6257/J XXVII. GP
Eingelangt am 09.04.2021
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Anfrage
der Abgeordneten Rainer Wimmer, Genossinnen und Genossen
an die Präsidentin des Rechnungshofes
betreffend Kostenexplosion bei der Sozialversicherungsreform
Im Dezember 2018 wurde die von der damaligen türkis-blauen Bundesregierung vorgelegte Sozialversicherungsreform beschlossen. Die Kritik im Vorfeld war laut und kam nicht nur von den Oppositionsparteien, sondern auch von zahlreichen ExpertInnen, Interessensvertretungen und anderen Einrichtungen. Auch der Rechnungshof äußerte seine Bedenken zu vielen Punkten, sie wurden jedoch von der Bundesregierung ebenso wie alle anderen Warnungen geflissentlich ignoriert.
Wesentliche Elemente dieser Reform wurden vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben und einzelne Vorgänge rund um dieses Gesetzesprojekt sind gängiges Thema im aktuellen parlamentarischen Untersuchungsausschuss (Stichwort PRIKRAF). Problematisch sind jedoch nicht nur die aufklärungswürdigen politischen Begleitumstände und die verfassungswidrigen Bestimmungen, sondern vor allem die massiven Kosten für diese Zerschlagung eines bis dato gut funktionierenden Sozialversicherungssystems.
Die damalige Regierungspropaganda vom Bundeskanzler abwärts versprach eine „Patientenmilliarde“, die sich ihrer Darstellung zufolge aus den durch die Zusammenlegung erreichten Einsparungen finanzieren würde. Auf der Homepage des Bundeskanzleramts ist noch immer zu lesen[1]:
Finanziell soll der Umbau bis 2023 eine Milliarde Euro bringen, zunächst bis 2021 rund 200 Millionen Euro, danach 300 Millionen Euro bis 2022 und bis 2023 weitere 500 Millionen Euro, die in die Stärkung des niedergelassenen Bereichs – also mehr Kassen- und Landärzte – fließen soll. Bundeskanzler Kurz sprach von einer "Patientenmilliarde", die direkt den Versicherten zugutekommen soll.
Die Beurteilung dieser türkis-blauen Rechenspiele durch den Rechnungshof fiel, zugespitzt formuliert, vernichtend aus. In seiner Stellungnahme zum Entwurf des Sozialversicherungs-Organisationsgesetzes[2], die knapp einen Monat nach dem obigen Homepageartikel veröffentlicht wurde, führt er u.a. Folgendes aus:
Die im Entwurf enthaltene Darstellung der finanziellen Auswirkungen der Reform der Organisation der Sozialversicherungsträger ist aus Sicht des RH als ungenügend zu bezeichnen. Der Nachweis zum Einsparungspotenzial der oben erwähnten 1 Mrd. EUR fehlt. Die Darstellung entspricht nicht den Anforderungen gemäß § 17 BHG 2013. Sie unterscheidet sich von den öffentlich genannten finanziellen Zielsetzungen, ist unvollständig, basiert auf nicht nachvollziehbaren Grundlagen.
Konkret kritisiert der Rechnungshof das Fehlen von transparenten und nachvollziehbaren Berechnungsgrundlagen und zweifelt einige der in den Materialien zur Regierungsvorlage angeführten Berechnungen an. Die Abschätzung der Kosten ist seiner Ansicht nach unvollständig, da die Fusionskosten nicht bewertet und damit nicht in die Berechnung einbezogen wurden.
Dass die vollmundig versprochenen Einsparungen nicht realisiert werden können und es die von Bundeskanzler Sebastian Kurz versprochene „Patientenmilliarde“ nicht geben wird, stand schon lange vor Beginn der Corona-Krise fest. So hat beispielsweise die Österreichische Ärztekammer bereits Mitte des Jahres 2019 die errechnete Einsparung von einer Mrd. Euro als „Wunschdenken“ bezeichnet und vor negativen Auswirkungen auf die PatientInnen gewarnt[3]. Die Pandemie als Begründung für das Scheitern in Hinblick auf die versprochenen Ziele vorzuschieben, wäre daher für die Verantwortlichen dieses Reformdesasters zwar verlockend, aber nicht seriös.
Seit der Umsetzung dieses türkis-blauen Prestige-Projekts ist mittlerweile mehr als ein Jahr vergangen und aktuell ist es still um die Sozialversicherungsreform. Das kommt dem damaligen und aktuellen Bundeskanzler Sebastian Kurz wahrscheinlich nicht ungelegen. Es ist nämlich zu befürchten, dass bei genauer Betrachtung und strenger Rechnung durch diese Sozialversicherungsreform keine Einsparungen, sondern Mehrkosten entstanden sind.
Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgende
ANFRAGE
1. Der Rechnungshof hat die Berechnungen der damaligen türkis-blauen Bundesregierung und Bundeskanzler Kurz über die Einsparungseffekte der Sozialversicherungsreform von Beginn an als nicht nachvollziehbar und intransparent bezeichnet. Angezweifelt wurde insbesondere das kolportierte Einsparungspotenzial in Höhe von einer Milliarde Euro. Sehen Sie Ihre damals geäußerten Bedenken mittlerweile als bestätigt an?
a. Wurden vonseiten des Rechnungshofs diesbezüglich neue Berechnungen aufgrund von inzwischen neu verfügbarem Zahlenmaterial angestellt?
b. Haben Sie vor, diesbezüglich neue Berechnungen anzustellen und zu veröffentlichen?
2. Ist die eingangs zitierte Behauptung, dass diese Sozialversicherungsreform „bis 2023 eine Milliarde Euro bringen [soll], zunächst bis 2021 rund 200 Millionen Euro, danach 300 Millionen Euro bis 2022 und bis 2023 weitere 500 Millionen Euro“ Ihren Berechnungen nach haltbar?
a. Wären die Zahlen aus dieser Behauptung ohne Eintritt der Covid19-Pandemie haltbar gewesen?
3. Wie hoch schätzen Sie den Gesamtbetrag der Kosten ein, die bisher im Zuge der Sozialversicherungsreform mittelbar und unmittelbar angefallen sind?
Unter „Kosten der Sozialversicherungsreform“ werden alle
Aufwendungen verstanden, die ohne Durchführung der
Sozialversicherungsreform nicht angefallen wären, d.h. Fusionskosten im
weitesten Sinne wie beispielsweise Vertragsänderungskosten, neue CI und
Logos, Vorbereitungsmaßnahmen für die Zusammenlegung der
SV-Träger, Mehraufwand in Verwaltung wie Überstunden etc. Es wird um
Aufschlüsselung nach den einzelnen Positionen und
Sozialversicherungsträger bzw. Hauptverband/Dachverband ersucht.
4. Wie hoch ist der zu erwartende Gesamtbetrag der Kosten im Sinne der Frage 3., die bis zum Ende des Jahres 2023 ihrer Einschätzung nach zu erwarten sind?
Um Aufschlüsselung wie in Frage 3. wird ersucht.
5. Wie hoch schätzen Sie die Kosten ein, die zusätzlich durch die Aufhebung einzelner Bestimmungen durch den Verfassungsgerichtshof (wie beispielsweise die geplante Verschiebung der Beitragsprüfung zu den Finanzbehörden, die wieder rückgängig gemacht werden musste) entstanden sind?
6. Bewertet der Rechnungshof auf Basis der ihm vorliegenden Informationen die Umsetzung der von Bundeskanzler Sebastian Kurz versprochenen „Patientenmilliarde“ in der eingangs dargestellten Form als realistisch?
[1] https://www.bundeskanzleramt.gv.at/bundeskanzleramt/nachrichten-der-bundesregierung/2017-2018/bundeskanzler-kurz-sozialversicherungsreform-bringt-patientenmilliarde-.html
[2] https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVI/SNME/SNME_02603/imfname_714719.pdf
[3] https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20190718_OTS0112/oeaek-oegk-fehleinschaetzung-nicht-zu-lasten-der-versorgung