2729/J XXVII. GP
Eingelangt am 08.07.2020
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möglich.
Anfrage
der Abgeordneten Dr. Stephanie Krisper, Kolleginnen und Kollegen
an den Bundesminister für Inneres
betreffend Erhebung von Daten vermisster unbegleiteter Kinder auf der Flucht
Aus der Beantwortung einer NEOS-Anfrage vom 16. Dezember 2019 zu Asylverfahren minderjähriger Asylsuchender in Österreich (38/AB zu 42/J, XXVII. GP) ging hervor, dass zwischen Jänner und Oktober 2019 4.412 begleitete minderjährige Flüchtlinge - 4.119 unter ihnen waren zu diesem Zeitpunkt unter 14 Jahre alt - einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich gestellt haben. Im selben Zeitraum stellten 845 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMFs) einen Asylantrag in Österreich. Für 471 dieser UMFs wurde das Verfahren zu ihrem Asylantrag eingestellt, bevor es überhaupt offiziell zugelassen wurde. Dies geschah laut derselben Anfragebeantwortung, "wenn sich der Asylwerber dem Verfahren entzieht oder freiwillig ausreist". Gründe für das Verschwinden von mehr als der Hälfte der im Jahr 2019 vernommenen UMFs wurden jedoch keine erhoben.
Laut einem am 24. Mai 2017 veröffentlichten Artikel des BKA waren zu jenem Zeitpunkt in Österreich "seit Beginn der Flüchtlingsbewegung etwa 670 Kinder und Jugendliche aus Nicht-EU-Staaten als abgängig gespeichert" (https://www.bundeskriminalamt.at/news.aspx?id=774C525368574A2B7755633D). Schon damals lagen keine Gründe für das Verschwinden dieser beträchtlichen Zahl an Kindern und Jugendlichen vor. Da laut demselben Artikel von jährlich insgesamt 8.000 Vermisstenfällen von Kindern allgemein nur rund zehn ungelöst bleiben, müssten Gründe für das Verschwinden demnach aufliegen können. Informationen in Bezug auf vermisste unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wurden damals wie heute jedoch nicht erfasst.
In Deutschland wurden am 20. April 2020 vergleichsweise aktuelle Zahlen zu vermissten unbegleiteten Kindern und Jugendlichen sowie Gründe für deren Verschwinden veröffentlicht (https://www.kleinezeitung.at/international/5802558/Aufenthaltsort-unbekannt_Fast-1800-minderjaehrige-Fluechtlinge-in). Die Aufschlüsselung der Zahlen und Erhebungen zeigen, dass mit Stand Ende März 2020 fast 1.800 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bei den deutschen Behörden als vermisst gemeldet wurden. Konkret waren dies 1.074 Jugendliche und 711 Kinder. Die Bundesregierung nennt die "Weiterreise zu Familienangehörigen" innerhalb Deutschlands oder Europas als einen Grund für das Verschwinden. Auch die "Unzufriedenheit mit dem Unterbringungsort" wird als Grund genannt. Insgesamt konnten im Zeitraum zwischen 2016 und 2019 21.000 Fälle von vermissten minderjährigen und unbegleiteten Flüchtlingen aufgeklärt werden. Veröffentlicht wurden die Daten von Zeitungen der Funke-Mediengruppe (https://www.waz.de/politik/fast-1800-unbegleitete-minderjaehrige-fluechtlinge-vermisst-id228939207.html), die sich dabei auf eine Anfragebeantwortung der deutschen Bundesregierung beruft.
Im Vergleich werden in Österreich vermissten UMFs keine Gründe oder Informationen zu aufgeklärten Fällen erfasst. Diese Daten könnten jedoch auch bei transnationalen Fahndungen zu vermissten Minderjährigen hilfreich sein und je nach Gründen über gewisse Missstände, z.B. bei der Unterbringung, informieren.
Zusätzlich zur Datenerfassungsproblematik werden die Betreuungseinrichtungen für UMFs ausschließlich über die Bezahlung von Tagessätzen (max. € 95,– pro UMF und Tag) finanziert. Der Tagsatz ist in einer Vereinbarung gemäß Art. 15a B-VG zwischen Bund und Ländern geregelt und wird von den Grundversorgungsstellen der Länder an die Einrichtungen ausbezahlt. Im Gegensatz dazu fangen die Tagsätze bei fremduntergebrachten österreichischen Kindern bei 120 Euro an und sind nach oben offen. Für UMFs gibt es keine Möglichkeit einen höheren Tagsatz als die 95 Euro zu erhalten.
NGOs bieten Schutz, doch müssen Quartiere schließen und es muss Personal entlassen werden, wenn weniger UMFs zu betreuen sind. Aufgrund der Abhängigkeit der NGOs von Spenden ist die Aufrechterhaltung der nötigen Ressourcen damit entsprechend fragil, besonders weil Fundraisingaktivitäten im Rahmen der derzeitigen COVID-19 Maßnahmen massiv eingebrochen sind.
Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgende
1. Werden in Österreich die Gründe für das Verschwinden von UMFs sowie Informationen zu aufgeklärten Fällen erhoben?
a. Wenn ja, welche Gründe wurden erhoben (bitte um Aufschlüsselung pro Monat der Antragstellung seit 1.1.2015, sowie nach Geschlecht, Nationalität und mündig minderjährig/unmündig minderjährig)?
b. Wenn nein, wieso nicht?
2. Welche Daten werden zu UMFs auf nationaler Ebene allgemein erhoben (bitte um Aufschlüsselung pro Monat seit 1.1.2015 nach Nationalität, Geschlecht, Alter (mündig/unmündig) und aus welchen Unterkünften diese verschwunden sind)?
a. Werden getrennte Zahlen zu mündigen und unmündigen UMFs erhoben?
i. Wenn nein, wieso nicht?
3. Wie werden Daten zu UMFs in Österreich erhoben?
a. Gibt es eine zentrale Datenerhebung zu UMFs in Österreich?
i. Wenn ja, welche Daten wurden seit 1.1.2015 erhoben (bitte um Aufschlüsselung pro Monat nach Nationalität, Geschlecht und Alter (mündig/unmündig))?
ii. Wenn ja, handelt es sich um eine digitale Datenerhebung?
iii. Wenn ja, welche Personen bzw. Entitäten haben Zugang zu diesen Daten?
iv. Wenn nein, wie und von wem genau werden Daten erhoben und wo werden sie für wen abrufbar gespeichert?
b. Gibt es eine spezielle Datenbank für UMFs in ihren jeweiligen Unterkünften?
i. Wenn ja, welche Daten wurden seit 1.1.2015 erhoben (bitte um Aufschlüsselung pro Monat nach Nationalität, Geschlecht und Alter (mündig/unmündig))?
ii. Wenn ja, handelt es sich um eine digitale Datenerhebung?
iii. Wenn ja, welche Personen bzw. Entitäten haben Zugang zu diesen Daten?
iv. Wenn nein, wie und von wem genau werden Daten erhoben und wo werden sie für wen abrufbar gespeichert?
4. Welche Akteure sind für die Vermisstenanzeigen von UMFs zuständig?
a. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit inkl. Zuständigkeitsbereiche zwischen den verschiedenen Akteuren, wie Polizei, Asyl-, Sozial- und Jugendämter?
b. Verfügen diese Akteure über gemeinsame Richtlinien im Falle des Verschwindens von UMFs, um eine angemessene und schnelle Reaktion auf einen Fall zu erzielen?
i. Wenn ja, welche Behörden sind für die Ausarbeitung welcher Richtlinien, die nach welchen Kriterien ausgearbeitet wurden, zuständig?
ii. Wenn ja, wer kontrolliert wie oft und auf welche Art und Weise die Einhaltung dieser Richtlinien?
iii. Wenn nein, wieso nicht?
iv. Wenn nein, wem ist die Zuständigkeit für die Ausarbeitung welcher bestehenden Richtlinien überlassen?
5. Welche Verfahrensschritte werden im Falle der Abgängigkeit eines UMFs von welchen Behörden unternommen?
a. Nach welchen Richtlinien oder Kriterien wird festgestellt, ab wann ein UMF als vermisst gilt?
a. Nach welchen Richtlinien oder Kriterien wird festgestellt, welche Behörden oder welche Akteure für die Vermisstenanzeige zuständig sind?
b. Nach welchen Richtlinien oder Kriterien wird festgestellt, welche Behörden oder welche Akteure für die Vermisstenfahndung zuständig sind?
c. Nach welchen Richtlinien oder Kriterien wird festgestellt, welche Behörden oder welche Akteure für die Überprüfung über die Entwicklung der Vermisstenfahndungen zuständig sind?
6. Laut der oben genannten parlamentarischer Anfragebeantwortung 38/AB stellten im Zeitraum von Jänner bis Oktober 2019 845 UMF einen Asylantrag in Österreich. Von diesen wurden, wie sich durch die selbe parlamentarische Anfragebeantwortung herausstellt, nur 170 zum Verfahren zugelassen. 675 (80 %) Minderjährige stellten somit zwar einen Antrag, kamen aber nicht in das Asylverfahren. Rechnet man die volljährig erklärte UMF weg, bleiben immer noch 471 Kinder (mehr als die Hälfte), bei denen das Asylverfahren eingestellt wurde. Verfahrenseinstellungen erfolgen laut der Beantwortung, wenn sich eine Person „dem Verfahren entzieht oder freiwillig ausreist“.
a. In Frage 5f wird angeführt, dass keine Fälle von Kinderhandel/Menschenhandel vorliegen. Ausgehend von der großen Zahl von verschwundenen Kinder –
i. Wie stellt das BMI sicher, dass keines der verschwundenen Kinder Opfer von Kinderhandel oder Menschenhandel wurde?
ii. Was veranlasst das Ministerium dazu, davon auszugehen, dass die Minderjährigen nicht Opfer von Kinderhandel oder Menschenhandel wurden?
b. In der Beantwortung zu Frage 5a bis 5e führt das BMI aus, dass bei mündigen Minderjährigen eine Meldung an den Obsorgeträger ergeht und dieser die weiteren Veranlassungen trifft. Die oben beschriebenen 471 verschwundenen Kinder verschwinden im Zulassungsverfahren. Zu diesem Zeitpunkt gibt es noch keinen Obsorgeträger bei mündigen Minderjährigen.
i. Ist sich dieser Tatsache das BMI bewusst?
ii. Da es keinen Obsorgeträger gibt, wer wird genau verständigt und wer trifft die weiteren Veranlassungen? Wie gestalten sich diese Veranlassungen?
7. Welche grenzüberschreitenden Netzwerke existieren, um Daten zu in Österreich vermissten UMFs international besser erheben zu können?
8. Konnten durch diese Netzwerke Gründe für das Verschwinden von UMFs erhoben werden?
a. Wenn ja, welche Gründe konnten für das Verschwinden von wie vielen UMFs seit 1.1.2015 erhoben werden (bitte um Aufschlüsselung pro Monat nach Nationalität, Geschlecht, Alter (mündig/unmündig), und aus welchen Unterkünften diese verschwunden sind)?
b. Wenn nein, wieso nicht?
9. Sieht Österreich bei Vermisstenfahndungen von UMFs Ausschreibungen im Schengener Informationssystem (SIS) vor?
a. Wenn ja, wie viele vermisste UMFs wurden seit 1.1.2015 beim SIS gemeldet (bitte um Aufschlüsselung pro Monat nach Nationalität, Geschlecht, Alter (mündig/unmündig) und aus welchen Unterkünften diese verschwunden sind)?
b. Wenn ja, welche Gründe für das Verschwinden von wie vielen UMFs konnten dadurch seit 1.1.2015 erhoben werden (bitte um Aufschlüsselung pro Monat nach Nationalität, Geschlecht, Alter (mündig/unmündig) und aus welchen Unterkünften diese verschwunden sind)?
c. Wenn nein, wieso nicht?
10. Werden von Österreich Zusatzinformationen zu vermissten UMFs über das SIRENE-Büro ausgetauscht?
a. Wenn ja, welche Gründe für das Verschwinden von wie vielen UMFs konnten dadurch seit 1.1.2015 erhoben werden (bitte um Aufschlüsselung pro Monat nach Nationalität, Geschlecht, Alter (mündig/unmündig), und aus welchen Unterkünften diese verschwunden sind)?
b. Wenn nein, wieso nicht?
11. Hat das BMI sich in der Vergangenheit zu einer einheitlichen europaweiten Datenerhebung zu vermissten UMFs geäußert?
a. Wenn ja, wann wurden welche Bedenken seit 1.1.2015 von wem in welcher Form an wen formuliert?
12. Unterstützt das BMI jene NGOs und andere Betreiber_innen von Schutzquartieren, wenn diese trotz Bedarf nicht ausreichend Kapazitäten zur Verfügung stehen?
13. Wie wird der Höchstbetrag für den Tagsatz für UMFs berechnet?
a. Warum wird er nicht erhöht?
b. Warum beträgt der Tagsatz für UMFs weniger als bei fremduntergebrachten österreichischen Kindern?
14. Wie viele Laptops und nötigen Geräte stehen und standen zur Verfügung, um während bestehenden COVID-19 Maßnahmen Kindern den Zugang zu e-learning zu gewährleisten (bitte um Aufzählung welcher Geräte und welchen Materials pro Kind und Unterkunft)?
15. Welche Einheiten kontrollieren in welchem Zeitabstand die Ausstattung der Häuser und Heime?
16. Welchen Beitrag leistet das BMI zur Verbesserung der Unterkünfte und Bedürfnissen von UMFs bezüglich:
a. kleineren WGs mit genügend Betreuer_innen?
b. psychologischer Unterstützung?
c. Freizeitaktivitäten?
d. Ausbildungspflicht (derzeit nicht bestehend) für UMFs?
e. Finanzierung für eine unabhängige Rechtsberatung?