15400/J XXVII. GP

Eingelangt am 21.06.2023
Dieser Text ist elektronisch textinterpretiert. Abweichungen vom Original sind möglich.

Anfrage

der Abgeordneten Petra Bayr, MA, MLS, Genossinnen und Genossen

an den Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz

betreffend Was unternehmen Sie gegen „Reparativtherapie" an Autist*innen?

Etwa eine*r von 36 Menschen ist Autist*in,[1] das sind in Österreich über 250.000 Menschen.

Ein "Therapieangebot" für Autist*innen, das bereits bei sehr kleinen Kindern angewandt wird, ist die Applied Behavioral Analysis (ABA). ABA wird auch in Österreich an vielen Einrichtungen und von Therapeut*innen angeboten und ist in den USA, Großbritannien und Australien[2] fundierter Kritik ausgesetzt. Diese Kritik stellt den breiten Einsatz und die öffentliche Förderung dieser Methode grundlegend in Frage. ABA hat konkrete und schwerwiegende negative Auswirkungen auf
Autist*innen, die dieser Behandlung ausgesetzt sind und waren.[3]

Als Begründer der ABA gilt Ivar Lovaas, ein norwegisch-amerikanischer Psychologe und Professor an
der University of California, Los Angeles (UCLA). Er vertrat die Meinung, dass autistische Kinder keine richtigen Menschen seien, wie unter anderem dieses Zitat belegt: "Sehen Sie, wenn man mit einem autistischen Kind arbeitet, fängt man so ziemlich bei null an. Man hat eine Person im körperlichen
Sinn - sie haben Haare, eine Nase und einen Mund aber sie sind keine Personen im psychologischen Sinne. Eine Möglichkeit die Arbeit mit autistischen Kindern zu betrachten ist, sie als Konstruktion
einer Person zu sehen. Man hat das Rohmaterial, aber man muss
die Person erst bauen."[4]

Lovaas entwickelte eine Methode zum "Aufbau der Person" und nannte sie Applied Behavioral Analysis. Er empfahl, 40 Stunden ABA-Therapie pro Woche für autistische Kinder. Eines seiner wichtigsten Ziele war es, ihr Verhalten so zu formen und zu gestalten, dass sie nach außen hin mehr wie "normal entwickelte" Kinder aussehen und wirken würden. Lovaas war der Meinung, dass autistische Kinder nur durch ABA in der Lage sind, etwas zu lernen und empfahl harte, schmerzhafte und unethische Techniken, wie z.B. das Vorenthalten von Zuneigung und Nahrung, körperliche Bestrafungen und Elektroschocks.

Lovaas war ebenfalls maßgeblich am "Feminine Boy Project" beteiligt, das enge Verbindungen zu
jenen Methoden aufweist, die heute als Konversionstherapie für queere Personen bekannt sind. Der Psychologe George Rekers, eine Schlüsselfigur in der Welt der Konversionstherapie (und
Mitbegründer des queerfeindlichen Family Research Council), verwendete Lovaas Techniken zur "Behandlung" des sogenannten "abweichenden Geschlechtsrollenverhaltens" bei männlichen
Kindern. ABA wird deswegen manchmal auch als "autistische Konversionstherapie" bezeichnet.[5]

Der Nationalrat hat sich im Juni 2021 einstimmig für ein Verbot von Konversions- und "reparativen" Therapieformen an Minderjährigen ausgesprochen, nachdem er bereits 2019 eine Entschließung zum Thema gefasst hatte. Bis heute wurde das Gesetz zu dieser Entschließung nicht vorgelegt.

Autist*innen sind aufgrund sozialer Konventionen oft dazu gezwungen, sich nicht so zu verhalten,
wie es für sie selbst kurz- und langfristig gesund wäre, sondern sich
in die Verhaltensweisen der
nicht-autistischen Mehrheitsgesellschaft einzufügen. Ein abweichendes Verhalten hat nicht selten
soziale Konsequenzen, wie z.B. den Ausschluss aus Gruppen. Viele autistische Verhaltensweisen, die
von ABA als „änderungsbedürftig" wahrgenommen werden, dienen der Regulierung des
Nervensystems oder sind Auswirkungen von Besonderheiten
in der Wahrnehmung.

Autist*innen im Speziellen und neurodivergenten Personen[6] im Allgemeinen wird "Maskierung" ihrer natürlichen Verhaltensweisen auch durch andere gängige verhaltenspädagogische Ansätze gelehrt
und aufgezwungen, wie zum
Beispiel durch die "sensorische Integration"[7].

All diese Methoden berücksichtigen nicht, dass ein Unterdrücken von Verhaltensweisen kurzfristig möglich sein kann, aber langfristig zu einer hohen Stressbelastungen führt, die mit sehr hohen gesundheitlichen Kosten verbunden ist (z. B. Depression, Angststörungen, Posttraumatische Belastungsstörung, Burnout).

Die Lebenserwartung von Autist*innen ist im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um
durchschnittlich 16 Jahre niedriger.[8] Die Suizidalität ist in der autistischen Bevölkerung höher als in
der Allgemeinbevölkerung: 66 Prozent der Autist*innen haben Suizidgedanken, verglichen mit 17
Prozent in der Allgemeinbevölkerung.[9] Bei autistischen Kindern, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie Selbstmordgedanken haben, doppelt so hoch wie bei neurotypischen Kindern.[10]

ABA zielt einzig darauf ab, Autist*innen zu konditionieren, ihr natürliches Verhalten abzulegen. Das
ist eine autismusfeindliche, diskriminierende und letztlich grausame Haltung.

Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgende

ANFRAGE

1.       Welche Unterstützungsleistungen und Einrichtungen für neurodivergente Menschen, im Besonderen Autist*innen, gibt es in Österreich?

a)       Wie wird die Wirksamkeit der jeweiligen Unterstützungsleistung evaluiert?

b)      Werden die Menschen, die diese Leistungen und Services nützen, in die Evaluierung der Unterstützungsleistungen und Einrichtungen miteinbezogen?

c)       Wird dabei unterschieden zwischen Menschen, die die Leistungen und Services für sich selbst nützen, und Menschen, die die Wirksamkeit bloß aus zweiter Hand erfahren, etwa Angehörige?

d)      Wenn die Wirksamkeit der Unterstützungsleistung nicht evaluiert wird, warum nicht?

2.       Welche Therapie- und Behandlungsmethoden für neurodivergente Menschen, im Besonderen autistischer Menschen, sind in Österreich zulässig?

a)       Wie wurde die Qualität der in Österreich zulässigen Therapie- und Behandlungsmethoden für neurodivergente Personen, im Besonderen für Autist*innen, überprüft und in welchen Abständen wir diese Qualitätsprüfung evaluiert und aktualisiert?

b)      Wenn die Qualität der Therapie- und Behandlungsmethoden nicht überprüft und evaluiert wird, warum nicht?

c)       Werden neurodivergente Personen (nicht: Angehörige) in die Evaluierung einbezogen?

3.       Wie viele neurodivergente Personen, im Besonderen Autist*innenf leben in Österreich? Wie hoch ist, laut Ihren Erhebungen, schätzungsweise die Dunkelziffer nicht-diagnostizierter neurodivergenter Personen?

a)       Welche Maßnahmen treffen Sie um die Dunkelziffer zu verringern und Zugang zu Diagnostik zu erleichtern?

b)      Wenn ihr Ressort diese Daten nicht erhoben hat, warum nicht?

4.       Wurden Daten zur Suizidrate und Suizidgefährdung neurodivergenter Menschen in Österreich, im Besonderen Autist*innen, von ihrem Ressort erhoben?

a)       Was sind die Ergebnisse dieser Erhebung?

b)      Wenn ihr Ressort diese Daten nicht erhoben hat, warum nicht?

5.       Welche Maßnahmen planen Sie oder Ihr Ressort um der erhöhten Suizidgefährdung neurodivergenter Menschen in Österreich, im Besonderen Autist*innen, in Österreich entgegenzutreten?

a) Wenn Sie keine Maßnahmen planen, warum nicht?

6.       Welche Bewusstseins- und Bildungskampagnen für die Allgemeinbevölkerung, das Gesundheits- und das pädagogische Personal zur Verbesserung der Gesundheit- und Lebensbedingungen von neurodivergenten Personen planen Sie bzw. haben Sie bereits umgesetzt?

a) Wenn Sie keine Bewusstseins- und Bildungskampagnen planen, warum nicht?

 


7.    Welche Maßnahmen zur Barrierefreiheit, zur Unterstützung von Selbstvertretungs- und Interessensvertretungsorganisationen und gegen das überdurchschnittliche Armutsrisiko von neurodivergenten Menschen, im Besonderen für Autist*innen, planen Sie bzw. haben Sie bereits umgesetzt?

a) Wenn Sie keine Maßnahmen geplant bzw. umgesetzt haben, warum nicht?



[1] Data & Statistics on Autism Spectrum Disorder | CDC.

2 Australia drafts guideline for supporting autistic children | Spectrum | Autism Research News (spectrumnews.org).

[3] Ethical Concerns with Applied Behavior Analysis for Autism Spectrum "Disorder" - PubMed (nih.gov); Evidence

of increased PTSD symptoms in autistics exposed to applied behavior analvsis | Emerald Insight Who Was Dr. Oie Ivar Loovas? (appliedbehavioranalvsisprograms.com)

[5]  Ban Applied Behavioural Analysis for autistic people - Petitions (parliament.uk); Why the 'treatment' of autism is a form of conversion therapy | Xtra Magazine; Ban of conversion therapies I Autistic Collaboration
(autcollab.org)

[6]   Neurodivergenz ist ein Konzept, das ursprünglich auf die Soziologin Judy Singer aus den 1990er Jahren zurückgeht, die die konventionellen Vorstellungen darüber, was als normal und abnormal gilt, in Frage stellte, Singer erklärt, dass die Neurodiversität der Gesellschaft die Möglichkeit bietet, Vielfalt und Unterschiede zu sehen und zu nützen, anstatt sie als problematisch einzustufen. Unter Neurodivergenz versteht man unter anderem folgende Diagnosen; ADHS, Autismus, Legasthenie, Dyskalkulie und Dysgraphie. Das Konzept der Neurodivergenz wendet sich gegen rein pathologisierende (medizinische) Konzepte der genannten Diagnosen.

[7] Die angeborene Reizfilterschwäche von Autist*innen soll mit dieser Methode "abtrainiert" werden. Auch hier ist das Auslöschen von "autistischen Verhaltensweisen" durch erzwungene Konformität das Ziel.

8 New landmark strategy to improve the lives of autistic people - GOV.UK (www.gov.uk).

[9] Study reveals high rate of possible undiagnosed autism in people who died by suicide | University of Cambridge.

10 Kids With Autism Twice As Likely to Consider Suicide (verywellfamily.com).