15788/J XXVII. GP

Eingelangt am 13.07.2023
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Anfrage

 

der Abgeordneten Dr. Stephanie Krisper, Kolleginnen und Kollegen

an die Bundesministerin für EU und Verfassung im Bundeskanzleramt

betreffend Der nächste U-Ausschuss kommt bestimmt. Werden die Archivierungspflichten eingehalten?

 

Vergangene Untersuchungsausschüsse sowie Ermittlungen der StA und WKStA, beispielsweise im Kontext der Ibiza- oder Casinos-Affäre, belegen die Gewohnheit politischer Funktionär:innen, dienstliche Angelegenheiten, wie Postenbesetzungen, über E-Mails, SMS, Chats oder Memos abzuwickeln bzw. zu dokumentieren. Der Verfassungsgerichtshof kritisierte die Verwehrung der Einsicht in politisch relevante Emails nach Beschwerde der Oppositionsparteien im Zuge des „Ibiza“-Untersuchungsausschusses. Der Forderung des VfGH nach Vorlage aller verlangten Materialien von Seiten des ehemaligen Bundeskanzlers konnte nicht nachgegangen werden, da die betroffenen Unterlagen bereits gelöscht worden waren: „E-Mails werden im Bundeskanzleramt nicht dauerhaft aufgehoben, außer sie sind Teil eines Aktes. Mit dem Ausscheiden einer Mitarbeiterin bzw. eines Mitarbeiters werden die Postfächer gelöscht. Bei Regierungswechsel werden auch die Backups gelöscht, um das Bundesarchivgesetz nicht zu unterlaufen“, antwortet der ehemalige Bundeskanzler Sebastian Kurz, denn E-Mails im Bundeskanzleramt, die nicht Teil eines Aktes sind, werden nicht dauerhaft aufgehoben. (3136/AB, 2020)1

Doch was ist geltendes Gesetz? Dass dienstlich relevantes Schriftgut von Bundesdienststellen bzw. „sämtliches Schriftgut, das beim Bundespräsidenten, Bundeskanzler, Vizekanzler, bei einem Bundesminister oder Staatssekretär in Ausübung Ihrer Funktion oder in deren Büros anfällt“ dem Österreichischen Staatsarchiv (ÖStA) zu übergeben ist, legen § 5 Abs. 1 bzw. § 6 Abs. 3 Bundesarchivgesetz fest. Als Schriftgut legt §5 Abs. 2 des Denkmalschutzgesetzes „schriftlich geführte oder auf elektronischen Informationsträgern gespeicherte Aufzeichnungen aller Art“ fest, wobei „persönliche Unterlagen, wie Aufzeichnungen und Notizen“, der Archivierungspflicht ausgenommen sind. Ob Kurznachrichten, wie SMS oder Chats, archivierungspflichtig oder als „persönliche Unterlagen“ ausgenommen sind, stellt unter Generaldirektoren des ÖStA eine Kontroverse dar. Der 2019 pensionierte Wolfgang Maderthaner betont, dass alles Schriftgut der Kabinette, aber auch Datenträger, die Parteiarbeit betreffen und eventuell Privates dem ÖStA zu übergeben ist, da „sehr, sehr oft auch persönlich interessengeleitete Arbeit und Verwaltungsarbeit nicht auseinandergehalten werden“. Helmut Wohnout, der aktuelle und ÖVP-nahe Generaldirektor des ÖStA, sieht die Löschung von Kurznachrichten als gesetzeskonform, da diese als „persönliche Aufzeichnungen“ zu kategorisieren sind. Laut Wohnout sei die Archivierung von Kalendereinträgen nicht durch das Gesetz geklärt (siehe ORF, 2020).2 Angesichts der obig ausgeführten historischen, politischen und strafrechtlichen Relevanz von Kurznachrichten, Kalender, Memos, etc. ist die vage Formulierung sowie der Interpretationsspielraum von „persönlichen Aufzeichnungen“ laut § 2 Abs. 2 Bundesarchivgesetz zu hinterfragen.

Bezüglich der Nachvollziehbarkeit der Weitergabe von Schriftgut an das ÖStA sieht § 6 Abs. 1 Bundesarchivgesetz vor, dass Bundesdienststellen dem ÖStA anzeigen müssen, welches Schriftgut ausgesondert und welches zur Archivierung angeboten wird. Ex-Generaldirektor Maderthaner meint aber, dass das ÖStA keine kontrollierende oder sanktionierende Rolle trägt und davon auszugehen sei, dass in der Praxis nur unvollständig an das Staatsarchiv geliefert würde. Die Bundesministerin für EU und Verfassung, Mag. Karoline Edtstadler, bestätigt in 10235/AB (2022)3, dass nur eine geringe Anzahl an Schriftgut in Form von E-Mail-Systemen von Bundesdienststellen an das ÖStA zur Archivierung übermittelt werden, aber sieht „im aktuellen Prozess keine Umstände, die eine Änderung der Rechtslage erforderlich machen würden“. Inwiefern aktuelle Archivierungs-Praktiken und Monitoring-Mechanismen eine Verbesserung der Bewahrung dienstlich relevanter Unterlagen, auch E-Mails und Kurznachrichten betreffend, bewirken, ist demnach zu hinterfragen.

Im internationalen Vergleich sind genauere Archivierungsregeln in Deutschland hervorzuheben, wo für Minister:innen der Bundesregierung eine Archivierungspflicht für aktenrelevante digitale Informationen, einschließlich SMS, besteht und beispielsweise Chat-Verläufe der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel gesichert wurden (Süddeutsche Zeitung, 2013).4 Auch in den Vereinigten Staaten von Amerika ist die Bewahrung aller amtlichen E-Mails verpflichtend, sodass das Versenden beruflicher E-Mails von einer privaten E-Mail-Adresse (ohne Archivierung) in einem Skandal für die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Hilary Clinton resultierte.

In Österreich sprechen sich neben NEOS und SPÖ auch die Grünen als Regierungspartei für eine bessere Nachvollziehbarkeit des Regierungs- und Verwaltungshandelns im Sinne von „Transparenz, Antikorruption und sauberen Politik“ aus. Ilse-Maria Vrabl-Sanda, Leiterin der WKStA, fordert ebenfalls eine Dokumentationspflicht politischer Entscheidungen, die Amtsträger über derzeit nicht veraktete elektronische Kommunikationsmittel treffen (Der Standard).5

 

Quellen:

  1. https://www.parlament.gv.at/gegenstand/XXVII/AB/3136
  2. https://orf.at/stories/3171066/
  3. https://www.parlament.gv.at/gegenstand/XXVII/J/10491?selectedStage=100
  4. https://www.sueddeutsche.de/politik/regierungsakten-fuer-kurznachrichten-sms-von-kanzlerin-merkel-werden-archiviert-1.1572702
  5. https://www.derstandard.at/story/2000142803492/sollen-handy-chats-archiviert-werden

 

Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgende

 

Anfrage:

Aktuelle Praxis Archivierung

  1. In welchem Umfang wurde seitens des BKA im Zuge des Übergangs zwischen verschiedenen Bundeskanzlern seit Regierungswechsel 2019 (Sebastian Kurz, Alexander Schallenberg, Karl Nehammer) angefallenes Schriftgut gelöscht bzw. an das Staatsarchiv übergeben (bitte Angabe nach Anzahl an Dokumente, Datenträgern, Mails, Seitenanzahl)?
  2. Wer war für die Entscheidung über Löschung verantwortlich?
  3. Werden von Seiten der Ministerien auch hauseigene Archive befüllt bzw. geführt?
    1. Falls ja, welche Ministerien betrifft das?
    2. Falls ja, warum?
  1. Weshalb erfolgte eine Übertragung der Zuständigkeit für das Digitale Langzeitarchiv vom Referat für „Digitales Archiv und IT-Services“ der Stabstelle für Öffentlichkeitsarbeit, Digitales und Services (ÖADS) auf den provisorischen Leiter des ÖStA im Juli 2019?
  2. Wie sind die Zuständigkeiten im Digitalen Langzeitarchiv des Bundes geregelt? (Siehe 3804/AB von Mag. Schallenberg, 2019)
  3. Ist die Verlagerung aller Betriebskomponenten ins BRZ im Zuge der bundesweiten IT-Konsolidierung wie nach Plan 2022 abgeschlossen worden? (Siehe 10235/AB von BMEUV Mag. Edtstadler, 2022)
  4. Welche Kosten sind durch diese Verlagerung angefallen?
  5. Wurde das Übergabeformat EDIAKT, das in der Bundesarchivgutverordnung, BGBl. II Nr. 367/2002, für die Übergabe elektronsicher Akten an das Digitale Langzeitarchiv vereinbart ist, seit 2019 vollständig durch das EDIDOC-Format abgelöst, sodass die Abgabe von ELAK-Akten seitens Bundesdienststellen wieder vollständig erfolgen kann? (Siehe 3804/AB von Mag. Schallenberg, 2019)

Aktuelle Praxis Monitoring

9.    Wie gestaltet sich die Anzeige von zu archivierendem bzw. auszusonderndem elektronischem Schriftgut von Seiten der Bundesdienststellen an das ÖStA gemäß § 6 Abs. 1 Bundesarchivgesetz?

  1. Welches elektronische Schriftgut wurde von Bundesdienststellen seit dem Regierungswechsel 2019 dem ÖStA als zu archivierend bzw. als auszusondernd angezeigt (um Aufschlüsselung nach der Form des Schriftguts und der jeweiligen Bundesdienststelle wird gebeten)?
    1. Welche personellen Ressourcen stehen dem ÖStA für die Durchsicht der zur Archivierung freigegebenen Unterlagen nach § 6 Abs. 2 Bundesarchivgesetz zur Verfügung?
    2. Ist für das ÖStA die Einhaltung der einjährigen Frist für die Feststellung der Eignung von angebotenem elektronischem Schriftgut als Archivgut stets möglich?

                                          i.    Wenn nein, warum?

  1. Inwiefern wird die Einhaltung bestehender Archivierungspflichten von Seiten der Bundesdienststellen kontrolliert?
  2. Wer ist für die Prüfung zuständig?
  3. Inwiefern wird die korrekte Kategorisierung von elektronischen Akten nach § 25 Abs. 2 Büroordnung 2004 sowie nach § 3 Abs. 1 Bundesarchivgutverordnung seitens der Bundesdienststellen vor dem Angebot an das ÖStA überprüft?
    1. Wenn nein, warum?
  1. Laut BMEUV Mag. Karoline Edtstadler erfolgt „die digitale Übernahme bzw. Archivierung von Echtdaten (von „ELAKimBund“) mehrerer Bundesdienststellen laufend und sei ein permanenter Prozess. Die Übernahme von Schriftgut in anderer Form wie z.B. (un)strukturierten Fileablagen, Fachinformationssystemen oder E-Mail-Systemen ist Gegenstand laufender Diskussion“. Welche Ergebnisse hat diese Diskussion seit Regierungswechsel 2019 erbracht?
    1. Wie lauten die konkreten inhaltlichen Schwerpunkte der Diskussion?
    2. In welcher Form findet diese Diskussion statt? Gibt es eine Arbeitsgruppe zu dem Thema?
    3. Wer ist in diese Diskussion eingebunden?
    4. Wie viel Schriftgut wurde dem ÖStA seit dem Regierungswechsel 2019 in Form von (un)strukturierten Fileablagen, Fachinformationssystemen oder E-Mail-Systemen angeboten?

                                          i.    Inwiefern konnte das ÖStA gemäß §6 Abs. 2 des Bundesarchivgesetzes die Archivwürdigkeit dieses Schriftguts feststellen? Warum (nicht)?

    1. Wurde dem ÖStA Schriftgut in Form von elektronischen Kalendereinträgen angeboten? Konnte eine Archivwürdigkeit des Schriftguts vom ÖStA festgestellt werden?
  1. Laut ehemaligen BK Sebastian Kurz wurden keine rechtlichen Gutachten zur vom BKA während Regierungsperiode Kurz I gewählten Praxis des rigorosen Löschens von Emails/Chatnachrichten eingeholt, sondern „aufkommende Fragen im kurzen Weg mit dem ÖStA erörtert und nach dessen Einschätzung behandelt“ (siehe AB 6479, S.5). Wie viele bzw. welche Abteilungen des ÖStA wurden in diesem Zeitraum zur Konsultierung herangezogen?
    1. Inwiefern wurde die Praxis des Löschens seit Regierungswechsel 2019 in Konsultation mit dem ÖStA erörtert?
    2. Wer initiierte diese Gespräche?
    3. Wer sind hier die Ansprechpartner:Innen von Seiten des ÖStA?
    4. Was haben die Gespräche ergeben?
    5. In Anbetracht der stark differenzierenden Ansichten zur Archivierung jeder Form von Schriftgut, einschließlich von Kurznachrichten, der Generaldirektoren des ÖStA Wolfgang Maderthaner und Helmut Wohnout, wurden seit des Regierungswechsels 2019 rechtliche Gutachten/Stellungnahmen zur Praxis der Löschung von Emails/Chatverläufen des BKA und anderer oberster Bundesorgane eingeholt?

                                          i.    Wenn ja, wann mit welchem wann vorliegenden Ergebnis?

Reformvorhaben

16. Werden aktuelle Archivierungspflichten und -praktiken in Bezug auf sich stetig modernisierende elektronische Kommunikationsmöglichkeiten analysiert?

    1. Falls ja, wann mit welchem Ergebnis?
    2. Falls ja, wer war und ist in die Evaluierung einbezogen?
    3. Falls nein, warum nicht?
  1. Inwiefern wurde wann eine Präzisierung der Rechtslage dahingehend diskutiert, dass jegliches regierungs- und verwaltungsrelevantes digitales Schriftgut archiviert wird?
  2. Mit welchem wann vorliegenden Ergebnis?
  3. Inwiefern werden Emails, Chatnachrichten, Memos, Kalender und SMS mit dienstlichen Inhalten auf ihre Archivwürdigkeit untersucht? Mit welchem Ergebnis?
  4. Inwiefern wird sichergestellt, dass eine Wiederholung der im Zuge des „Ibiza“-Untersuchungsausschusses aufgezeigten Missstände der Archivierung dienstlich relevanter Unterlagen nicht auftritt, wie auch vom VfGH kritisiert wurde?
    1. Inwiefern wird eine Reform des Strafgesetzbuches §295 dahingehend evaluiert, dass das Vernichten, Beschädigen und Unterdrücken von Beweismitteln im Rahmen von Untersuchungsausschüssen des Nationalrats den missbräuchlichen Umgang mit dienstlich relevanten Unterlagen verbessern würde? (siehe 1542/A von Dr. Margreiter, 2021)

                                          i.    Wenn ja – mit welchem Ergebnis?

                                        ii.    Wenn nein - warum nicht?

    1. Inwiefern wird die Rechtslage in anderen Ländern, wie Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika, als Vorlage zur Präzisierung der Archivierungsregulierungen bzgl. digitalem Schriftguts konsultiert? Inwiefern steht Österreich im Austausch mit anderen Ländern zu dem Thema?

                                          i.    Wenn ja, wie häufig und unter wessen Zuständigkeit fand dieser Austausch statt? Mit welchem Ergebnis?

                                        ii.    Wenn nein, warum nicht?

  1. Warum können gem. § 3 Abs. 2 Bundesarchivgesetz Universitäten eigene Archive führen, Fachhochschulen allerdings nicht?
    1. Ist diesbezüglich eine Gleichstellung geplant?

                                          i.    Falls nein, warum nicht?

  1. Ist geplant die Schutzfristen des Archivgutes iSd §8 Bundesarchivgesetz zu verkürzen?
    1. Falls nein, warum nicht?
  1. Was wird nach Meinung des Ministeriums unter "persönlicher Einsicht" iSd § 9 Abs. 5 Bundesarchivgesetz verstanden?
    1. Sofern darunter die bloße physische Einsichtnahme verstanden wird: Ist geplant, eine digitale Einsicht zu ermöglichen?
  1. Wird auch eine Überarbeitung des § 6 Abs. 3 Bundesarchivgesetz angestrebt?
    1. Falls ja, welche Eckpunkte soll diese zukünftige Bestimmung enthalten?