6316/J XXVII. GP

Eingelangt am 15.04.2021
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Anfrage

 

des Abgeordneten Mario Lindner, Genossinnen und Genossen,

an die Bundesministerin für Justiz

 

betreffend freier Zugang zu alternativen Geschlechtseinträgen

 

Mit dem VfGH-Entscheid G77/2018 wurde in Österreich ein alternativer Geschlechtseintrag geschaffen und damit eine langjährige Forderung für die Selbstbestimmung intergeschlechtlicher Menschen umgesetzt. Die Umsetzung dieses Entscheids durch die damalige Bundesregierung ließ lange auf sich Warten und wurde erst durch einen vielfach kritisierten Erlass des damaligen Innenministers Kickl verwirklicht. Die aktuelle Bundesregierung setzte sich in ihrem Regierungsprogramm entsprechend die „Umsetzung des VfGH-Urteils G 77/2018" (Seite 275) als klares Ziel. Dieses Vorhaben wurde im Jahr 2020 durch die Vollzugsanleitung des Bundesministeriums für Inneres bez. „Geschlechtseintrag bei Menschen, die weder männlich noch weiblich sind“ in Angriff genommen.

 

Auch wenn mit dieser Vollzugsanleitung einige, insbesondere von intergeschlechtlichen Selbstvertretungsorganisationen stark kritisierte, Regelungen in Hinblick auf alternative Geschlechtseinträge geändert und mit den Einträgen offen, inter und divers, sowie mit der Möglichkeit keines Eintrags, neue Wege eröffnet wurden, so bleibt die generellen Pathologisierung von intergeschlechtlichen Menschen doch weiterhin aufrecht und der Zugang zu alternativen Geschlechtseinträgen allein auf Personen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung begrenzt – die geforderte echte Selbstbestimmung beim Geschlechtseintrag bleibt aus.

 

Diese Fixierung auf körperliche Geschlechtsmerkmale und deren weitere Pathologisierung im Personenstandsrecht steht aber nach Ansicht vieler Expert*innen im Gegensatz zum ausführlichen Entscheid des Verfassungsgerichtshofes. Dieser bezog trotz seiner Fokussierung auf die gegenständliche Thematik von Intergeschlechtlichkeit die breitere Fragestellung von Geschlechtsidentitäten mit ein. Unter Berufung auf Art.8 EMRK – dem s.g. „Recht auf Privatsphäre“ – warf das Gericht nicht nur die Thematik von Intergeschlechtlichkeit, sondern auch von Transidentität auf und stellt unter anderem fest:

 

„4.1. Gemäß Art8 Abs1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens. Art8 EMRK stellt die menschliche Persönlichkeit in ihrer Identität, Individualität und Integrität unter Schutz und ist dabei auch auf den Schutz der unterschiedlichen Ausdrucksformen dieser menschlichen Persönlichkeit gerichtet (VfSlg 19.662/2012, 19.665/2012, 20.100/2016; EGMR 24.10.1993, Fall Guillot, Appl. 22.500/93 [Z21 f.]; 7.2.2002, Fall Mikulić, Appl. 53.176/99 [Z53 f.]; 11.7.2002 [GK], Fall Goodwin, Appl. 28.957/95 [Z90]; 12.6.2003, Fall Van Kück, Appl. 35.968/97 [Z69]). In den von Art8 EMRK geschützten persönlichen Bereich fällt auch die geschlechtliche Identität und Selbstbestimmung (siehe EGMR 6.4.2017, Fall A.P., Garçon und Nicot, Appl. 79.885/12, 52.471/13 und 52.596/13 [Z92 f. mwN]). Die geschlechtliche Identität bezieht sich dabei auf einen besonders sensiblen Bereich des Privatlebens einer Person (vgl. EGMR, Fall Van Kück, Z72).

Dieses von Art8 Abs1 EMRK gewährleistete Recht auf individuelle Geschlechtsidentität umfasst auch, dass Menschen – nach Maßgabe des Absatzes 2 dieser Verfassungsbestimmung – (nur) jene Geschlechtszuschreibungen durch staatliche Regelung akzeptieren müssen, die ihrer Geschlechtsidentität entsprechen.“[1]

 

Entscheidend ist nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofes für den Zugang zu alternativen Geschlechtseinträgen also nicht nur die medizinische Definition von Varianten der Geschlechtsentwicklung, sondern die von Art.8 EMRK geschützte individuelle Geschlechtsidentität. Konsequenterweise würde diese klare Zielsetzung im Personenstandsrecht also nicht nur die Entpathologisierung des Zugangs zu alternativen Geschlechtseinträgen für intergeschlechtliche Personen, sondern auch die generelle Öffnung dieses Zugangs für transidente Menschen, deren individuelle Geschlechtsidentität nicht im binären Spektrum von männlich und weiblich verortet ist, bedeuten. Diese wichtigen Schritte zu einem selbstbestimmten Personenstand ermöglicht die österreichische Bundesregierung bisher trotz vielfacher Kritik noch nicht.

 

Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgende

 

 

Anfrage:

 

1.    Ist aus Sicht Ihres Ministeriums die, im Regierungsprogramm verankerte, Zielsetzung „Umsetzung des VfGH-Urteils G 77/2018" erfüllt?

a.    Wenn nein, welche Maßnahmen und Schritte planen Sie zur vollständigen Umsetzung?

2.    Ist aus Sicht Ihres Ministeriums die Pathologisierung von Personen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung beim Zugang zu alternativen Geschlechtseinträgen mit dem, vom VfGH festgestellten, Recht auf Anerkennung der individuellen Geschlechtsidentität vereinbar?

a.    Wenn ja, warum?

b.    Wenn nein, planen Sie Maßnahmen, um diesen Missstand zu beenden?

3.    Ist aus Sicht Ihres Ministeriums der Ausschluss von transidenten Personen vom Zugang zu alternativen Geschlechtseinträgen unter Hinblick auf das, vom VfGH festgestellten, Recht auf Anerkennung der individuellen Geschlechtsidentität vereinbar?

a.    Wenn ja, warum?

b.    Wenn nein, planen Sie Maßnahmen, um diesen Missstand zu beenden?

4.    Arbeitet Ihr Ministerium, in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Inneres, an einer Neuregelung des Zugangs zu alternativen Geschlechtseinträgen mit dem Ziel einer Entpathologisierung und Fokussierung auf, die vom VfGH argumentierte, individuelle Geschlechtsidentität?

a.    Wenn ja, wann wird eine entsprechende neue Vollzugsanleitung veröffentlicht?

b.    Wenn nein, warum sehen Sie keinen Handlungsbedarf? Bitte begründen Sie Ihre Antwort.



[1] https://www.ris.bka.gv.at/Dokument.wxe?Abfrage=Vfgh&Dokumentnummer=JFT_20180615_18G00077_00