6197/J XXVII. GP

Eingelangt am 09.04.2021
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Anfrage

der Abgeordneten Rainer Wimmer, Genossinnen und Genossen

an den Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz

betreffend Kostenexplosion bei der Sozialversicherungsreform

 

Die Politik der türkis-blauen Bundesregierung war von Beginn an gegen die Interessen der ArbeitnehmerInnen und ihre Institutionen gerichtet: Traurige Höhepunkte der ersten Kanzlerschaft von Sebastian Kurz waren die massiven Verschlechterungen im Bereich der Arbeitszeit (12-Stunden-Tag/60-Stunden Woche) und die Zerschlagung des bestehenden österreichischen Sozialversicherungssystems. Berechtigte Kritik kam damals von vielen Seiten, auch von den Grünen. Im gemeinsamen Gesetzesantrag 260/A-BR/2019, der gemeinsam von BundesrätInnen der SPÖ und der Grünen eingebracht wurde, wird u.a. die „undemokratische Struktur der Gremien und den Entzug von Mittel für die Krankenversicherung“ kritisiert.

Wesentliche Elemente der türkis-blauen Sozialversicherungsreform wurden vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben und einzelne Vorgänge rund um dieses Gesetzesprojekt sind gängiges Thema im aktuellen parlamentarischen Untersuchungsausschuss (Stichwort PRIKRAF). Problematisch sind jedoch nicht nur die aufklärungswürdigen politischen Begleitumstände und die verfassungswidrigen Bestimmungen, sondern vor allem die massiven Kosten für diese Zerschlagung eines bis dato gut funktionierenden Sozialversicherungssystems.

Von der in der damaligen Regierungspropaganda vom Bundeskanzler abwärts versprochenen „Patientenmilliarde“ fehlt jede Spur. Auf der Homepage des Bundeskanzleramts ist jedoch noch immer zu lesen[1]:

Finanziell soll der Umbau bis 2023 eine Milliarde Euro bringen, zunächst bis 2021 rund 200 Millionen Euro, danach 300 Millionen Euro bis 2022 und bis 2023 weitere 500 Millionen Euro, die in die Stärkung des niedergelassenen Bereichs – also mehr Kassen- und Landärzte – fließen soll. Bundeskanzler Kurz sprach von einer "Patientenmilliarde", die direkt den Versicherten zugutekommen soll.

Dass die vollmundig versprochenen Einsparungen nicht realisiert werden können und es die „Patientenmilliarde“ nicht geben wird, stand schon lange vor Beginn der Corona-Krise fest, als ÖVP und FPÖ ihre Sozialversicherungsreform trotz lautstarker Warnungen vieler ExpertInnen durchpeitschten. Die Pandemie daher als Begründung für das Scheitern in Hinblick auf die versprochenen Ziele vorzuschieben, wäre daher mehr als unseriös.

Peter Lehner, der aktuell den halbjährlich wechselnden Vorsitz des Dachverbands der Sozialversicherungsträger innehat und dem ÖVP-Wirtschaftsbund entstammt, antwortete im Februar 2021 im Presse-Interview[2] auf die Frage nach der „Patientenmilliarde“ mit bemerkenswerter Offenheit:

„Die Patientenmilliarde steckt in jeder Leistung, die wir erbringen, und allein schon in der Maxime zu sagen, es gibt keine Leistungskürzungen. (…)
Auch in der ÖGK gibt es Beispiele, wo in Patientenleistungen investiert wird. Das ist ja das, was versprochen wurde. Niemand hat gesagt, am Ende bleibt eine Milliarde übrig, die verteilt wird.“

Werner Salzburger (AAB-FCG), Vorsitzender des Landesstellenausschusses Tirol der ÖGK und davor langjähriger Obmann der Tiroler Gebietskrankenkasse stellte im März 2021 in einem Interview mit der „Tiroler Arbeiterzeitung“[3] fest:

„Die Patientenmilliarde wird nie zu erreichen sein.“

Dass diese Aussage der obersten ÖVP-Vertreter in der Sozialversicherung in direktem Widerspruch zu dem von Ihnen abgegebenen Versprechen steht, lässt zwei mögliche Schlüsse zu: Entweder irren Lehner und Salzburger und die Versicherten dürfen weiterhin auf die versprochene „Patientenmilliarde“ hoffen und warten. Oder die versprochene „Patientenmilliarde“ war von vornherein ein Propaganda-Element der türkisen Message Control, um die Bevölkerung über die wahren Absichten hinter der Sozialversicherungsreform zu täuschen.

 

Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgende

ANFRAGE

 

1.    Inwieweit kalkulieren Sie noch mit den im obig angeführten Zitat berechneten Einsparungseffekten der Sozialversicherungsreform?

 

a.    Wurden diese Berechnungen offiziell revidiert?

b.    Wurden neue Berechnungen angestellt?

c.    Haben Sie vor, neue Berechnungen in Auftrag zu geben und zu veröffentlichen, um hier Kostenwahrheit und –transparenz herzustellen?

 

2.    Wie hoch ist der Gesamtbetrag der Kosten, die bisher im Zuge der Sozialversicherungsreform mittelbar und unmittelbar angefallen sind?


Unter „Kosten der Sozialversicherungsreform“ werden alle Aufwendungen verstanden, die ohne Durchführung der Sozialversicherungsreform nicht angefallen wären, d.h. Fusionskosten im weitesten Sinne wie beispielsweise Vertragsänderungskosten, neue CI und Logos, Vorbereitungsmaßnahmen für die Zusammenlegung der SV-Träger, Mehraufwand in Verwaltung wie Überstunden etc. Es wird um Aufschlüsselung nach den einzelnen Positionen und Sozialversicherungsträger bzw. Hauptverband/Dachverband ersucht.

 

3.    Wie hoch ist der zu erwartende Gesamtbetrag der Kosten im Sinne der Frage 2., die bis zum Ende des Jahres 2023 zu erwarten sind?

 

Um Aufschlüsselung wie in Frage 2. wird ersucht.

 

4.    Welche Kosten sind zusätzlich durch die Aufhebung einzelner Bestimmungen durch den Verfassungsgerichtshof (wie beispielsweise die geplante Verschiebung der Beitragsprüfung zu den Finanzbehörden, die wieder rückgängig gemacht werden musste) entstanden?

 

5.    Wann können die Versicherten mit der von Bundeskanzler Sebastian Kurz versprochenen „Patientenmilliarde“ rechnen bzw. was bedeutet es konkret in Hinblick auf den Leistungskatalog, dass diese „direkt den Versicherten zugutekommen soll“, wie auf der Homepage des Bundeskanzleramtes angeführt?



[1] https://www.bundeskanzleramt.gv.at/bundeskanzleramt/nachrichten-der-bundesregierung/2017-2018/bundeskanzler-kurz-sozialversicherungsreform-bringt-patientenmilliarde-.html

[2] https://www.diepresse.com/5937709/sozialversicherung-chef-spiel-mit-der-angst-der-menschen?from=rss

[3] AK Tiroler Arbeiterzeitung Nr. 138 (März 2021), Seite 8