Eingelangt am 20.12.2023
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Anfrage
der Abgeordneten Mag. Martina Künsberg
Sarre, Fiona Fiedler, Kolleginnen und Kollegen
an den Bundesminister für
Bildung‚ Wissenschaft und Forschung
betreffend Fleckerlteppich SPF
Im November 2023 veröffentlichte das
Bildungsministerium einen lang angekündigten Abschlussbericht zur
"Evaluierung der Vergabepraxis des sonderpädagogischen
Förderbedarfs (SPF) in Österreich". Der Bericht beinhaltet vier
Teilstudien (1):
- Teilstudie 1
(Kapitel 5) bearbeitet anhand einer quantitativen Erhebung zu
Schüler:innen mit SPF in den Bundesländern auf Basis der Daten aus
den Bildungsdirektionen die Frage, wie sich diese Schüler*innenschaft
im Hinblick auf soziodemographische Merkmale (einschließlich
Behinderungsformen), Lehrplanzuweisungen und Schulverläufe nach den
einzelnen Bundesländern unterscheidet. Dieser Teil der Erhebung
umfasst neu erhobene Daten zu N = 26.102 Schüler:innen mit SPF an
Pflichtschulen.
- Am Ende dieser Studie merken die
Wissenschaftler:innen an, dass es hinsichtlich der Schüler:innen mit
SPF erhebliche Unterschiede zwischen den Zahlen der Studienerhebung und
jenen der Schulstatistik gibt und verlangen "dringend nach einer
systematischen Ursachensuche für die Unterschiede zwischen den
Datenbeständen der Bundes- und Länderebene" sowie einer
Verbesserung bei der Datenerhebung zur Sonderpädagogik bzw. schulischen
Integration.
- Ebenfalls kritisiert diese Teilstudie die
länderspezifischen Unterschiede im Bereich der
sonderpädagogischen Förderung.
- Diese Teilstudie kommt außerdem zu
dem Ergebnis, dass die derzeitige Dienstposten-Deckelung bei 2,7%
Schüler:innen mit SPF weit weg vom tatsächlichen Bedarf liegt.
- Mit Teilstudie 2 (Kapitel 6) werden
die Ergebnisse einer repräsentativen Fragebogenerhebung vorgelegt, in
der Lehrpersonen, Eltern, Schulleitungen und Diversitätsmanager:innen
(N = 289) ihre Einschätzungen zu den Verfahrensabläufen und
Rahmenbedingungen des SPF-Feststellungsverfahrens abgaben. Die Befragten
berichteten über 289 Kinder, die das SPF-Vergabeverfahren durchlaufen
hatten.
- Fast 73% der 289 Schüler:innen hatten
eine Lern-Leistungsbehinderung, ca. 25% eine kognitive Behinderung.
- Knapp 94% wurden nach
Sonderschullehrplänen unterrichtet.
- Im Laufe ihrer Schullaufbahn sind
Schüler:innen mit SPF häufiger von Klassenwiederholungen
betroffen.
- Die Lehrpersonen übernehmen
häufig die Initiative für SPF-Verfahren.
- Das Verfahren der Antragstellung dauert in
etwa doppelt so lange wie das formale Prozedere vom tatsächlichen
Antrag bis zum Bescheid. Auch im Verfahrensprozess und den
benötigten Unterlagen gibt es große Unterschiede zwischen den
Bundesländern.
- Die Kosten des Gutachtens mussten teilweise
von den Erziehungsberechtigten selbst getragen werden, obwohl diese im
Rahmen des SPF-Verfahrens verpflichtend eingeholt werden mussten, da sie
für die Erstellung einer Diagnose erforderlich waren.
- Informationen und Einbezug rund um das
SPF-Verfahren waren für einen beträchtlichen Teil der Eltern
mangelhaft. Persönliche Gespräche über die
SPF-Entscheidung gab es sogar nur für die Hälfte.
- Zwei Drittel der Eltern hatten weder freie
Schulwahl für Ihre Kinder nach § 8 Schulpflichtgesetz (SchPflG)
noch eine verpflichtende rechtliche Beratung.
- Ebenso wurden Schüler:innen nur zu
einem sehr geringen Anteil in diese Entscheidungsfindung eingebunden.
- Teilstudie 3
(Kapitel 7) ergänzt diese Ergebnisse durch eine Analyse der Gutachten
und Bescheide und vertieft einzelne Aspekte durch eine umfassende
Inhaltsanalyse einer Zufallsstichprobe von Erstbescheiden und Gutachten
aus allen neun Bundesländern (N = 454; insgesamt 13.705 Seiten),
anhand derer sowohl quantitative wie qualitative Unterschiede und
Gemeinsamkeiten der Qualitätsmerkmale der SPF-Vergabepraxis
herausgearbeitet werden. Diese Teilstudie zeigt, dass es zwischen den
Bundesländern eklatante Unterschiede gibt:
- In Niederösterreich beträgt der
Anteil an Mädchen mit SPF 21,0%, im Burgenland sind es 44,6%, in
Gesamtösterreich 37.4%.
- Die durchschnittliche Bearbeitungsdauer
beträgt 1,46 Monate in Oberösterreich, in der Steiermark 4,5
Monate, in Gesamtösterreich 3,23 Monate.
- In Vorarlberg werden 68,6% aller
SPF-Bescheide aufgrund einer kognitiven Behinderung ausgestellt, in
Niederösterreich sind es 12,0%. Die Autor:innen führen diese
Diskrepanz nicht nur auf unterschiedliche Verteilungen von Behinderungen
zwischen den Bundesländern zurück, sondern auch auf die
"unterschiedlichen Anlässe der SPF-Antragstellung, auf die
länderspezifisch unterschiedlichen diagnostische Vorgehensweisen und
Begutachtungsverfahren, sowie die verschiedenen institutionellen wie
sozialstrukturellen Rahmenbedingungen und Anforderungen der einzelnen Bildungsregionen
und Schulstandorte".
- Diese Teilstudie wirft die Frage auf,
inwiefern die verschiedenen Sonderschullehrpläne noch
zeitgemäß sind und praktisch anwendbar sind. Grund für
diese Frage ist, dass die Mehrheit der Kinder (71,1%), für die
Sonderschullehrpläne empfohlen werden, gar keine Sonderschule
besuchen. Die Autor:innen dazu: "Eine Abschaffung der
Sonderschullehrpläne zugunsten eines vereinheitlichten Lehrplans,
ergänzt durch individualisierte Curricula würde nicht nur dem
Umstand Rechnung tragen, dass sich Österreich mit der Ratifizierung
der UN-BRK seit 2008 zur Abschaffung des Sonderschulsystems verpflichtet
hat, sondern auch die Verlegenheitslösungen des bestehenden
Flickenteppichs aus unterschiedlichen Lehrplanempfehlungen unnötig
machen."
- Es gibt weder auf Bundes- noch auf
Länderebene verbindliche Qualitätskriterien für das
SPF-Begutachtungsverfahren.
- Abschließend spricht diese Teilstudie
zwei Widersprüche an:
- Weltweit wissenschaftlich und
menschenrechtlich anerkannt ist ein Behinderungsverständnis als
komplexe Wechselwirkung von Person und Umwelt. In Österreich folgt
die Verfahrenslogik jedoch einem individuumszentrierten, medizinischen
Behinderungsmodell. Die Autor:innen kritisieren, dass dieses Verfahren
defizitorientiert ist und auch im SPF-Gutachten vor allem hervorgehoben
wird, was das Kind alles nicht kann.
- Der Begriff des Sonderpädagogischen
Förderbedarfs ist in § 8 Abs. 1 SchPflG eine Tautologie: Ein
SPF liegt dann vor, wenn ein Schüler bzw. eine Schülerin
aufgrund einer Behinderung dem Unterricht nicht ohne
sonderpädagogische Förderung zu folgen vermag (2).
- Als Lösung wäre laut der
Autor:innen eine Orientierung am bio-psycho-sozialen Modell von
Behinderung nach ICF (3) sowie eine Aufhebung des SPF zugunsten von
einer schul- bzw. systembezogenen Erhebung, "um mittelfristig zu
einer indexbasierten Ressourcenzuweisung zu gelangen, die die aktuelle
SPF-Vergabepraxis überflüssig macht." (1)
- Teilstudie 4
(Kapitel 8) umfasst eine Reihe von Expert:inneninterviews (N = 31) mit
Mitarbeiter:innen des Präsidialbereichs,
Diversitätsmanager:innen, pädagogischen
Berater:innen/Schulpsycholog:innen, Lehrpersonen/Schulleitungen,
Eltern/Erziehungsberechtigten und Schulqualitätsmanager:innen, deren
Analyse ein mehrperspektivisches Bild des gesamten Verfahrensprozesses
ermöglichen soll.
- Dass die Bildungsdirektionen für
sonderpädagogische Förderung nur Geldmittel für einen
SPF-Schüler:innen-Anteil in Höhe von 2,7% der
Gesamtschülerpopulation erhalten ("SPF-Deckelung"), wird
von den Expert:innen als unzureichend kritisiert.
- Bei der Ressourcenvergabe sind drei Aspekte
entscheidend
- Transparenz: In manchen Bundesländern
ist die Ressourcenverteilung intransparent und es besteht der Verdacht,
"dass jene Personen mehr Ressourcen bekommen, die über bessere
Beziehungen und ein höheres Durchsetzungsvermögen
verfügen" (1).
- Autonomie: Es sei laut Expert:innen
wichtig, dass die bereitgestellten Ressourcen flexibel und autonom nach
spezifischem Bedarf verteilt werden können.
- Prävention: Manche Bundesländer
fördern Kindern mit entsprechenden Maßnahmen, ohne einen SPF
zuzuordnen.
- Eine Nachkontrolle bzw. Evaluierung der
SPF-Bescheide wäre laut Expert:innen essenziell, ist aber aufgrund
begrenzter zeitlicher Kapazitäten nicht möglich.
- Das umfangreiche und bürokratisch
aufwendige SPF-Verfahren soll laut Expert:innen optimiert werden.
- https://www.bmbwf.gv.at/dam/jcr:5e6b7a7b-606a-448e-b0ca-07a84f419b4d/spf_eval.pdf
- https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10009576&FassungVom=2022-05-07
- https://www.who.int/standards/classifications/international-classification-of-functioning-disability-and-health
Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher
folgende
Anfrage:
Teilstudie 1
- Wie erklären Sie sich die großen
Unterschiede zwischen den Zahlen der Studienerhebung und jenen der
Schulstatistik in Teilstudie 1?
- Welche Schritte setzt Ihr Ressort
diesbezüglich, um eine verbesserte Datenerhebung zu
gewährleisten?
- Um den tatsächlichen Bedarf an
Ressourcen darstellen zu können, muss man die bisher zur
Verfügung gestellten Ressourcen mit dem tatsächlichen Bedarf
abgleichen.
- Welche Zahlen fließen nun in die
BMBWF-Darstellungen ein?
- Bitte stellen Sie einen Vergleich der
Schuljahre 2021/22, 2022/23 und 2023/24 bezogen auf die
Segregationsquote, die Inklusionsquote sowie die Schüler:innen mit
SPF anhand der Zahlen aus den definitiven Stellenplänen dar.
- Bitte um separate Darstellung der
Entwicklung der Anzahl der Schüler:innen mit einer körperlichen
Behinderung, einer Sehbehinderung und einer Hörbehinderung.
- Gab es bisher Gespräche, die Deckelung
der Dienstposten von 2,7% zu erhöhen oder aufzuheben?
- Falls ja: Zu welchen Ergebnissen sind Sie
gekommen? Wie wird das in der Stellenplanrichtlinie 2024/25
berücksichtigt?
- Falls nein: Warum nicht?
- Sorgen die Ergebnisse dieser Studie
dafür, dass Ihr Ressort den Nationalen Aktionsplan Behinderung
2022-2030 im Bildungsteil überarbeiten wird?
Teilstudie 2
- Gab es Gespräche darüber, einen
bundeseinheitlichen Sonderschullehrplan auszuarbeiten?
- Falls ja: Zu welchem Ergebnis führten
diese Gespräche?
- Falls nein: Warum nicht?
- Gab es Gespräche mit den
Bundesländern und den Bildungsdirektionen, um den Verfahrensprozess
für SPF zu harmonisieren?
- Falls ja: Wie liefen diese Gespräche?
- Falls nein: Warum nicht?
- Warum mussten die Kosten des Gutachtens in
manchen Fällen von den Eltern bzw. Erziehungsberechtigten getragen
werden?
- Hatten Erziehungsberechtige in diesen
Fällen die Möglichkeit, die Kosten im Nachhinein
rückerstattet zu bekommen?
i. Falls ja: Von welcher Stelle wurden die Kosten rückerstattet?
ii. Falls nein: Warum nicht?
- Gab es Gespräche, diese Kosten und
alle weiteren Verfahrensschritte einheitlich von einer Stelle (nach dem
Prinzip eines One-Stop-Shops) zu übernehmen?
i. Falls ja: Mit welchem Ergebnis?
ii. Falls nein: Warum nicht?
- Wie stellt ihr Ressort sicher, dass Eltern
bzw. Erziehungsberechtigte ausreichend über das Prozedere und die
Implikationen rund um das SPF-Verfahren informiert werden?
- Warum gab es weder freie Schulwahl nach
§ 8 SchPflG noch eine verpflichtende rechtliche Beratung für
Eltern von Kindern mit SPF?
- Welche Schritte werden nun gesetzt, um
sowohl Schüler:innen wie auch Eltern in diese Entscheidungsprozesse
einzubeziehen und geltendes Recht einzuhalten?
- Ist geplant, das SPF-Verfahren zu
verkürzen bzw. zu beschleunigen?
- Falls ja, wie? Durch Vereinfachung des
Verfahrens oder durch Aufstockung des Personals?
- Falls nein, warum nicht?
- Wie viele Personen (Vollzeitäquivalente)
sind in den Bildungsdirektionen mit der Bearbeitung der SPF-Verfahren
befasst?
- Werden zusätzliche Stellen geschaffen
und Ressourcen bereitgestellt, um die Bearbeitungsdauer rund um
SPF-Verfahren zu kürzen?
- Falls ja: Wie viele?
- Falls nein: Warum nicht?
- Sorgen die Ergebnisse dieser Studie
dafür, dass Ihr Ressort den Nationalen Aktionsplan Behinderung
2022-2030 im Bildungsteil überarbeiten wird?
Teilstudie 3
- Im Rahmen der Tätigkeiten des
Bundeszentrums für Inklusive Bildung und Sonderpädagogik an der
PH OÖ (BZIB) wurde ein Verfahren zur Vereinheitlichung des Verfahrens
mit den Modellregionen erarbeitet.
- Werden diese Vorschläge weiterhin
beachtet? (SVG und SAV)
- Welches Bundeszentrum (NCoC) übernimmt
die Agenden des BZIB?
i. Wenn keines: Warum wurde auf diese Kompetenz verzichtet?
ii. Ist beabsichtigt ein solches wieder zu installieren?
- Warum gibt es keine bundeseinheitlichen und
verbindlichen Qualitätskriterien für SPF-Begutachtungsverfahren?
- Wird derzeit an einer Novellierung für
dieses Verfahren gearbeitet?
i. Falls nein: Warum nicht?
- Ist man in Gesprächen mit den
Bundesländern und Bildungsdirektionen, um österreichweit
einheitliche und verbindliche Qualitätskriterien für das
SPF-Begutachtungsverfahren zu erarbeiten?
- Falls ja: Zu welchen Ergebnissen kam man
bisher?
- Falls nein: Warum nicht?
- Wird an einer Novellierung der
Sonderschullehrpläne gearbeitet, da die Mehrheit der
Schüler:innen, für die diese empfohlen werden, keine
Sonderschule besuchen?
- Falls ja: Wie liefen die bisherigen
Gespräche diesbezüglich?
- Falls nein: Warum nicht?
- Da die Mehrheit der Schüler:innen,
für die Sonderschullehrpläne empfohlen werden, keine
Sonderschule besuchen:
- Gibt es Überlegungen, der
Sonderschullehrpläne abzuschaffen zugunsten eines vereinheitlichten
Lehrplans, ergänzt durch individualisierte Curricula?
i. Falls ja: Zu welchen Ergebnissen kam man bisher?
ii. Falls nein: Warum nicht?
- Wird an einer Novellierung der
Sonderschullehrpläne gearbeitet?
i. Falls ja: Wie ist der Stand der Gespräche diesbezüglich?
ii. Falls nein: Warum nicht?
- Welche Gespräche gab es in Ihrem
Ressort, die in der Teilstudie angesprochenen Widersprüche
(Behinderungsverständnis und SPF-Tautologie) aufzulösen und zu
welchem Ergebnis ist man gekommen?
Teilstudie 4
- Gab es Gespräche in Ihrem Ressort und
mit den Bundesländern und Bildungsdirektionen, die Vergabe der
Ressourcen transparenter und einheitlicher zu gestalten?
- Falls ja: Zu welchen Ergebnissen kam man
bisher?
- Falls nein: Warum nicht?
- Gab es Gespräche darüber,
zusätzliche Ressourcen bereitzustellen, um eine Nachkontrolle bzw.
Evaluierung der SPF-Bescheide bundesweit zu ermöglichen?
- Falls ja: Zu welchen Ergebnissen kam man
und wie hoch sind die bereitgestellten Ressourcen?
- Falls nein: Warum nicht?
- Welche Schritte setzt ihr Ministerium in
Absprache mit Ländern und Bildungsdirektionen, um das SPF-Verfahren
zu optimieren und unnötige bürokratische Hürden abzubauen?
- Gab es Gespräche, die
Ressourcenverteilung zu flexibilisieren und indexbasiert abzuwicklen?
- Falls ja: Zu welchem Ergebnis ist man
gekommen?
- Falls nein: Warum nicht?