11305/J XXVII. GP

Eingelangt am 15.06.2022
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Anfrage

der Abgeordneten Dr. Stephanie Krisper, Kolleginnen und Kollegen

an den Bundesminister für europäische und internationale Angelegenheiten

betreffend Positionen zu Afghanistan seit Machtübernahme der Taliban

 

Seit 15. August 2021 haben die radikal-islamistischen Taliban nach einer 20-jährigen Besetzung durch internationale Truppen in Afghanistan wieder die Macht übernommen. Die Machtergreifung der Taliban erfolgte gewaltsam und vertrieb eine von der internationalen Gesellschaft anerkannte und unterstützte Regierung. Seither verschlimmert sich die Lage im Land täglich. Laut Amnesty International sind Folter, außergerichtliche Hinrichtungen und weitere Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung. Aufgrund dieser verheerenden sicherheitspolitischen und menschenrechtlichen Lage haben zahlreiche europäische Staaten Abschiebungen nach Afghanistan ausgesetzt - Abschiebungen nach Afghanistan sind aktuell rechtlich und faktisch unmöglich. 

Österreich wollte noch Anfang August 2021 eine Abschiebung nach Afghanistan durchführen. Obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 3. August 2021 mit einer einstweiligen Verfügung (Art 39 EGMR-Verfahrensordnung) eine geplante Abschiebung eines Afghanen aus Österreich gestoppt hat, wurde noch am 13. August 2021 vom damaligen Innenminister Nehammer verkündet, dass er an Abschiebungen nach Afghanistan festhalte. Zu diesem Zeitpunkt wurde Herat von den Taliban bereits eingenommen und am nächsten Tag folgte die Einnahme von Mazar-e-Sharif. Die österreichische Rechtsprechung ging in der jüngsten Vergangenheit stets davon aus, dass diese beiden Städte vergleichsweise sicher wären und eine "innerstaatliche Fluchtalternative" gegeben wäre. Bis zum Sommer 2021 wurde dies auch von den Höchstgerichten VfGH und VwGH bestätigt. Das Bundesverwaltungsgericht hatte am 29. Juli 2021 eine Beschwerde eines Afghanen abgewiesen und eine Rückkehrentscheidung nach Afghanistan für zulässig erklärt (BVwG W238 2203769-1/27E).

Doch am 30. September 2021 gab es eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs, welche dieses Erkenntnis aufgehoben hat. Der VfGH argumentierte in seiner Entscheidung wie folgt: „spätestens ab 20. Juli 2021, dh. auch zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes, von einer extremen Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan auszugehen war, sodass jedenfalls eine Situation vorliegt, die den Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr einer Verletzung seiner verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte gemäß Art. 2 und 3 EMRK aussetzt“ (siehe: VfGH E 3445/2021-8). Üblicherweise begründet der VfGH in Asylsachen seine Entscheidungen damit, dass das BVwG gegen das Willkürverbot verstoßen hat – doch in dieser Entscheidung stützt sich die Begründung auf die Gefahr einer Verletzung von im verfassungsrang stehenden Menschenrechten. Anhand dieser Entscheidung wurde auch deutlich, dass Karl Nehammers Festhalten an Abschiebungen Mitte August faktenfrei argumentiert war - und den Behörden die wesentlichen Informationen schon seit 20. Juli 2021 vorlagen. Auch Sie, Herr Außenminister, hielten noch Mitte August an Abschiebungen nach Afghanistan fest, u.a. verwiesen Sie auf sichere Drittstaaten. Zugleich sprachen Sie sich dafür aus, Afghanen_innen, die in den vergangenen Jahren eng mit europäischen Staaten zusammengearbeitet haben und nun gefährdet sind, zu helfen – die Verbringung nach Europa sei aber Ihrer Auffassung nach nicht die einzige Lösung.  

Darüber hinaus ist das Recht auf Familie menschenrechtlich in Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geschützt. Daraus ergibt sich zwar nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 8 EMRK kein uneingeschränktes Recht auf Familiennachzug; eine pauschale Ablehnung ist jedoch unzulässig. Im Jahr 2021 wurden 767 Anträge auf Familienzusammenführung gem §35 AsylG von afghanischen Staatsangehörigen gestellt. Aus der Beantwortung 8720/AB zur Anfrage 8891/J ergab sich, dass das Verfahren zur Familienzusammenführung sich seit Machtübernahme der Taliban nicht verändert hat. Zwar wurden laut BMEIA von der ÖB Islamabad Schutzbriefe ausgestellt, um Personen bei der Ausreise aus Afghanistan zu unterstützen, aber sonst wurden keine Maßnahmen zur Erleichterung der Familienzusammenführung gesetzt.

Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgende

Anfrage:

 

  1. Welche Position vertritt Ihr Ministerium betreffend die Menschenrechtssituation in Afghanistan in inhaltlichen Debatten
    1. auf europäischer Ebene, jeweils in welchen Gremien und Gesprächen?
    2. auf nationaler Ebene, jeweils in welchen Gremien und Gesprächen?
  1. Welche Auswirkungen hat die Machtübernahme durch die Taliban auf die Einschätzung der Sicherheitslage Afghanistans durch das BMeiA gehabt?
  2. War das BMeiA seit der Machtübernahme der Taliban in Kontakt mit afghanischen Behörden?
    1. Wenn ja, welche, wann, wie oft und aus welchen Gründen?
  1. Welche Positionen vertreten Sie bzw. vertraten Sie wann hinsichtlich Abschiebungen nach Afghanistan?
    1. auf europäischer Ebene, jeweils in welchen Gremien und Gesprächen?
    2. auf nationaler Ebene, jeweils in welchen Gremien und Gesprächen?
  1. Ist ein Rückübernahmeabkommen mit der früheren afghanischen Regierung nach der Machtübernahme der Taliban aus Sicht der österreichischen Bundesregierung weiterhin gültig?
    1. Wenn ja, mit welcher rechtlichen Begründung?
    2. Wenn ja, bis zu welcher Änderung der Sachlage beharrt bzw. beharrte die österreichische Bundesregierung auf dieser Meinung?
  1. Kann Österreich in ein Land abschieben, das keine international anerkannte Regierung hat und für die gröbsten Menschen- und Frauenrechtsverletzungen weltweit kritisiert wird?
    1. Wenn ja, mit welcher Begründung?
    2. Wenn ja, bis zu welcher weiteren Verschlechterung der Lage beharrt bzw. beharrte die österreichische Bundesregierung auf dieser Meinung?
  1. Aufgrund der aktuellen Lage sind Abschiebungen nach Afghanistan faktisch und rechtlich unmöglich. Welche Alternativen wurde von wem. bzw. welcher Stelle Ihres Ressorts wann angedacht?
    1. Welche Vorarbeiten wurden für diese Alternativen wann durch wen geleistet?
    2. Gab es dazu planende Gespräche oder Kooperationen mit Diensten/Personen anderer Länder?

                                          i.    Wenn ja, mit wem gab es wann welche Gespräche?

                                        ii.    Welche Position nahmen die Gesprächspartner welcher Länder jeweils wann zu Ihren Vorschlägen ein?

                                       iii.    Welche Vorschläge machten die Gesprächspartner welcher Länder jeweils wann?

  1. Welche sicheren Drittstaaten kämen Ihrer Ansicht nach zur Abschiebung von afghanischen Staatsangehörigen infrage? 
  2. Welche Maßnahmen haben Sie bzw. Ihr Ressort jeweils wann gesetzt, um Afghan_innen, die in den vergangenen Jahren eng mit europäischen Staaten zusammengearbeitet haben und nun gefährdet sind, zu helfen?
    1. Welche anderen Lösungen als die Verbringung nach Europa wurden von Ihnen bzw. von Ihrem Ressort dafür vorgesehen?
  1. Wie viele Anträge auf Familienzusammenführung gem §35 AsylG wurden erstinstanzlich in den Jahren 2019, 2020 und 2021 erledigt? Bitte um Angabe des Verfahrensrückstaus von anhängigen Familienverfahren zu den Zeitpunkten 31.12.2020 und 31.12.2021. 
  2. Wie viele erstinstanzliche Entscheidungen wurden im Rahmen von Familienzusammenführungsverfahren gem §35 AsylG in den Jahren 2019, 2020 und 2021 getroffen? Bitte um Aufschlüsselung nach Monat, Schutzstatus und Ergebnis der Entscheidung.
    1. Bei Erteilung von Einreisetitel im Rahmen von Familienzusammenführungsverfahren: Wie lange betrug die durchschnittliche Dauer zwischen der Antragstellung und der Erteilung des Aufenthaltstitels in den Jahren 2019, 2020 und 2021?