhängiger oder selbstständiger Tätigkeiten abzubauen, sollte es daher ein gemeinsames Verfahren auf Unionsebene geben, das den Erlass unverhältnismäßiger Maßnahmen verhindert. (ErwG 5)

Dieses gemeinsame Verfahren ist die im Rahmen der VP-RL geschaffene Verhältnismäßigkeitsprüfung.

Diese Richtlinie berührt nicht die Befugnis der Mitgliedstaaten, die Organisation und den Inhalt ihrer Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung zu bestimmen, dies gilt insbesondere für die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, Berufsorganisationen die Befugnis zur Organisation und Überwachung der Berufsausbildung zu übertragen. Vorschriften, die den Zugang zu reglementierten Berufen oder deren Ausübung nicht beschränken, einschließlich redaktioneller Änderungen oder technischer Anpassungen des Inhalts von Ausbildungsgängen oder der Aktualisierung von Ausbildungsvorschriften, sollten nicht in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fallen. Besteht die Berufsausbildung jedoch aus vergüteten Tätigkeiten, sollten die Niederlassungsfreiheit und der freie Dienstleistungsverkehr gewährleistet sein. (ErwG 9)

Mit dem Ziel der Umsetzung der Richtlinie für den Bereich des Bundes sollen durch den vorliegenden Entwurf alle durch Bundesvorschriften reglementierte Berufe erfasst und somit eine „horizontale“ Regelung auf Bundesebene geschaffen werden. Normadressaten dieses Gesetzes sind jene Organe, die mit der Vorbereitung bzw. mit der Erlassung entsprechender Bundesvorschriften betraut sind und dementsprechend zur Durchführung der Verhältnismäßigkeitsprüfung verpflichtet werden. Dies sind die Bundesminister, Bundesministerinnen und allenfalls die Bundesregierung als Kollektivorgan sowie Organe, die zur Erlassung von Rechtsvorschriften im Anwendungsbereich dieser Richtlinie ermächtigt sind, z.B. Berufskammern und andere Selbstverwaltungskörper bzw. beliehene Organe.

Vom Gesetzentwurf nicht erfasst werden der Nationalrat bzw. Abgeordnete zum Nationalrat im Rahmen ihres Initiativrechts. Diesbezügliche Regelungen wären allenfalls durch das Geschäftsordnungsgesetz 1975 zu treffen, für dessen Abänderungen besondere Mehrheitserfordernisse bestehen.

Die in diesem Gesetz geregelte Verhältnismäßigkeitsprüfung kommt gemäß § 2 Abs. 1 des Entwurfs vor der Erlassung von Reglementierungen zur Anwendung und tritt gemäß § 10 des Entwurfs mit Ablauf des Tages der Kundmachung in Kraft. Es wird somit keine gesetzliche Grundlage für die Überprüfung bis dahin bestehender Reglementierungen geschaffen, sondern nur für die Überprüfung neuer Regelungen und für die Änderung bestehender Vorschriften ab dem Datum des Inkrafttretens.

Den EU-rechtlichen Grundsätzen zufolge wird der Verpflichtung zur Umsetzung der wesentlichen Inhalte einer Richtlinie in innerstaatliches Recht grundsätzlich nicht durch einen bloßen Verweis auf die Richtlinie bzw. auf einzelne Bestimmungen der Richtlinie Genüge getan, sodass der vorliegende Entwurf die ausdrückliche Implementierung der einzelnen Vorgaben der Richtlinie beinhaltet.

Insbesondere die Festlegung des Inhalts und der Kriterien der durchzuführenden Verhältnismäßigkeitsprüfung, die das Kernstück der gegenständlichen EU-Richtlinie darstellt, wird nicht durch einen bloßen Verweis auf die einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie, insbesondere Art. 7, geregelt, sondern ausdrücklich ausformuliert und – in der Anlage zum VPG – durch ein entsprechendes Prüfschema konkretisiert.

Weitere wesentliche Inhalte des Entwurfs sind Regelungen über Anforderungen an die Verhältnismäßigkeitsprüfung, das durchzuführende Begutachtungsverfahren sowie die nachträgliche Überwachung.

Art. 9 der VP-RL verpflichtet die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass im Einklang mit den innerstaatlich vorgesehenen Verfahren ein wirksamer Rechtsbehelf hinsichtlich der in dieser Richtlinie geregelten Angelegenheiten zur Verfügung steht. ErwG 32 der Richtlinie beruft sich in diesem Zusammenhang auf Art. 47 der EU Grundrechte-Charta betreffend das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht sowie auf Art. 19 EUV betreffend den Europäischen Gerichtshof und folgert daraus, „dass die nationalen Gerichte im Einklang mit den im einzelstaatlichen Recht festgelegten Verfahren und mit Verfassungsgrundsätzen imstande sein müssen, die Verhältnismäßigkeit von Anforderungen, die in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fallen, zu prüfen, um zu gewährleisten, dass jede natürliche oder juristische Person das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Beschränkungen der Freiheit, eine Beschäftigung zu wählen, gegen eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit hat.“

Den daraus sich ergebenden Anforderungen ist aus den im Folgenden angeführten Gründen bereits durch das bundesverfassungsgesetzlich festgelegte verwaltungs- und verfassungsgerichtliche Rechtsschutzsystem entsprochen, ohne dass es hiefür ergänzender Umsetzungsbestimmungen auf einfachgesetzlicher Ebene bedarf: Bescheide, mit denen auf der Grundlage bundesgesetzlicher Vorschriften über den Berufszugang oder die Berufsausübung entschieden wird, können ebenso wie einschlägige Strafbescheide wegen Nichteinhaltung berufsrechtlicher Regelungen mittels Beschwerde an das Verwaltungsgericht bekämpft werden. Gegen dessen gegebenenfalls abschlägige Entscheidung ist die (ordentliche oder außerordentliche) Revision an den Verwaltungsgerichtshof möglich. Das Verwaltungsgericht hat ebenso wie der Verwaltungsgerichtshof auf Gesetz oder Verordnung beruhende unionsrechtswidrige (weil unverhältnismäßige) Reglementierungen aufgrund des Anwendungsvorranges des Unionsrechtes unangewendet zu lassen (vgl. VwGH 10.10.2018, Ra 2017/03/0108), womit der einschlägigen Richtlinienbestimmung des Art. 9 hinsichtlich des Individualrechtsschutzes entsprochen ist.

Soweit solche Reglementierungen nicht nur den unionsrechtlichen Grundfreiheiten und damit auch der Richtlinie widersprechen, sondern diese auch gegen die Berufsfreiheit und das Recht zu arbeiten nach Art. 15 bzw. gegen die unternehmerische Freiheit nach Art. 16 der EU Grundrechte-Charta verstoßen, besteht ein unionsrechtskonformer Rechtsschutz weiters im Weg der gegen eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts gerichteten Beschwerde nach Art. 144 B-VG an den Verfassungsgerichtshof. Der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (beginnend mit VfSlg. 19.632/2012) zufolge bilden nämlich im Anwendungsbereich des Unionsrechtes (im Anlassverfahren präjudizielle) Bestimmungen der EU Grundrechte-Charta wie die hier gegenständlichen, welche in ihrer Formulierung und Bestimmtheit verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gleichen, als solche einen Prüfungsmaßstab seiner Rechtskontrolle. Dementsprechend können Verstöße gegen die EU Grundrechte-Charta der in Rede stehenden Art, wenn diese unmittelbar (ohne die Erlassung eines Bescheides) gegen eine Person wirksam geworden sind, auch mittels Individualantrag nach Art. 139 bzw. Art. 140 B-VG an den Verfassungsgerichtshof herangetragen werden.

Zu Art. 10 der VP-RL besteht kein legistischer Umsetzungsbedarf. Die EK informierte jüngst in der Gruppe der Koordinatoren der RL 2005/36/EG darüber, dass der gemäß Art. 10 vorgesehene Informationsaustausch zwischen Mitgliedstaaten im Rahmen dieser Koordinatorengruppe sowie eventueller zusätzlicher Treffen stattfinden solle. Es erscheint nicht erforderlich, dafür eine gesetzliche Maßnahme vorzusehen.

Auch hinsichtlich Art. 11 der VP-RL betreffend die Eingabe bestimmter Informationen in die Datenbank für reglementierte Berufe wird kein legistischer Umsetzungsbedarf erkannt. Die betroffenen Bundesressorts haben bereits Zugang zu dieser schon bestehenden Datenbank bzw. können zusätzliche Zugangs- und Eingabeberechtigungen jederzeit problemlos verschafft werden. Gemäß Art. 59 Abs. 5 RL 2005/36/EG sind zusätzliche Anforderungen an reglementierte Berufe binnen sechs Monaten nach ihrer Einführung der Kommission mitzuteilen. Es ist davon auszugehen, dass anlässlich dieser Mitteilung auch Angaben nach Art. 11 der VP-RL in die Datenbank für reglementierte Berufe eingegeben werden können (z.B. Hochladen der Verhältnismäßigkeitsprüfung). Es erscheint nicht erforderlich, für diese schon eingerichteten Abläufe bundesgesetzliche Maßnahmen vorzusehen.

Der Entwurf sieht eine Umsetzung der VP-RL lediglich in dem Ausmaß vor, zu dem der Bund aufgrund der Vorschriften des Unionsrechts verpflichtet ist, und keine darüber hinaus gehenden Maßnahmen.

Die Umsetzung dieser Richtlinie für landesgesetzliche Regelungen hat entsprechend der bundesverfassungsgesetzlichen Kompetenzverteilung auf Ebene der Bundesländer zu erfolgen.

Inkrafttreten:

Die Umsetzung der VP-RL hat bis längstens 30. Juli 2020 zu erfolgen, das Verhältnismäßigkeitsprüfungs-Gesetz soll daher unmittelbar mit Ablauf des Tages der Kundmachung in Kraft treten.

Kompetenzgrundlage:

Die Kompetenz zur Regelung der Anforderungen für den Antritt oder die Ausübung reglementierter Berufe schließt auch die Kompetenz mit ein, Verwaltungsorgane zu verpflichten, vor Erlassung entsprechender Bestimmungen die Verhältnismäßigkeit der in Aussicht genommenen Anforderungen zu prüfen. In diesem Sinne stützt sich der vorliegende Entwurf auf die Kompetenzen des Bundes zur Regelung des Zugangs und der Ausübung von reglementierten Berufen, die in die Gesetzgebungskompetenz des Bundes fallen. Dies sind beispielsweise Art. 10 Abs. 1 Z 6 B-VG (Angelegenheiten der Rechtsanwälte), Art. 10 Abs. 1 Z 8 B-VG (Angelegenheiten des Gewerbes und der Industrie; Einrichtung beruflicher Vertretungen, soweit sie sich auf das ganze Bundesgebiet erstrecken), Art. 10 Abs. 1 Z 8 B-VG (Angelegenheiten der Patentanwälte), Art. 10 Abs. 1 Z 9 B-VG (Kraftfahrwesen), Art. 10 Abs. 1 Z 10 B-VG (Forstwesen), Art. 10 Abs. 1 Z 12 (Gesundheitswesen), Art. 10 Abs. 1 Z 16 B-VG, (Dienstrecht und Personalvertretungsrecht der Bundesbediensteten) und Art. 14 Abs. 2 B-VG (Dienstrecht und Personalvertretungsrecht der Lehrer für öffentliche Pflichtschulen).

Der Ausschuss für Wirtschaft, Industrie und Energie hat die gegenständliche Regierungsvorlage in seiner Sitzung am 10. März 2021 in Verhandlung genommen. An der Debatte beteiligten sich außer der Berichterstatterin Abgeordneten Dr. Elisabeth Götze die Abgeordneten Maximilian Lercher, Mag. Gerald Loacker sowie die Bundesministerin für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort Dr. Margarete Schramböck.

 

Bei der Abstimmung wurde der in der Regierungsvorlage enthaltene Gesetzentwurf mit Stimmenmehrheit (dafür: V, F, G, dagegen: S, N) beschlossen.

Als Ergebnis seiner Beratungen stellt der Ausschuss für Wirtschaft, Industrie und Energie somit den Antrag, der Nationalrat wolle dem von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf
(645 der Beilagen) die verfassungsmäßige Zustimmung erteilen.

Wien, 2021 03 10

                             Dr. Elisabeth Götze                                                              Peter Haubner

                                  Berichterstatterin                                                                          Obmann