11864/J XXVII. GP
Eingelangt am 08.07.2022
Dieser Text wurde elektronisch übermittelt. Abweichungen vom Original sind
möglich.
Anfrage
der Abgeordneten Hannes Amesbauer, Christian Lausch
und weiterer Abgeordneter
an die Bundesministerin für Justiz
betreffend „WIR HABEN DIE KONTROLLE VERLOREN!!!“ – erschreckender Hilferuf aus der JA Graz-Jakomini
Den Anfragestellern wurde ein brisantes Schreiben aus der Justizanstalt Graz-Jakomini übermittelt. Mehrere Abteilungskommandanten und deren Stellvertreter schildern darin ernstzunehmende Probleme und Sicherheitsbedenken. Im nachfolgenden wird das entsprechende Schreiben vollinhaltlich zitiert:
WIR HABEN DIE KONTROLLE VERLOREN!!!
Dieser Satz trifft das Gefühl, das wir AbteilungsbeamtInnen seit einigen Monaten immer häufiger verspüren, wenn wir täglich unsere dienstlichen Tätigkeit in der Abteilung nachgehen.
Gemeint ist damit, dass Insassen unseren gesetzliche vorgegebenen Anordnungen sanktionslos nicht Folge leisten, dass die Anzahl der psychisch auffälligen Insassen stetig zunimmt und auch deren äußerst bedenkliches Verhalten, dass wir uns als JWB tagtäglich von immer mehr Insassen beleidigen bzw beschimpfen lassen müssen, dass Sicherheitsbedenken nicht von allen Vorgesetzten ernst genommen werden, dass nicht regelkonformes Verhalten von Insassen viel zu spät bzw zu wenig sanktioniert wird, dass man sich für viele dienstlich korrekte Tätigkeiten immer häufige rechtfertigen muss (vor Insassen). Die Kombination aus den genannten Punkten gefährdet massiv die Sicherheit in der ho Justizanstalt und somit uns alle.
Als Beispiele seien angeführt:
· Ein Bediensteter der ho Justizanstalt wird von einem Insassen (schwer) verletzt. Es dauert mehrere Tage, bis dieser Insasse in eine andere Anstalt überstellt wird.
· Ein Insasse zeigt Bedienstete unserer Anstalt wissentlich wegen Missbrauch der Amtsgewalt/Körperverletzung oÄ aufgrund einer Verlegung an. Dieser Insasse verbleibt in der Anstalt. Die betroffenen KollegInnen auf der Abteilung haben weiterhin (täglich) mit diesem Insassen zu tun.
· Ein Insasse im großen Zellenhaus tritt und schlägt – weil er unzufrieden mit seiner Essensportion war – über einen längeren Zeitraum gegen die Haftraumtüre. Andere Insassen beschweren sich – berechtigterweise – über diese unzumutbare Lärmbelästigung. Der Haftraum QE 11 ist belegt. Aus Mangel an Verlegsmöglichkeiten wird der Insasse lärmend in seinem Haftraum belassen.
· Ein Insasse fügt sich an einem Freitag um 10.00 Uhr massive Schnittwunden zu. Bei der sofortigen telefonischen Meldung an den Justizwachkommandanten wird der Abteilungsbeamte aufgefordert, nicht die Maßnahme nach § 103(2)4 StVG, sondern ‚nur‘ nach § 103(2)3 StVG zu verhängen, damit der Insasse in die QE 11 verlegt werden kann, weil alle drei besonders gesicherten Zellen belegt sind. Die weisungsmäßig verhängte besondere Sicherheitsmaßnahme nach § 103(2)3 StVG wird um 11.45 Uhr (also nach eineinhalb Stunden!!!) aufgehoben und der Insasse mit § 103(2)1 StVG in seinen vorherigen Haftraum rückverlegt, dies mit der Begründung, dass wir sonst ja über das Wochenende überhaupt keinen Sonderhaftraum mehr frei hätten.
· Ein Insasse wird aufgefordert, das verbotenerweise verhängte Fenster freizumachen (Sichtkontrolle der Gitter). Er ignoriert trotz Abmahnung die Anordnung. Dieser Vorfall wiederholt sich über mehrere Wochen, zwischenzeitlich wird eine Meldung gelegt. Dieser Umstand ändert jedoch nichts am ungebührlichen Verhalten, welches der Insasse unbehelligt fortsetzt und uns Bediensteten die friktionsfreie Sicherheitskontrolle erschwert.
· Ein Insasse betätigt ständig die Notrufsprechanlage, um nach banalen Dingen zu fragen (unzählige Male, wann der Einkauf sei; wann denn endlich Spaziergang sei…). Er wird belehrt und abgemahnt. Dies zeigt keine Wirkung. Dadurch wird auch die Notrufsprechanlage für einen möglichen Notfall blockiert.
· Ein Insasse beschmiert die Wände und wird aufgefordert, die Kritzelei zu beseitigen. Der Insasse weigert sich. Es wird eine OW-Meldung gelegt. Die Konsequenz? Die Ausbesserungsarbeiten an der Wand werden von den Hausarbeitern/der Malerei durchgeführt, der Insasse hat kein Geld, um den Schaden zu bezahlen.
· Ein Insasse ist nicht damit einverstanden, dass sein Fenster versperrt wurde (weil er ständig rausschreit), reißt sodann den Fensterflügel aus der Verankerung. Aufgrund Platzmangel wird er nicht verlegt und schreit weiter durch das zerstörte Fenster.
· Insassen begehen eine Ordnungswidrigkeit (zB Missachtung der Hausordnung, sogar Entweichung) und erhalten ihre Strafe Monate später. Wo bleibt da der pädagogische Lerneffekt? Gehört dies nicht auch zu unseren Aufgaben im Strafvollzug?
· Ein Insasse erhält eine negative Entscheidung (zB Ausgang abgelehnt). Daraufhin wirft er den Sessel mehrmals gegen die Tür und beschimpft den ihm die Entscheidung verkündenden JWB. Der Insasse erhält Monate später einen Verweis für sein ungebührliches Verhalten.
· Der Verdacht von unerlaubten Gegenständen besteht in einer Abteilung/einem Haftraum. Es gibt zum notwenigen Zeitpunkt nicht genügen Personal für eine Durchsuchung. Sie wird auf unbestimmte Zeit verschoben.
· Bei einer Belagsverweigerung des Insassen wird die Situation oftmals in die Richtung deeskaliert, sodass der Insasse seinen Willen erhält.
· Die Verlegung von Insassen aus der besonderen Sicherheitsmaßnahme gem. § 106(2)4 StVG findet hauptsächlich nach 14.45 Uhr statt. Häufig fehlen dann Effekten, welche am selben Tag nicht mehr greifbar sind (Effektenstelle eingerückt). Auch passt der Haftplatz für den Insassen nicht immer, was gerade auf eine besondere Sicherheitsmaßnahme folgend nicht unbedingt förderlich ist. Probleme sind somit vorprogrammiert.
· Die Abteilungsbeamten haben sich nach Befragung einstimmig dafür ausgesprochen, die während der ‚Covid-Zeit‘ eingeführten kleineren Spaziergruppen – vor allem aus Sicherheitsgründen – beizubehalten. Seit einigen Wochen gilt wieder die frühere Spazierhofregelung mit den großen Gruppen.
Das Verfassen eine OW-Meldung, ohne Frage ein zusätzliche Zeitaufwand, behebt das Problem zumeist nicht (der Insasse lärmt trotzdem weiter, die Haftraumbeschädigung wird dadurch nicht rückgängig gemacht usw.). Wobei hervorzuheben ist, dass eine derartige Meldung ohnehin erst nach mehrmaligen einschlägigen Vorfällen (zB Bett verhängen an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen trotz Abmahnung…) gelegt wird. Es gibt folgedessen keine (unmittelbaren) spürbaren Konsequenzen, welche jedoch erzieherisch unbedingt vonnöten wären; auch aus general- und spezialpräventiven Gründen.
Beim Ausrücken zum Aufenthalt im Freien werden von den Insassen diverse Tabletten quasi vor den Augen der JWB getauscht bzw verteilt, wohl wissentlich, dass es wenige (sofortige Abnahme der Tabletten) bis gar keine Konsequenzen gibt.
Bei den täglichen Standeskontrollrunden werden immer häufiger Insassen vorgefunden, welche quasi nicht wach zu kriegen sind. Erst nach Betreten des Haftraumes und kräftigem Schütteln sowie Anschreien zeigen diese Personen eine Regung. Wobei man die Heftigkeit der Reaktion nie abschätzen kann, was zu einer erheblichen Sicherheitsgefährdung der beteiltigten Justizbediensteten führt. Auffällig ist, dass diese Insassen durchwegs diverse Medikamente erhalten und deren Zustand sehr deutlich auf einen Missbrauch von Substanzen hinweisen. Auch die Durchführung eines Drugscreens (Ergebnis meist nicht von Bedeutung) ändert in Zukunft nichts am Zustand des Insassen, sodass am nächsten Tag das ganze Prozedere von vorne beginnt.
Bezüglich Arbeitsabläufe wären die für uns untragbaren Umstände in der ho Abteilung 06KAO genannt. Arztvisiten zu den vorgegebenen Tagen in der Abteilung finden nicht immer statt. So kommt es schon einmal vor, dass Insassen drei Wochen keinem Arzt aufgesucht werden. Sollte ein Insasse beim Aufenthalt im Freien sein, wird auch immer wieder äußerst unprofessionell von Anstaltsärzten festgestellt, dass er sodann ‚ohnehin keinen Arzt benötige, wenn er eh spazieren gehen kann‘. Auch werden wir Abteilungsbeamte – vor allem in Bezug auf Zanarztvisiten, welche maximal 14tägig stattfinden – häufig ersucht anzugeben, wer ein ‚Schmerzpatient‘ ist, um diese Insassen vorzureihen. Wir sind keine Ärzte, um eine derartige Triage durchzuführen. Zudem fallen die medizinischen Anliegen unter den Schutz der Privatsphäre des Insassen bzw die ärztliche Schweigepflicht.
Von den unten angeführten Abteilungsbeamten wird seit geraumer Zeit eine geschlossene Besprechung mit dem Anstaltsleiter bezüglich ‚Vorführung Fachdienste‘ gefordert. Leider war dies scheinbar bisher nicht möglich und haben die Abteilungsbediensteten dadurch einen wesentlich größeren Arbeitsaufwand, denn vorhandene Lösungsvorschläge unsererseits wurden bis dato nicht angehört.
Den Fachdiensten war es während des ‚Corona-Ausnahmezustandes‘ – trotz häufigen Ersuchens – speziell in der Abteilung 03KOM offensichtlich selten möglich, eine Arbeitserleichterung zu gewähren, indem sie ihre Zugangsgespräche direkt im Anschluss an den Rapport des Traktkommandanten durchführten, um Zeit und Wege zum Nutzen anderer dienstlicher Tätigkeiten zu ersparen.
Infrage zu stellen wäre auch, ob wir für jenen Teil der Insassen, der psychisch auffällig ist, eine adäquate Ausbildung haben, um sie entsprechend anzuhalten und zu betreuen (gesetzlich auch eine Aufgabe der Abteilungsbediensteten). Unser Klientel hat sich in letzter Zeit sehr verändert (Nationalität; Respekt vor der Uniform, also dem Staat gegenüber usw) und sind diese negativen Veränderungen in den Abteilungen stark zu spüren. Die unzähligen Verlegungen aufgrund Unverträglichkeit seien hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt.
Ein allgemeines Problem in unserer Anstalt ist, dass es oftmals keine Linie zu geben scheint. Dies erschwert auch die Arbeit mit den Insassen enorm, da gerade in ihrer Ausnahmesituation – welche die Haft unumstritten darstellt – die Orientierung an konstanten Entscheidungen dringend vonnöten wären. Auch wirken wir Abteilungsbedienstete zunehmend unglaubwürdig, wenn ständig neue Reglungen hervorgehen (zB offener Besuch, Arztvorführungen udgl).
Bezüglich Ausgänge gilt, dass die Insassen nun ausnahmslos alle ihre Effekten in die ho Effektenstelle zur vorübergehenden Verwahrung mitnehmen müssen (organisatorisch nahezu unmöglich), damit nichts abhanden kommt; weil das schon immer so war (Aussage Justizwachkommando). Dies entspricht nicht der Wahrheit. Die Abteilungsbeamten wurden über diese Änderung nicht informiert. Vor der Covid-Ausnahmesituation haben Ausgänge/Strafunterbrecher all ihre Effekten im Haftraum belassen und wurde ein sogenannter ‚Platzhalter‘ eingefügt.
Zur Informationsweitergabe sei gesagt, dass wir uns oft nicht ausreichend informiert fühlen. Wenn besonders gefährliche Insassen nach einem zB tätlichen Angriff auf JWB in einer anderen Justizanstalt nach JAK verlegt werden, liegt hier unseres Erachtens nach in erster Linie eine Bringschuld unserer Vorgesetzten vor und keine Holschuld der Abteilung.
Die einzige Ausbildung in Bezug auf Verteidigungs- und Abwehrtechniken liegt bei vielen von uns Jahrzehnte zurück (Justizwachschule). Seit Einführung des TES (nicht alle haben ihn bisher erhalten) gab es für niemanden eine Auffrischungsschulung. Auch dieser Sicherheitsaspekt sei nicht außer Acht gelassen, zumal unser Klientel in letzter Zeit körperlich massiv aggressiver wurde.
Ein weiterer Nachteil der mangelnden Ausbildung stellt die Verletzungsgefahr des Insassen dar, wenn Grifftechniken von uns fehlerhaft angewendet werden.
Eine weitere Erschwerung unseres täglich Dienstes stellt der Ausbildungsstand unserer ‚dienstjungen‘ KollegInnen dar. Die Einschulung funktioniert häufig sehr mangelhaft und fehlerbehaftet, was in weiterer Folge die Sicherheit gefährdet. Zudem wird unser Arbeitsaufwand zwecks Fehlerkorrektur wiederum erheblich mehr. Äußerst kontraproduktiv ist auch der Umstand, dass KollegInnen mit zweimonatiger Diensterfahrung gänzlich neue KollegInnen einschulen (ein Einzuschulender schult einen Einzuschulenden ein).
Im VZH ist folgender Satz zu lesen: ‚Die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung ist elementare Aufgabe der Justizwache.‘ Der Verlust der Kontrolle im Abteilungsdienst gehört mit zum ‚worst case‘. Denn herrscht ständige Unruhe in der Abteilung, ist die Sicherheit und Ordnung in der gesamten Anstalt nicht gegeben.
Dieses umfassende Schreiben zeigt massive Problemstellungen aus Sicht der Justizwachebeamten in der Justizanstalt Graz-Jakomini auf.
In diesem Zusammenhang stellen die unterfertigten Abgeordneten an Bundesministerin für Justiz folgende
Anfrage
1. Ist Ihnen die prekäre Situation, in der sich die Justizwachebeamten in der JA Jakomini offensichtlich befinden, bekannt?
2. Wenn ja, seit wann?
3. Wenn ja, in welchem Umfang?
4. Wenn ja, wie haben Sie davon Kenntnis erlangt?
5. Wenn ja, wie haben Sie bisher darauf reagiert?
6. Stehen Sie für einen Besuch bzw. für Gespräche mit Anstaltsleitung, Personalvertretung, Abteilungskommandanten und deren Stellvertreter sowie Belegschaft der Justizanstalt Graz-Jakomini zur Verfügung, um die geschilderten Problemstellungen mit den Betroffenen zu erörtern und etwaige Lösungsansätze vonseiten des Bundesministeriums für Justiz, die zur Verbesserung der Situation beitragen könnten, zu eruieren?
7. Wenn ja, bis wann stehen Sie dafür bereit?
8. Wenn ja, in welchem Umfang?
9. Wenn nein, warum nicht?
10. Sind Ihnen von anderen Justizanstalten ähnliche Wahrnehmungen bezugnehmend auf die Passage „Unser Klientel hat sich in letzter Zeit sehr verändert (Nationalität; Respekt vor der Uniform, also dem Staat gegenüber usw) und sind diese negativen Veränderungen in den Abteilungen stark zu spüren. Die unzähligen Verlegungen aufgrund Unverträglichkeit seien hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt.“ bekannt?
11. Wenn ja, seit wann?
12. Wenn ja, in welchem Umfang?
13. Wenn ja, wie haben Sie davon Kenntnis erlangt?
14. Wenn ja, wie haben Sie bisher darauf reagiert?
15. Welche Maßnahmen gibt es seitens des Bundesministerium für Justiz mehr Planstellen in den österreichischen Justizanstalten, insbesondere in der Justizanstalt Graz-Jakomini, zu schaffen?
16. Wie stellt sich die Personalsituation hinsichtlich unbesetzter Planstellen in den österreichischen Justizanstalten, insbesondere in der Justizanstalt Graz-Jakomini, dar?
17. Gibt es seitens des Bundesministerium für Justiz entsprechende Evaluierungen, Planungen oder Vorbereitungen die rechtlichen Grundlagen im Zusammenhang mit besonderen Sicherheitsmaßnahmen vor dem Hintergrund etwaiger Sanktionierungen für Insassen die sich ungebührlich verhalten zu ändern?
18. Wenn ja, seit wann?
19. Wenn ja, in welchem Umfang?
20. Wenn nein, warum nicht?
21. Welche Maßnahmen gibt es seitens des Bundesministerium für Justiz hinsichtlich der Verbesserung bzw. Optimierung der Ausbildung von neuen Justizwachebeamten sowie der Weiterbildung von Justizwachebeamten?