16394/J XXVII. GP
Eingelangt am 03.10.2023
Dieser Text ist elektronisch textinterpretiert. Abweichungen vom Original sind
möglich.
Anfrage
der Abgeordneten Christian Oxonitsch, Genossinnen und Genossen
an den Bundesminister für Inneres
betreffend „verschwundene" unbegleitete Minderjährige
Kinder und Jugendliche stellen eine der vulnerabelsten Gruppen jeder Gesellschaft dar. Müssen sie ihre Heimat – etwa aufgrund von Krieg oder Verfolgung – verlassen, geht das mit hohen Risiken und Gefahren einher. Besonders dramatisch gestaltet sich die Situation für jene, die ihren Fluchtweg ohne Begleitung von Eltern bzw. Erwachsenen zurücklegen müssen. Von jenen unbegleiteten Minderjährigen, die in Österreich registriert werden, verschwand 2019 etwa die Hälfte spurlos – viele bereits kurz nachdem sie ihren Asylantrag gestellt haben.[1]
Das Verschwinden von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (im folgenden kurz „UMF" genannt) ist zwar seit vielen Jahren ein bekanntes Problem, erhält aber dennoch kaum öffentliche Aufmerksamkeit. Suchaktionen oder Nachforschungen werden von offizieller Seite so gut wie nie initiiert. Da die meisten EU-Staaten hierzu kaum bzw. keine verlässlichen Daten erheben, fehlt es auch an grundlegenden Informationen, auf deren Basis präventive Maßnahmen getroffen werden könnten. Als Reaktion auf diese – seit langem bekannte – Problemlage, verabschiedete der Nationalrat am 16.12.2021 eine einstimmige Entschließung[2], in der der Innenminister verbindlich zu einer Reihe von Maßnahmen aufgefordert wird:
- Die jährliche Veröffentlichung sämtlicher dem BMI vorliegenden Informationen im Zusammenhang mit „verschwundenen Minderjährigen mit Fluchterfahrung“
- Zu untersuchen, ob das Verschwinden Minderjähriger mit Fluchterfahrung im Zusammenhang mit kriminellen Handlungen liegt – und dem Nationalrat über die Ergebnisse dieser Untersuchung zu berichten
- Zu prüfen, ob die Erhebung bzw. Veröffentlichung diverser Informationen im Zusammenhang mit dem Verschwinden Minderjähriger mit Fluchterfahrung notwendig ist, um diesem Phänomen angemessen begegne zu können
20 Monate später sucht man vergeblich nach entsprechenden Maßnahmen. Obwohl das Ministerium aufgrund der Entschließung dazu verpflichtet ist, alle vorliegenden Informationen zu „verschwundenen Kindern und Jugendlichen mit Fluchterfahrung“ jährlich in geeigneter statistischer Form zu veröffentlichen, fehlt es bis dato an konkreten Maßnahmen. Einzig in der Detailstatistik-Kennzahlen des BFA werden seit letztem Jahr die Zahl der Verfahrensentziehungen ausgewiesen, was aber auf die Umsetzung einer anderen Entschließung[3] zurückzuführen ist.
Obwohl die Berichterstattung an den Nationalrat über die Ergebnisse der Untersuchung betreffend kriminelle Handlungen (Punkt 2) ausdrücklich in der Entschließung vorgesehen ist, weigerte sich HBM Karner in einer Anfragebeantwortung[4] vom 24.05.2022 „aus datenschutzrechtlichen und polizeitaktischen Gründen“ Auskunft über die Ergebnisse zu erstatten.
Eine – längst überfällige – Maßnahme, die dem Verschwinden von unbegleiteten Minderjährigen entgegenwirken könnte, wäre das zur Seite Stellen einer zur Obsorge berechtigten Person. Entsprechende Schritte werden seitens der Kinder und Jugendhilfe aber erst gesetzt, nachdem die Minderjährigen einer Grundversorgungseinrichtung eines Bundeslandes zugewiesen wurden. Da die Zuweisung faktisch immer länger dauert und viele UMF sogar nach Gewährung ihres Schutzstatus in der Bundesbetreuung verweilen, sind die UMF regelmäßig viele Monate und manchmal ein Jahr und länger ohne Obsorgeberechtigte.
Diesbezüglich verabschiedete der Nationalrat mit den Stimmen von ÖVP und Grünen eine Entschließung, die die Bundesregierung auffordert, die Obsorge durch Kinder und Jugendhilfeträger ab Tag 1 für alle unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge sicherzustellen. Knapp zwei Jahre später, sind die zuständigen Ministerien noch immer säumig, entsprechende Maßnahmen in die Wege zu leiten. Damit wird nicht nur eine Entschließung des Nationalrates ignoriert, sondern auch dringende Appelle aus der Fachwelt.[5]
Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgende
ANFRAGE
1. Der Detailstatistik-Kennzahlen des BFA[6] ist zu entnehmen, dass es im 1. und 2. Quartal 2023 zu 2.075 Verfahrensentziehungen bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen kam.
a. In wie vielen dieser 2.075 Fällen wurde dem BMI nach erfolgter Verfahrenseinstellung ein anderer Aufenthaltsort der betroffenen Minderjährigen bekannt? (Bitte um Aufschlüsselung nach Nationalität und Geschlecht der Minderjährigen, neuem Aufenthaltsort sowie Altersklassen (unter 14/über 14)
b. In wie vielen dieser 2.075 Fällen wurden Fahndungsmaßnahmen eingeleitet?
c. Welche Maßnahmen wurden/werden gesetzt, um den aktuellen Aufenthaltsort der betroffenen Minderjährigen zu bestimmen?
2. Im Innenausschuss des Nationalrates am 20.10.2021 sprach der damalige Innenminister Karl Nehammer von einer EU-weiten Verknüpfung von Daten einzelner Mitgliedstaaten zu vermissten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen.[7]
a. In welchen Intervallen und von wem wurden/werden entsprechende Verknüpfungen durchgeführt?
b. Zu welchem Ergebnis führten die letzten beiden EU-weiten Datenverknüpfungen? (Zahl der UMF, deren Asylverfahren gern §24 AsylG eingestellt wurde, in Relation zur Zahl der UMF, die nach einer Verfahrenseinstellung gern §24 AsylG in einem anderen EU Mitgliedstaat registriert wurden – Bitte um Aufschlüsselung nach Nationalität, Altersklassen (unter 14/über 14) und Geschlecht)
c. Wo werden/wurden die Ergebnisse dieser Verknüpfungen (entsprechend der Entschließung 228/E – siehe Frage 3) veröffentlicht?
3. Am 16.12.2021 verabschiedete der Nationalrat eine Entschließung (228/E)[8], die mehrere Aufforderungen an Sie enthält.
a. Wurde der Aufforderung, alle dem BMI vorliegenden Informationen zu „verschwundenen Kindern und Jugendlichen mit Fluchterfahrung“ jährlich in geeigneter statistischer Form zu veröffentlichen, bereits entsprochen?
i. Falls ja: Inwiefern? Wann, wo und in welcher Form wurden diese Informationen veröffentlicht?
ii. Falls nein: Bis wann kann damit gerechnet werden, das Sie der Entschließung des Nationalrates nachkommen? Welche Maßnahmen haben Sie ergriffen, um der in der Entschließung enthaltenen Aufforderung gerecht zu werden?
b. Zu welchen Ergebnissen führte die Untersuchung betreffend des Zusammenhangs zwischen dem Verschwinden von Minderjährigen mit Fluchterfahrung und kriminellen Handlungen?
i. Wann und in welcher Form haben Sie den Nationalrat – wie in der Entschließung vorgesehen – über diese Ergebnisse informiert?
ii. Wann und in welcher Form wurde die Untersuchung durchgeführt? Welche Dienststellen/Behörden waren involviert?
c. Zu welchem Ergebnis kamen Sie bei der Prüfung betreffend der Notwendigkeit von Erhebungen und Veröffentlichungen diverser Informationen im Zusammenhang mit dem Verschwinden unbegleiteter Minderjähriger?
4. Der Beantwortung[9] der parlamentarischen Anfrage 10322/J vom 24.05.2022 ist zu entnehmen, dass hinsichtlich der Umsetzung der Entschließung 228/E, insbesondere in Bezug auf die Erhebung und Veröffentlichung diverser Informationen im Zusammenhang mit dem „Verschwinden“ Minderjähriger mit Fluchterfahrung, im Februar 2022 ein Prüfprozess gestartet wurde.
a. Zu welchem Ergebnis führte der vor 18 Monaten gestartete Prüfprozess?
b. Welche der im Entschließungstext aufgelisteten Informationen/Aspekte werden seit wann und in welcher Form erhoben? Wo wurden/werden die erhobenen Informationen veröffentlicht?
5. Haben Sie Kenntnis über Tätigkeiten von minderjährigen Schutzsuchenden bzw. Schutzberechtigten in Bereichen mit erhöhten Gefährdungspotential (z.B. Prostitution oder Schwarzarbeit)
a. Falls ja: Bitte um Darstellung der dem BMI vorliegenden Informationen. In wie vielen der bekannten Fälle handelt es sich um unbegleitete Minderjährige?
b. Falls nein: Wurden diesbezügliche Nachforschungen durchgeführt?
6. In der Entschließung des Nationalrates 212/E[10] vom 19.11.2021 werden Sie aufgefordert, die Obsorge für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ab Tag 1 sicherzustellen und Schulungsangebote zur Bedeutung des Kindeswohls für alle an Asylverfahren beteiligten Personen zu etablieren.
a. Welche Maßnahmen wurden in den letzten 2 Jahren ergriffen, um allen minderjährigen Flüchtlingen ehestmöglich nach ihrem Aufgriff bzw. ihrer Antragstellung auf internationalen Schutz, eine zur Obsorge berechtigte Person zur Seite zu stellen?
b. Für wie viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wird derzeit die Obsorge durch einen Kinder- und Jugendhilfeträger oder eine andere Einrichtung ausgeübt? (Bitte um Aufschlüsselung nach Bundesland in Relation zur Gesamtzahl aller unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, die sich derzeit in einem Verfahren auf internationalen Schutz[11] befinden)
c. Wie viele Schulungen im Sinne der Entschließung 212/E wurden bereits durchgeführt?
i. Wie viele verfahrensführende Referent:innen haben bis dato anentsprechenden Schulungen teilgenommen? Bitte um Aufstellung der Anzahl der Referent:innen pro Organisationseinheit des BFA (Regionaldirektionen, Erstaufnahmestellen, Außenstellen).
7. Aus der Beantwortung[12] der Anfrage 10961/J ergibt sich, dass im Justizministerium seit über 14 Monaten ein Gesetzesentwurf aufliegt, der die Übernahme der Obsorge für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge durch Kinder- und Jugendhilfeträger vorsieht.
a. Welche finanziellen Mittel sieht der Gesetzesentwurf für die betroffenen Kinder- und Jugendhilfeträger vor?
b. Sieht der Gesetzesentwurf einen Betreuungsschlüssel für die Übernahme der Obsorge durch Kinder- und Jugendhilfeträger vor? (Anzahl von Minderjährigen pro zur Obsorge bevollmächtigte (Betreuungs-)Person)
i. Falls ja: Welchen?
c. Wurde in der Bundesregierung ein Zeitpunkt fixiert, bis zu dem die Vorlage an den Nationalrat bzw. der Beginn des Begutachtungsverfahrens angepeilt wird?
i. Falls ja: Welcher Zeitpunkt?
ii. Falls nein: Warum nicht?
8. Wie viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge waren im Zeitraum Oktober 2022 – Oktober 2023 in einer Bundesbetreuungseinrichtung untergebracht? Bitte um Aufschlüsselung nach Monaten (mit dem Monatsersten als Stichtag), Einrichtung, Geschlecht und Altersklassen (unter 14/über 14)
a. Wie viele dieser unbegleiteten Minderjährigen[13] waren für welchen Zeitraum in einer Bundesbetreuungseinrichtung untergebracht? (Bitte um Aufschlüsselung nach Einrichtung, Geschlecht, Altersklassen (unter 14/über 14) und Dauer der Unterbringung zum letzten Stichtag (unter 7 Tage, über 7 Tage, über 14 Tage, über 1 Monat, über 2 Monate, über 3 Monate, über 4 Monate,... bis zur höchsten Anzahl an Monaten)
b. Wie viele dieser unbegleiteten Minderjährigen[14] waren zum Zeitpunkt ihrer Registrierung in Begleitung einer nicht obsorgeberechtigten, volljährigen Person? (Bitte um Aufschlüsselung nach Einrichtung, Geschlecht und Altersklassen (unter 14/über 14))
9. Die britische Zeitung „The Guardian“ berichtete im Februar 2023 über eine massive Zunahme von organisierten Entführungen unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge und damit verbundener Zwangsarbeit.[15]
a. Können Sie ausschließen, dass sich unter den entführten bzw. von Kinderhandel betroffenen Minderjährigen auch Personen befinden, die zuvor in Österreich registriert wurden?
[1] https://www.derstandard.at/story/2000113867559/die-haelfte-der-unbegleiteten-fluechtlingskinder-in-oesterreich-verschwindet
[2] https://www.parlament.gv.at/gegenstand/XXVII/E/228?selectedStage=100
[3] https://www.parlament.gv.at/dokument/XXVII/E/146/fname_936088.pdf
[4] https://www.parlament.gv.at/dokument/XXVII/AB/10044/imfname_1447706.pdf
[5] https://volksgruppen.orf.at/diversitaet/stories/3217223/
[6] https://www.bfa.gv.at/403/files/Detailstatistik_BFA_Kennzahlen_1-2_Quartal_2023.pdf
[7] https://www.parlament.gv.at/aktuelles/pk/jahr_2021/pk1162#XXVII_A_01651
[8] https://www.parlament.gv.at/gegenstand/XXVII/E/228?selectedStage=100
[9] https://www.parlament.gv.at/dokument/XXVII/AB/10044/imfname_1447706.pdf
[10] https://www.parlament.gv.at/dokument/XXVII/E/212/fname_1014144.pdf
[11] Asyl und subsidiärer Schutz
[12] https://www.parlament.gv.at/dokument/XXVII/AB/10697/imfname_1460951.pdf
[13] sämtliche unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge, die im Zeitraum Oktober 2022 bis Oktober 2023 in einer Bundesbetreuungseinrichtung untergebracht waren
[14] Siehe Fußnote 12
[15] https://www.theguardian.com/uk-news/2023/feb/18/uk-missing-child-refugees-put-to-work-manchester-gangs