5052/J XXVII. GP
Eingelangt am 20.01.2021
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Anfrage
der Abgeordneten Julia Herr,
Genossinnen und Genossen
an den Bundesminister für Arbeit, Familie und Jugend
Zu Beginn Ihrer Amtszeit haben Sie an mehreren Stellen Interviews gegeben, in denen auf Grund der herrschenden Rekordarbeitslosigkeit Fragen zu Arbeitslosengeld und Langzeitarbeitslosigkeit gestellt wurden. Darin erteilten Sie einer Erhöhung des Arbeitslosengeldes auf 70% der Nettoersatzrate eine Absage. Stattdessen verweisen Sie auf Ihre Aussagen als IHS-Chef, wonach Sie die Einführung eines degressiven Arbeitslosengeld-Modells befürworten, das, wie Sie beispielsweise im derstandard.at-Interview vom 14. Jänner 2021 sagen, schlussendlich auch unter den aktuellen Wert von 55% der Nettoersatzrate fallen kann.
Der Druck am Arbeitsmarkt ist heute bereits sehr hoch: Auf 520.000 Arbeitslose kommen gerade mal 50.000 offene Stellen. Das ist ein Verhältnis von 1:10! Zugleich finden sich Arbeitslose bereits heute harschen Folgen ausgesetzt, wenn sie Schulungen oder offene Stellen nicht annehmen. So kann dem Ablehnen einer zumutbaren Beschäftigung der Anspruch auf Arbeitslosengeld gänzlich verloren gehen. Trotzdem begründen Sie Ihre Ablehnung gegenüber einem generell erhöhten Arbeitslosengeld mit dem Argument, der Anreiz einen Job zu suchen und anzunehmen, ginge damit verloren. Zugleich begründen Sie Ihre Zustimmung zu einem degressiven Arbeitslosengeld mit dem Erhöhen der Motivation und gehen dabei auf bereits bestehende Sanktionen, wie der oben erwähnte Verlust des Anspruchs auf Arbeitslosengeldes bei Ablehnung von zumutbaren Beschäftigungen nicht ein (ebenfalls beispielhaft im bereits angeführten derstandard.at-Interview).
Obwohl Sie zugleich betonen, den wissenschaftlichen Zugang und Diskurs auch als Minister beibehalten zu wollen, sprechen Sie hier von Binsenweisheiten. Entscheidungen am Arbeitsmarkt bzw. spezifisch zu Arbeitslosengeld betreffen aktuell das Leben von 520.000 Menschen. Die AnfragestellerInnen sind der Ansicht, dass solchen Entscheidungen keine unhinterfragten Binsenweisheiten zugrunde liegen sollten.
Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgende
1. Welche wissenschaftliche Grundlage deckt die, von Ihnen als „Binsenweisheit“ bezeichnete, Annahme, dass eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes den Anreiz zur Suche und Annahme eines Jobs senken würde?
2. Auf Basis welcher wissenschaftlicher Annahmen kommen Sie zur Annahme, dass ein degressives Arbeitslosengeldmodell, welches zu Anfangs höher ist und dann gar unter den aktuellen Wert von 55% Nettoersatzrate sinkt, hilft, Menschen in Beschäftigung zu bringen?
3. Sie sagen selbst, dass Studien zum Thema Arbeitslosigkeit und Arbeitslosengeld rar sind. Werden Sie Studien zum Vergleich des aktuellen Arbeitslosenmodell mit einer grundsätzlichen Erhöhung auf 70% der Nettoersatzrate auf der einen und einem degressiven Modell auf der anderen Seite in Auftrag geben?
a. Werden Sie ein Ergebnis einer solchen Studie vor dem Setzen weiterer Schritte abwarten?
b. Werden diese Studien auch soziale und gesundheitliche Folgen für betroffene Personen und die Gesamtgesellschaft inkludieren?
4. Die Zahl der Langzeitarbeitslosigkeit lag den AMS Zahlen für Dezember 2020 zufolge bei 81.513. Auch ein Jahr zuvor waren bereits 49.020 Menschen von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen. Auf die Frage nach einer Wiederbelebung der Aktion 20.000 antworten Sie im derstandard.at-Interview (14.1.2021) mit: „Langzeitarbeitslose, die aufgrund der Pandemie ihren Job verloren haben und keinen bekommen, sind weniger stigmatisiert als Arbeitslose vor der Krise. Aber es stimmt, wir müssen uns ohne Scheuklappen dem Problem stellen. Es wird den Begriff "Aktion 20.000" nicht mehr geben. Es gibt auch jetzt aktive Beschäftigungsmodelle. Mein Zugang ist pragmatisch. Die Aktion 20.000 hat in gewissen Bereichen funktioniert, in der Breite war sie zu groß angesetzt.“ Darin erteilen Sie nur dem Begriff „Aktion 20.000“ eine Absage, dem Ansatz selbst jedoch nicht vollständig. Welche Maßnahmen zur Senkung der Langzeitarbeitslosigkeit werden Sie setzen?
a. Ist eine Wiederbelebung der Aktion 20.000 unter einem anderen Namen geplant?
b. Wie soll ein neues oder ähnliches Konzept gegen Langzeitarbeitslosigkeit ausschauen?
5. Haben Sie oder Ihr Ministerium Studien, Daten oder wissenschaftliche Grundlagen, wie sich das von Ihnen angesprochene degressive Arbeitslosengeldmodell auf Langzeitarbeitslose auswirken wird?
a. Wenn ja, wie lauten deren Aussagen?
b. Wenn nein, bis wann planen Sie diese zu erheben und zu veröffentlichen?
6. Arbeitslose sind bereits jetzt verpflichtet Schulungen und Jobangeboten nachzukommen. Beispielsweise kann der Anspruch auf Arbeitslosengeld verloren gehen, wenn die Annahme einer zumutbaren Beschäftigung abgelehnt wird. Ist dies nicht bereits Anreiz genug, eine Beschäftigung zu suchen und anzunehmen?
a. Wenn ja, warum befürworten Sie dann trotzdem ein degressives Arbeitslosengeld mit der Begründung, die Motivation bei der Jobsuche erhöhen zu wollen?
b. Wenn nein, welche zusätzliche Anreize liefert ein degressives Arbeitslosengeldmodell zur aktuellen Regelung?
7. Im bereits genannten derstandard.at-Interview begegnen Sie dem Einwand gegen ein degressives Arbeitslosengeldmodell, wonach aktuell auf 520.000 Arbeitslose nur 50.000 offene Stellen kommen, mit der Aussage, dass dieses Verhältnis von 1:10 hoffentlich nur zeitlich der Fall sein wird. Bei welchem Verhältnis sind für Sie die Voraussetzungen für ein degressives Arbeitslosengeld gegeben?
a. Mit welcher Begründung?
8. Auf der Seite des Öffentlichen Gesundheitsportals Österreichs (gesundheit.gv.at) werden neben den finanziellen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auch die gesundheitlichen angeführt: Durch Stress, Ausschluss aus sozialen Kontakten, Verlust von Anerkennung und Überforderung kommt es zu Unwohlsein, psychosomatischen Beschwerden wie Kopf- und Rückenschmerzen, Niedergeschlagenheit, Lebensunzufriedenheit, Verringerung des Selbstwertgefühls, Angst sowie Depression, aber auch zu Erhöhung des Körpergewichts, Erhöhung des Blutdrucks, Erhöhung des Cholesterinspiegels, Übergang bereits vorhandener Erkrankungen in einen chronischen Zustand, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Erschöpfungszustände sowie allgemeine Schwächung des Immunsystems und damit erhöhte Infektionsanfälligkeit.
a. Inwieweit berücksichtigen Sie gesundheitliche Folgen für arbeitslose Personen in Ihren Überlegungen zu Arbeitsmarkt und Arbeitslosengeld?
b. Inwieweit berücksichtigen Sie deren gesamtgesellschaftlichen Kosten - wie die Auswirkungen auf unser Gesundheitssystem - in Ihren Überlegungen zu Arbeitsmarkt und Arbeitslosengeld?
c. Inwieweit berücksichtigen Sie einen noch höheren Stressfaktor in einem degressive Arbeitslosengeldmodell bei Ihren Überlegungen zu Arbeitsmarkt und Arbeitslosengeld?
d. Inwieweit berücksichtigen Sie die hemmende Wirkung gesundheitlicher Folgen durch Arbeitslosigkeit bei der Suche nach Arbeit?
e. Verstärkt eine Darstellung von Arbeitslosen als unzureichend motiviert, wie dies einem degressiven Arbeitslosengeldmodell zugrunde liegt, nicht den Druck auf und die Stigmatisierung von Arbeitslosen und damit auch die daraus resultierenden gesundheitlichen Folgen?
f. Ist dieses Modell daher nicht kontraproduktiv für das Ziel, Menschen rasch in Beschäftigung zu bringen?