11949/J XXVII. GP

Eingelangt am 22.07.2022
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Anfrage

der Abgeordneten Dr. Stephanie Krisper, Kolleginnen und Kollegen

an die Bundesministerin für Justiz

betreffend Folgeanfrage Statistik Polizeigewalt

Schon seit mehreren Jahren üben internationale und nationale Organisationen sowie Expert_innen aus dem Menschenrechtsbereich Kritik am derzeitigen System der Untersuchung von Vorwürfen polizeilicher Misshandlung. Daran schließt sich auch eine Kritik an der generellen Folgenlosigkeit bei Beschwerden über polizeiliches Verhalten an. In manchen der wenigen medial kolportierten Fälle wurde bekannt, dass bei Fehlverhalten der Polizei disziplinarrechtliche Folgen ausblieben- selbst bei Verurteilungen.

So der Bericht des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe des Europarates (CPT) zu seinem Besuch in Österreich vom 22.9. bis 1.10.2014 (Para 20): 

 “[O]n the basis of the information gathered by the delegation during the visit and the relevant case-law of the European Court of Human Rights, the CPT has some doubts as to whether investigations carried out by investigators of the BAK – and even more so those carried out by criminal police officers of the regional police headquarters – against other police officers can be seen to be fully independent and impartial.”

Auch die abschließende Beobachtungen des UNO-Menschenrechtskomitees im fünften periodischen Bericht zu Österreich (angenommen in seiner 115. Sitzung, 19.10.-6.11.2015) (Para 21-22): 

 “The Committee is concerned at the low number of criminal convictions for the perpetrators of ill-treatment of detainees in police custody compared with the relatively high number of allegations. The Committee also remains concerned about the leniency of the sentences imposed in cases of ill-treatment of detainees by law enforcement officials […]. The State party should undertake an independent investigation into the reasons underlying the discrepancy between the low number of criminal convictions for ill-treatment in police custody and the relatively high number of allegations. It should also ensure prompt, thorough and impartial investigations and documentation, in accordance with the Istanbul Protocol, into all allegations of torture and ill-treatment. Perpetrators prosecuted and convicted should be subjected to sanctions commensurate with the gravity of their acts, and victims provided with effective remedies. The State party should also collect and make public information on the number and nature of reported incidents of torture and ill-treatment of detainees, disaggregated by age, gender and ethnic origin of victims, as well as on the convictions and types of sentences/sanctions imposed on perpetrators of such acts.”

Anlässlich der Aufarbeitung des mutmaßlichen polizeilichen Misshandlungsvorfalles am Freitag den 1.06.2019 im Zuge der Klima-Demonstration stellten wir eine parlamentarische Anfrage (3651/J) um den Umgang mit sowie die Statistik über Polizeigewalt innerhalb des BMVRDJ zu erfragen. Federführend bei der Einrichtung einer unabhängigen Stelle für die Aufarbeitung von Polizeigewalt ist das BMI. Seitens des BMI wird nun seit Jahren die Schaffung einer unabhängigen Stelle in Aussicht gestellt, konkrete Schritte wurden jedoch noch nicht gesetzt.

In der Beantwortung hat das BMVRDJ (3676/AB) aus Anlass der Anfrage eine Auswertung von Strafverfahren wegen §§ 83 ff iVm 312 f StGB gegen Polizeibeamte aus den elektronischen Registern der  Verfahrensautomation Justiz einholen lassen und die Ergebnisse als Beilage angeschlossen. Nachdem die Einrichtung einer unabhängigen Beschwerdestelle bisher nicht erfolgte, sind Anzahl der Strafverfahren gegen Polizeibeamte auch in den Jahren nach 2019 von wesentlicher Bedeutung.

Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgende

Anfrage:

 

  1. Für die Jahre 2020 und 2021 wird um folgende Daten aus den elektronischen Registern der  Verfahrensautomation Justiz (vgl. imfname_763532.pdf (parlament.gv.at)) gegliedert nach Bundesländern ersucht:
    1. Anzahl der Strafanzeigen gegen Polizeibeamten_innen wegen Misshandlungsvorwürfen. (aufgeschlüsselt nach einzelnen Delikten und Versuch- und Vollendungsstadium)
    2. Anzahl der Fälle von  Misshandlungsvorwürfen gegen Polizeibeamten_innen bei denen von der Einleitung eines Ermittlungsverfahren abgesehen wurde. (aufgeschlüsselt nach einzelnen Delikten und Versuch- und Vollendungsstadium)
    3. Anzahl der Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamten_innen wegen Misshandlungsvorwürfen die aufgrund der Anzeigen eingeleitet wurden. (aufgeschlüsselt nach einzelnen Delikten und Versuch- und Vollendungsstadium)
    4. Anzahl der Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamten_innen wegen Misshandlungsvorwürfen die nach der Einleitung des Ermittlungsverfahrens eingestellt wurden. (aufgeschlüsselt nach einzelnen Delikten und Versuch- und Vollendungsstadium)
    5. Anzahl der Verurteilungen von Polizeibeamten_innen wegen Misshandlungsvorwürfen. (aufgeschlüsselt nach einzelnen Delikten und Versuch- und Vollendungsstadium)
  1. Für Österreich erscheint die Kombination einer unabhängigen Ermittlungsstelle in Verbindung mit auf das Thema spezialisierten Staatsanwältinnen und Staatsanwälten sinnvoll, weil dies die Effizienz und Unabhängigkeit der Aufklärung von Fällen mutmaßlicher Polizeigewalt erheblich stärken würde. Sind hier Reformen angedacht? 
    1. Wenn ja, inwiefern?
    2. Wenn nein, weshalb nicht?
  1. Ist dem BMJ bekannt, dass sowohl die Artikel 12 - 14 der UNO-Konvention gegen Folter (CAT) als auch Artikel 3 EMRK gemäß der Rechtsprechung des EGMR alle Mitgliedstaaten dazu verpflichten, jede mögliche Verletzung dieser Bestimmung in möglichst effizienter Weise von einer unabhängigen Instanz zu untersuchen? 
    1. Wenn ja: Welche Maßnahmen wurden aufgrund dieses Wissens umgesetzt? 
    2. Wenn ja: Welche empfohlenen Maßnahmen wurden nicht umgesetzt und warum nicht? 
  1. Ist dem BMJ das Ergebnis der Arbeitsgruppe des Menschenrechtsbeirates (MRB alt) aus dem Jahre 2007 bekannt, in der alle im Laufe des Jahres 2004 an die Staatsanwaltschaft Wien gemeldeten Fälle behaupteter Misshandlung durch die Polizei untersucht wurden (insgesamt 146 Fälle) - mit dem Ergebnis der Feststellung, dass „das wesentliche Dilemma der gegenwärtigen Situation darin gesehen werden muss, dass die rasche und umfassende Untersuchung [zu Beginn durch das BIA] nicht unabhängig ist, und dass die unabhängige Untersuchung [welche in der Folge durch einen Staatsanwalt erfolgt] nicht rasch und umfassend ist“ („Die Polizei als Täter? Eine Analyse des Umgangs staatlicher Institutionen mit Misshandlungsvorwürfen”, S. 20)? 
    1. Wenn ja: welche Maßnahmen wurden aufgrund dieses Berichts umgesetzt? 
    2. Wenn ja: welche empfohlenen Maßnahmen wurden nicht umgesetzt und warum nicht? 
  1. Ist dem BMJ der Bericht des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) über seinen Besuch in Österreich vom 15. bis 25. Februar 2009 bekannt, in dem das CPT die österreichischen Behörden aufruft, „das gegenwärtige System zur Untersuchung von Vorwürfen polizeilicher Misshandlung im Lichte der Anmerkungen [der AG des MRB alt] einer Überprüfung zu unterziehen“ und dabei die relevanten vom CPT in seinem 14. Jahresbericht festgelegten Standards zu berücksichtigen? 
    1. Wenn ja: welche Maßnahmen wurden aufgrund dieses Berichts umgesetzt? 
    2. Wenn ja: welche empfohlenen Maßnahmen wurden nicht umgesetzt und warum nicht? 
  1. Ein Standard des CPT lautet: „Es ist unumgänglich, dass Strafverfolgungs- und Gerichtsbehörden entschlossen tätig werden, wenn Informationen beliebiger Art zutage treten, die auf eine Misshandlung hindeuten. Gleichfalls müssen sie Verfahren in einer Weise führen, die den betroffenen Personen eine echte Gelegenheit bietet, eine Aussage über die Art und Weise ihrer Behandlung zu machen“ (Para 28). Inwiefern hat das BMJ im derzeitigen Beschwerdesystem durch welche Verfahrensstandards darauf geachtet, diesen Standard des CPT, der die menschenrechtlichen Verpflichtungen Österreichs konkretisiert, mit all seinen genannten Aspekten als Verfahrensstandard umzusetzen (unter Angabe der vorgesehenen zeitlichen Nähe des Verfahrensschrittes zum Zeitpunkt der vermeintlichen Misshandlung)? 
    1. Wenn das BMJ obigen Standard nicht beachtet hat: warum nicht? 
  1. Ein Standard des CPT lautet: „Wenn [der] Grundsatz [dass effektive Untersuchungen, die zur Identifikation und Bestrafung der für Misshandlungen Verantwortlichen führen können, unbedingt erforderlich sind] respektiert werden soll, müssen die für Untersuchungen verantwortlichen Behörden sowohl personell als auch materiell mit allen nötigen Ressourcen ausgestattet werden (Para 31)“. Inwiefern hat das BMJ im derzeitigen Beschwerdesystem durch welche Verfahrensstandards darauf geachtet, diesen Standard des CPT, der die menschenrechtlichen Verpflichtungen Österreichs konkretisiert, mit all seinen genannten Aspekten als Verfahrensstandard umzusetzen (unter Angabe der vorgesehenen zeitlichen Nähe des Verfahrensschrittes zum Zeitpunkt der vermeintlichen Misshandlung)? 
    1. Wenn das BMJ obigen Standard nicht beachtet hat: warum nicht? 
  1. Ein Standard des CPT lautet: „Wenn eine Untersuchung möglicher Misshandlung effektiv sein soll, ist es unbedingt erforderlich, dass die für ihre Durchführung verantwortlichen Personen unabhängig sind von denjenigen, die in die Ereignisse verwickelt sind. [...] |Es] [ist] nicht ungewöhnlich, dass die laufende Verantwortung für die operative Durchführung von Ermittlungen auf im Dienst stehende Gesetzesvollzugsbeamte zurück übertragen wird. Die Beteiligung des Staatsanwalts erschöpft sich dann darin, diese Beamten damit zu beauftragen, Nachforschungen anzustellen, den Eingang des Ergebnisses zu bestätigen und zu entscheiden, ob strafrechtliche Anklagen erhoben werden sollen oder nicht. Es ist wichtig sicherzustellen, dass die betroffenen Beamten nicht demselben Dienst entstammen wie diejenigen, deren Verhalten untersucht wird. Idealerweise sollten diejenigen, die mit der operativen Durchführung der Untersuchung beauftragt sind, völlig unabhängig von der betroffenen Dienststelle sein. Des weiteren müssen die Strafverfolgungsbehörden eine enge und wirksame Aufsicht über die operative Durchführung von Ermittlungen ausüben, die sich auf eine mögliche Misshandlung durch Amtspersonen richtet“ (Para 32). Inwiefern hat das BMJ im derzeitigen Beschwerdesystem durch welche Verfahrensstandards darauf geachtet, diesen Standard des CPT, der die menschenrechtlichen Verpflichtungen Österreichs konkretisiert, mit all seinen genannten Aspekten als Verfahrensstandard umzusetzen (unter Angabe der vorgesehenen zeitlichen Nähe des Verfahrensschrittes zum Zeitpunkt der vermeintlichen Misshandlung)? 
    1. Wenn das BMJ obigen Standard nicht beachtet hat: warum nicht? 
  1. Ein Standard des CPT lautet: "Eine Untersuchung möglicher Misshandlung durch Amtspersonen muss das Kriterium der Gründlichkeit erfüllen. Sie muss geeignet sein, zu einer Entscheidung darüber zu führen, ob Gewalt oder andere angewandte Methoden unter den jeweiligen Umständen gerechtfertigt waren oder nicht, zur Identifizierung und in geeigneten Fällen zur Bestrafung der Betroffenen. Diese Verpflichtung richtet sich nicht auf ein bestimmtes Ergebnis, sondern auf die eingesetzten Mittel. Sie erfordert, dass alle vernünftigen Schritte unternommen werden, um Beweise über den Vorfall zu sichern, so unter anderem die vorgeblichen Opfer, Verdächtigen und Augenzeugen (z. B. Polizeibeamte im Dienst, andere inhaftierte Personen) zu identifizieren und zu vernehmen, Instrumente zu beschlagnahmen, die möglicherweise für Misshandlungen verwendet wurden, und Spuren zu sichern“ (Para 33). Der Erlass des BMVRDJ JMZ 880014L/10/II3/09 vom 6.11.2009 konkretisiert zur Vorgangsweise bei Misshandlungsvorwürfen gegen Organe von Sicherheitsbehörden: „Vor einer Berichterstattung [vonseiten der Exekutive an die Staatsanwaltschaft] sind jedoch gegebenenfalls die unaufschiebbaren notwendigen Maßnahmen zur Beweissicherung zu ergreifen (bildliche Dokumentation der Verletzungsspuren; Sicherung sonstiger Spuren, Objektivierung des Geschehensablaufs unter Einschluss der Tatortbeschreibung und des zwischen Tat und Erhebung des Vorwurfs verstrichenen Zeit, Ausforschung und Feststellung der in Betracht kommenden Organe und allenfalls unbeteiligter Zeugen, etc.). In diesem Bericht sind auch die weiteren beabsichtigten Ermittlungsschritte anzuführen, insbesondere auch die Reihenfolge der beabsichtigten Vernehmungen. Von dringlichen Ermittlungsmaßnahmen, die der staatsanwaltschaftlichen Anordnung (bzw. auch einer gerichtlichen Bewilligung) bedürfen, ist die zuständige Staatsanwaltschaft unverzüglich (im Journal) zu verständigen. [...] Besonderes Augenmerk ist auf die Ausforschung möglicher unbeteiligter Zeugen des Vorfalls zu legen (etwa auch durch Auswertung des Bildmaterials, das im Zuge der Aufnahme einer Demonstration gewonnen wurde; siehe dazu § 54 Abs. 5 bis 7 SPG).” Inwiefern hat das BMJ im derzeitigen Beschwerdesystem durch welche Verfahrensstandards darauf geachtet, diesen Standard des CPT und diese Vorgaben des Erlasses, die die menschenrechtlichen Verpflichtungen Österreichs konkretisieren, mit all seinen genannten Aspekten als Verfahrensstandard umzusetzen (unter Angabe der vorgesehenen zeitlichen Nähe des Verfahrensschrittes zum Zeitpunkt der vermeintlichen Misshandlung)? 
    1. Wenn das BMJ obigen Standard nicht beachtet hat: warum nicht? 
  1. Ein Standard des CPT lautet: „Um effektiv zu sein, muss die Untersuchung auch prompt und verhältnismäßig zügig durchgeführt werden“, damit die "Untersuchung" es „verdient, als eine solche bezeichnet zu werden“ (Para 35). Der Erlass des BMVJRDJ JMZ 880014L/10/II3/09 vom 6.11.2009 konkretisiert zur Vorgangsweise bei Misshandlungsvorwürfen gegen Organe von Sicherheitsbehörden: „Nach Berichterstattung [an die Staatsanwaltschaft] hat die Kriminalpolizei grundsätzlich die Ermittlungen voranzutreiben, ohne eine ausdrückliche Anordnung der Staatsanwaltschaft zur Durchführung weiterer Ermittlungen abwarten zu müssen. Solche hat sie nur dann nicht vorzunehmen, wenn die Staatsanwaltschaft etwas anderes anordnet oder die Ermittlungen ganz oder teilweise (§ 103 Abs. 2 StPO) an sich zieht.” Inwiefern hat das BMJ im derzeitigen Beschwerdesystem durch welche Verfahrensstandards darauf geachtet, diesen Standard des CPT und diese Vorgaben des Erlasses, die die menschenrechtlichen Verpflichtungen Österreichs konkretisieren, mit all seinen genannten Aspekten als Verfahrensstandard umzusetzen (unter Angabe der vorgesehenen zeitlichen Nähe des Verfahrensschrittes zum Zeitpunkt der vermeintlichen Misshandlung)? 
    1. Existiert der zitierte Erlass noch in dieser Fassung?
    2. Wenn das BMJ obigen Standard nicht beachtet hat: warum nicht?
  1. Ein Standard des CPT lautet: „Jegliches Beweismaterial für eine Misshandlung durch Amtspersonen, die in Zivilprozessen zutage [tritt], verdient gleichfalls sorgfältige Prüfung. [...] Eine solche Überprüfung sollte zu einer Entscheidung darüber führen, ob in Anbetracht der Natur und der Schwere der Beschwerden gegen die betroffenen Polizeibeamten die Frage der Einleitung eines Disziplinar- oder Strafverfahrens (erneut) erwogen werden sollte“ (Para 40). Inwiefern hat das BMJ im derzeitigen Beschwerdesystem durch welche Verfahrensstandards darauf geachtet, diesen Standard des CPT, der die menschenrechtlichen Verpflichtungen Österreichs konkretisiert, mit all seinen genannten Aspekten als Verfahrensstandard umzusetzen (unter Angabe der vorgesehenen zeitlichen Nähe des Verfahrensschrittes zum Zeitpunkt der vermeintlichen Misshandlung)? 
    1. Wenn das BMJ obigen Standard nicht beachtet hat: warum nicht? 
  1. Welchen Verbesserungsbedarf sieht das BMJ im Rahmen des polizeilichen Ermittlungsverfahrens bei Verfahren gegen Polizeibeamt_innen? 
  2. Welchen Verbesserungsbedarf sieht das BMJ im Rahmen des staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens bei Verfahren gegen Polizeibeamt_innen?