14620/J XXVII. GP

Eingelangt am 24.03.2023
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Anfrage

 

der Abgeordneten Mag.a Selma Yildirim, Genossinnen und Genossen

an die Bundesministerin für Justiz

 

betreffend Jugendvollzug

 

„Junge Menschen sollen möglichst nicht in Haft genommen werden“, schreibt die Volksanwaltschaft in ihrem aktuellen Bericht „Jugend in Haft“.[1] Die Volksanwaltschaft empfiehlt abgesehen davon spezielle Einrichtungen für Jugendliche, die möglichst klein angelegt sein sollen.

Das Thema Jugend und Haft sorgt in Österreich immer wieder für mediale, politische und wissenschaftliche Aufmerksamkeit. So kam es in den frühen Nullerjahren zu einem dramatischen Anstieg der Gefangenenpopulation, wobei vor allem Jugendliche davon betroffen waren. Die Steigerung der Häftlingszahlen für Jugendliche fiel mit der äußerst umstrittenen Maßnahme der damaligen schwarz-blauen Bundesregierung und des Justizministers Dr. Dieter Böhmdorfer zusammen, den Jugendgerichtshof samt der dazugehörigen Justizanstalt Erdberg aufzulösen.

Nach dramatischen Vorfällen von Misshandlungen an jugendlichen Häftlingen durch Mithäftlinge im Jahr 2013 wurde vom Bundesministerium für Justiz eine interdisziplinäre Gruppe von Expertinnen und Experten („Taskforce“, „Runder Tisch“) aus den Bereichen Strafvollzugsverwaltung, Jugendgerichtsbarkeit, Jugendstaatsanwalt, Kriminalpolizei, Kinder- und Jugendhilfe, Kinder- und Jugendanwaltschaft, Bewährungshilfe, Jugendgerichtshilfe sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie eingesetzt, um Reformempfehlungen im Hinblick auf die Vermeidung, Verkürzung und Vollziehung von Untersuchungshaft bei Jugendlichen zu erarbeiten. Unter den Mitgliedern dieser Runde konnte schnell ein Konsens darüber erzielt werden, Untersuchungshaft bei Minderjährigen nur in unbedingt notwendigen Fällen vorzusehen.

Ende 2015 beschloss der Nationalrat dann mit den Stimmen SPÖ und ÖVP eine vom Justizressort eingebrachte Novelle des Jugendgerichtsgesetztes (JGG), mit der der Ausnahmecharakter der Untersuchungshaft verstärkt sowie eine gesetzliche Grundlage für die Sozialnetzkonferenzen und eine bundesweit tätig werdende Jugendgerichtshilfe geschaffen wurde. Die Reform dehnte zudem die Kostentragung für betreutes Wohnen aus und erweiterte den Anwendungsbereich der meisten Bestimmungen des JGG auf junge Erwachsene.

Die möglichst rasche Einsetzung der Sozialnetzkonferenzen empfiehlt die Volksanwaltschaft weiterhin in ihrem aktuellen Bericht.

 

Durch das Gewaltschutzgesetz 2019 von ÖVP und FPÖ kam es zu einer drastischen Verschlechterung der Rechtslage für „junge Erwachsene“. Vergeblich gab es dazu zahlreiche Stellungnahmen von Institutionen und ExpertInnen, die vor dieser Rücknahme der Verbesserungen warnten, die seinerzeit die Vorschläge der Jugend-Taskforce und deren Umsetzung gebracht hatten.

Es wurde zurecht darauf hingewiesen, dass mit dieser Verschärfung die positiven Entwicklungen der letzten Jahre gestoppt würden und damit mit einer höheren Rückfallsquote zu rechnen sei. Mehr Rückfälle bedeuten mehr Opfer, weniger Sicherheit und weiter steigende Kosten.

Wenn man sich die gegenwärtigen Vergleichszahlen von Staaten des Europarates anschaut, gehört Österreich mit 1,3% Jugendanteil aller Inhaftierten zu den Ländern in Europa mit dem höchsten Anteil an inhaftierten Jugendlichen, gemessen an der gesamten Haftpopulation (Stand: 2019). Auch bei der Quote pro 100.000 Jugendliche ist Österreich mit 34,35 im negativen oberen Spitzenfeld anzusiedeln.

 

Ein weiteres Problem stellt nach Ansicht der unterzeichnenden Abgeordneten jenes dar, dass es derzeit kein geeignetes Modell dafür gibt, wie man in Österreich mit „besonders schwierigen Jugendlichen“ umgeht. Nach Ansicht der ExpertInnen der damaligen Jugendtaskforce handelte es sich dabei jährlich um überschaubare Zahlen (bundesweit maximal 200-300 Jugendliche).

Für diese Jugendlichen scheint weder die bisherige Form der Jugendhaft noch die Form der betreuten Wohngemeinschaften, die jederzeit ganz einfach verlassen werden können, der geeignete Weg zu sein. Seit Jahren gibt es unter ExpertInnen und VertreterInnen von Bund und Ländern Diskussionen darüber, wie eine sozialpädagogische Einrichtung geschaffen werden könnte, die für diese Jugendlichen geeignet ist.

 

Die einzige Jugendstrafanstalt Gerasdorf ist ein Modell der 1970er Jahre und nicht mehr ausreichend für die heutigen Bedürfnisse geeignet. Zum einen kritisiert die Volksanwaltschaft u.a. überalterte Betriebe, die dringend modernisiert werden müssten. Mit Umbauarbeiten zu einem Jugendkompetenzzentrum wurde auch begonnen, diese Arbeiten wurden aber – offenbar aus finanziellen Gründen – eingestellt.[2]

Zum anderen aus geographischen Gründen: eine einzige derartige Anstalt für ganz Österreich – in verkehrsungünstiger Lage in Niederösterreich gelegen – bedeutet vor allem für Angehörige aus den westlichen und südlichen Bundesländern eine außerordentlich schwierige Situation, wenn man einen Jugendlichen besuchen will. Die „Space-Studie“ des Europarates legt nahe, dass diese Situation dazu führt, dass Jugendliche auch in anderen Justizanstalten, die nicht für die spezifischen Bedürfnisse Jugendlicher konzipiert sind, untergebracht werden.[3]

Es wären dringend drei bis vier Einrichten – aufgeteilt auf ganz Österreich – notwendig. Die Schwerpunkte derartiger Jugendkompetenzzentren liegen in den Bereichen Lernen und Entwicklung mit konstanten Bezugspersonen. Durch die Auseinandersetzung mit dem delinquenten Verhalten, dem Erlernen neuer Handlungskompetenzen und der Schaffung von Zukunftsperspektiven werden die Voraussetzungen für ein straffreies Leben geschaffen.

Zum anderen wäre der sozialpädagogische Charakter dieser Einrichtung - im Vergleich zu Gerasdorf - eindeutig zu stärken. Dort sollte nach einem sozialpädagogischen Konzept unter großzügigem Einsatz von SozialarbeiterInnen und PsychologInnen Betreuungsformen gefunden werden, die verhindern, dass Jugendliche künftig eine „kriminelle Karriere“ beschreiten.

 

Eine andere Möglichkeit wäre, im Bereich der „Jugendwohlfahrt“ neue Formen der betreuten Wohngemeinschaften zu schaffen, in denen anders als bisher ein dauerhafter Verbleib der Jugendlichen erreicht wird. Diese Variante ist allerdings aus rechtlichen und wohl auch finanziellen Gründen (hoher zusätzlicher Finanzeinsatz durch die Bundesländer) schwierig und wenig realistisch. Deshalb scheint der oben dargelegte Lösungsansatz im Bereich der Justiz der realistischere und damit sinnvollere.

Ziel sollte es jedenfalls sein, dass Modelle für die betreffenden Jugendlichen gefunden werden, die die Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten durch diese minimieren.

 

Die unterzeichneten Abgeordneten richten daher an die Bundesministerin für Justiz folgende

 

Anfrage

 

1.    Wie haben sich die Inhaftierungsraten Jugendlicher in Österreich in den vergangenen 20 Jahren entwickelt? Mit der Bitte um Aufschlüsselung nach Jahren und Geschlecht.

2.    Wie hoch ist der Anteil der Jugendlichen an der Haftpopulation und wie haben sich diese Zahlen in den vergangenen 20 Jahren entwickelt?

3.    Wie hoch ist der Anteil der Jugendlichen in Haft pro 100.000 Jugendlichen und wie haben sich diese Zahlen in den vergangenen 20 Jahren entwickelt?

4.    Wie alt sind die inhaftierten Jugendlichen?

5.    Wie lange sind die Jugendlichen durchschnittlich in Haft?

6.    Sind in der Justizanstalt für Jugendliche in Gerasdorf mit ihren 122 Plätzen in den vergangenen zehn Jahren ausreichend Plätze zur Verfügung gestanden?

7.    Kam es bezüglich der Plätze zu Engpässen? Wenn ja, wie wurde das gelöst?

8.    In welchen anderen Justizanstalten werden Jugendliche untergebracht und in welcher Größenordnung? Mit der Bitte um Aufschlüsselung der vergangenen zehn Jahre.

9.    Kann das Angebot an Schulbildung und Ausbildung für alle Häftlinge garantiert werden?

10. Wie hat sich die Zahl der Schüler und Lehrlinge in den vergangenen zehn Jahren entwickelt?

11. Wie hoch liegen die Abschlussquoten?

12. Gibt es seitens Ihres Ministeriums Pläne, den Jugendvollzug umzustrukturieren und wenn ja in welcher Form?

13. Gibt es Pläne, den Jugendvollzug in Gerasdorf aufzulassen? Wenn ja, bis wann?

14. Wurden die Pläne, die Justizanstalt Gerasdorf zu einem Jugendkompetenzzentrum umzubauen endgültig aufgegeben?

a)    Wie hoch wären die Kosten für diesen Umbau gewesen?

b)    Wie viel Geld ist bereits in den begonnenen Umbau geflossen?

15. Gibt es Pläne, an einer anderen Justizanstalt den Jugendvollzug anzusiedeln?

a)    Wenn ja, an welcher?

b)    Bis wann?

c)    In welcher Größenordnung (wie viele Plätze)?

16. Gib es Pläne, eine eigene neue Jugendvollzugsanstalt zu schaffen?

a)    Wenn ja, wo?

b)    Bis wann?

c)    In welcher Größenordnung (wie viele Plätze)?

17. Wie beurteilen Sie generell die vergleichsweise hohe Inhaftierungsrate von Jugendlichen in Österreich?

18. Wenn Sie diese als zu hoch erachten: Welche Maßnahmen gedenken Sie zu setzen, um diese Rate im Interesse der Sicherheit zu senken?

19. Wenn Sie diese als zu hoch erachten: Welche Maßnahmen haben Sie bereits gesetzt, um diese Rate im Interesse der Sicherheit zu senken?

20. Sind Sie der Auffassung, dass die Jugendstrafanstalt Gerasdorf – trotz sehr kompetenter und engagierter JustizwachebeamtInnen – aus den in der Begründung genannten Gründen nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist?

21. Wie beurteilen Sie die Perspektive, dass man drei bis vier sozialpädagogische Zentren für die betroffenen „schwierigen Jugendlichen“ in Österreich einrichtet?

22. Wie stehen Sie zur Notwendigkeit, dass in diesen sozialpädagogischen Zentren ein großzügiger Einsatz von SozialarbeiterInnen und PsychologInnen erfolgt und sind Sie bereit, Schritte in diese Richtung zu setzen?

23. Welches Modell streben Sie an, um das Ziel zu erreichen, dass die Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten durch diese betroffenen Jugendlichen minimiert wird?

24. Welche weiteren Reformen im Bereich des Jugendstrafrechts streben Sie an?



[1] Vgl. Bericht der Volksanwaltschaft an den Wiener Landtag 2021

[2] Vgl.: Bericht der Volksanwaltschaft an den Wiener Landtag 2021, S. 36.

[3] Vgl.: SPACE-I_2021_FinalReport.pdf (unil.ch), S. 35.