13226/J XXVII. GP

Eingelangt am 13.12.2022
Dieser Text wurde elektronisch übermittelt. Abweichungen vom Original sind möglich.

Anfrage

 

der Abgeordneten Ewa Ernst-Dziedzic, Freundinnen und Freunde an den Bundesminister für europäische und internationale Angelegenheiten

betreffend Völkerrechtswidrige türkische Militäroffensive in Nordostsyrien und im Nordirak und die damit in Verbindung stehende Gefahr des Erstarkens des IS-Terrors

BEGRÜNDUNG

 

Die gegenwärtigen militärischen Angriffe der Türkei auf militärische wie auch zivile Einrichtungen in Nordostsyrien sowie im Nordirak stellen unzweifelhaft Verstöße gegen das Völkerrecht dar. Die in den vergangenen Tagen durchgeführten Zerstörungen von ziviler Infrastruktur, Energienetzwerken, Wassertanks und Ölfeldern mit Kampfflugzeugen und Drohnen haben nichts mit einer Anti-Terrormission, sondern vielmehr mit einem Angriffskrieg und einer Eroberungsabsticht zu tun. Dafür sprechen auch die Aussagen von Präsident Erdogan eine Bodenoffensive starten zu wollen. Der Rückgriff auf den verheerenden Bombenanschlag in Istanbul als Rechtfertigung, noch bevor die Ermittlungen nach rechtsstaatlichen Prinzipien zu Ende geführt wurden, lässt große Zweifel aufkommen und rechtfertigt in absolut keiner Form die kriegerische Gewalt.

Es handelt sich gegenwärtig um die bereits vierte große Militäroperation in Syrien seit dem Einmarsch in Jarablus im August 2016, der Eroberung der kurdischen Region Afrin im Januar 2018 und der Besatzung eines Streifens östlich des Euphrats im Oktober 2019.

Der drohende Einmarsch ist dezidiert gegen die kurdische Bevölkerung gerichtet und ein weiterer Schritt der Eskalation der massiven Repression insbesondere gegen KurdInnen, aber auch gegen andere Oppositionelle, Regierungskritiker:innen, Journalist:innen und Menschenrechtsaktivist:innen auch im eigenen Land. Insbesondere die völkerrechtswidrige türkische Operation „Olivenzweig“ 2018 und
die dabei erfolgte Eroberung und Besetzung von Afrin, zeigten, dass im Fall bzw. in der Folge eines Einmarschs mit Gewalt, Unterdrückung, Vertreibungen, Verfolgung von ethnischen und religiösen Minderheiten durch die türkische Armee oder von
dieser geduldeten Milizen zu rechnen wäre. Die Repressionen betrafen dabei nicht
nur Kurd:innen sondern auch Alevit:innen und Jesid:innen, die teilweise zwangskonvertiert und deren religiöse Stätten zerstört wurden.

Darüber hinaus wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Vorwürfe gegen die türkische Regierung erhoben, sie setze chemische Kampfstoffe gegen die PKK im Nordirak sowie die YPG in Nordostsyrien ein. Die Indizien, die von kurdischer Seite vorgebracht werden, beziehen sich auf Chlorgas, Phosphor sowie Tränengas. Die Friedensorganisation „International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW)” wertet bereits den von türkischer Seite zugegebenen Einsatz von
Tränengas in einer rein militärischen Auseinandersetzung als eindeutigen Verstoß gegen die Chemiewaffenkonvention und verlangt eine umfassende Untersuchung durch die Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW).

Eine solche Untersuchung schlug vor wenigen Wochen auch die Vorsitzende der türkischen Ärztevereinigung, Sebnem Korur Fincanci, vor. Wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 31.10.2022 berichtet, wurde sie von einer Antiterroreinheit der türkischen Polizei in ihrer Wohnung wegen der „Verbreitung von Terrorpropaganda“ verhaftet. „Den Anlass gab dazu ein Fernsehinterview, in dem
sich Fincanci zur Diskussion äußerte, ob die türkische Armee bei ihrem jüngsten Einsatz im Irak gegen die PKK möglicherweise Chemiewaffen eingesetzt habe.
Dabei sagte die erfahrene Gerichtsmedizinerin, bei der Auswertung aller verfügbaren Videos und Fotos sei sie zum Schluss gekommen, dass die Körperbewegungen der gezeigten Personen unfreiwillig erfolgt seien. Das deute sie als Hinweis darauf, dass deren Nervensystem zuvor beeinflusst worden sein könnte. Sie schlug vor, untersuchen zu lassen, ob giftige Gase zum Einsatz gekommen sind
“, schreibt
Rainer Hermann in der FAZ.

Darüber hinaus besteht ein gravierendes überregionales Sicherheitsproblem. Aufgrund der heftigen Angriffe haben die Syrischen Demokratischen Streitkräfte
(SDF) den gemeinsamen Anti-Terror-Einsatz mit der US-Koalition beendet. Dadurch steigt die Gefahr von Ausbrüchen der zehntausenden festgehaltenen IS-Terroristen massiv an. Bei einem Angriff auf einen Checkpint des Al-Hol Camps, in dem 57.000 IS-Kämpfer und ihre Angehörigen festgehalten werden, wurden am 23. November 9 SDF-Soldaten, die das Camp bewachten, getötet. Einige Familien konnten Berichten zu Folge flüchten, wurden aber wieder festgenommen. Dieser Vorfall zeigt auf, dass für Syrien, den Irak und die gesamte Region, aber gerade auch für Europa, durch die türkischen Militäraktionen eine sicherheitspolitische Katastrophe droht, wenn zehntausende IS-Kämpfer freikommen und sich neu organisieren könnten.


 

Die unterfertigenden Abgeordneten stellen daher folgende

ANFRAGE

 

1)    Inwieweit kann sich nach Kenntnis des Bundesministeriums für Europäische und Internationale Angelegenheiten (BMEIA) die Türkei im Zusammenhang mit ihren militärischen Angriffen auf Ziele in Nordostsyrien sowie im Nordirak auf das Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffs i. S. d. Artikels 51 der VN-Charta berufen?

 

2)    Welche Kenntnisse hat das Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten (BMEIA) betreffend Indizien für Verstöße der Türkei gegen die Chemiewaffenkonvention auf dem Staatsgebiet Syriens bzw. des Iraks? Bitte um detaillierte Auflistung nach Datum, Ort, Art des Angriffs.

 

3)    Wertet das BMEIA den vom türkischen Verteidigungsminister selbst zugegeben Einsatz von Tränengas in der militärischen Auseinandersetzung als einen Verstoß gegen die Chemiewaffenkonvention?

 

4)    Setzt sich das BMEIA für eine unabhängige Untersuchung durch die Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) ein?

a.    Wenn nein, warum nicht?

b.    Wenn ja, welche Schritte wurden in welchen Gremien dafür unternommen bzw. sind geplant?

 

5)    Die Verhaftung der Vorsitzenden der türkischen Ärztevereinigung und einer der bekanntesten Menschrechtsaktivistinnen des Landes, Sebnem Korur Fincanci, aufgrund ihrer Forderung nach einer Untersuchung der indirekten Indizien für mögliche Verletzungen der Chemiewaffenkonvention stellt einen weiteren Beleg für die radikale Einschränkung jeder Form von Kritik bzw. freier Meinungsäußerung dar. Gab es von Seiten des BMEIA auf bilateraler oder europäischer Ebene Kritik am Vorgehen der türkischen Behörden bzw. wird die Freilassung aktiv gefordert?

 

6)    Welche politischen bzw. wirtschaftlichen Konsequenzen werden von Seiten des BMEIA in Anbetracht der türkischen Angriffe auf

a.    bilateraler,

b.    europäischer,

c.    und internationaler Ebene gezogen bzw. als Reaktion vorgeschlagen?

 

7)    Vor dem Hintergrund der türkischen Militäroffensive in Nordsyrien wurde 2019 auf europäischer Ebene ein Waffenembargo diskutiert, dass Sie als Außenminister unterstützten.

a.    Gibt es gegenwärtig auf europäischer Ebene Diskussionen über ein solches Embargo?

b.    Wenn nein, in welchen Gremien werden Sie eine entsprechende Diskussion anstoßen?

 

8)    Vor dem Hintergrund der ausstehenden Ratifizierung der NATO-Beitritte von Schweden und Finnland durch die Türkei, wird in den Medien diskutiert, ob die verhältnismäßig zurückhaltende Reaktion der EU auf die militärischen Angriffe der Türkei damit in Verbindung steht.

a.    Wodurch unterscheidet sich die Reaktion der EU qualitativ im nun vorliegenden Fall von der im Oktober 2019?

b.    Gibt es bzw. gab es im Falle der türkischen Angriffe einen etablierten formellen oder informellen Austausch mit den anderen neutralen Mitgliedsstaaten der EU?

 

9)    Wie beurteilen Sie die Sicherheitslage in Bezug auf die Gefängnisse bzw. Camps in Nordostsyrien, in denen zehntausende ehemalige IS-Kämpfer bzw. deren Angehörige von kurdischen Sicherheitskräften festgehalten werden?

 

10)  Wie viele Österreicher:innen sind als sogenannte IS-Unterstützer:innen Ihres Wissens nach in den entsprechenden Camps festgehalten? Bitte um Auflistung wie viele Männer, Frauen und Kinder darunter sind?

 

11)  Gibt es einen bestehenden Kontakt zu den österreichischen Staatsbürger:innen bzw. wie ist geplant in Anbetracht der angespannten Sicherheitssituation dem Schutz der eigenen Bürger:innen nachzukommen und insbesondere Frauen und Kinder aus den Lagern nach Österreich zurück zu holen?

 

12)  Welche Daten liegen Ihnen von unseren EU-Partnern betreffend die Rückholung von eigenen Staatsbürger:innen aus den Lagern in Nordostsyrien vor? Bitte um Aufschlüsselung, wie viele Männer, Frauen und Kinder pro Land zurückgeholt wurden und wie viele der zurückgeholten Staatsbürger in Haft sind bzw. sich in laufenden gerichtlichen Verfahren befinden.