6543/J XXVII. GP
Eingelangt am 05.05.2021
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Anfrage
der Abgeordneten Dr. Stephanie Krisper, Kolleginnen und Kollegen
an den Bundeskanzler
betreffend Archivierungspflicht vs. Vernichtung und Löschen: Was wurde wann vom Kanzler gelöscht und warum?
Das Bundesarchivgesetz sieht in § 5 Abs 1 eine unmissverständliche Archivierungspflicht für sämtliche Bundesdienststellen vor:

In § 6 Abs 3 Bundesarchivgesetz findet sich eine Sonderregel für das Schriftgut, dass unmittelbar beim (u.a.) Bundeskanzler anfällt:

Zur Frage der Definition von "Schriftgut" verweist das Bundesarchivgesetz in seinen Begriffsbestimmungen auf die Definition von Schriftgut in § 25 Abs 2 Denkmalschutzgesetz, „ausgenommen persönliche Unterlagen wie beispielsweise Aufzeichnungen und Notizen“.
§ 25 Abs 2 Denkmalschutzgesetz ist weit formuliert:
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Zusammengefasst lässt sich die Rechtslage also wie folgt zusammenfassen: es besteht eine umfassende Archivierungspflicht; ausgenommen sind nur "persönliche Unterlagen wie beispielsweise Aufzeichnungen und Notizen."
Dessen ungeachtet wurden dem "Ibiza"-Untersuchungsausschuss keinerlei Akten bzw. Unterlagen wie Mails, SMS, Kalender, Memos, Notizen, Protokolle von Ihnen, Herr Kanzler, und dem damaligen Kanzleramtsminister Gernot Blümel aus dem Untersuchungszeitraum (Regierung "Kurz I") übermittelt. Jegliche Korrespondenz, in dessen Kenntnis der Untersuchungsausschuss gelangte, stammt aus Sicherstellungen durch StA oder WKStA und deren folglich Aktenlieferung an den Untersuchungsausschuss (Beschlagnahmung des Mobiltelefons von Strache bzw. Thomas Schmid).
Aus dem Staatsarchiv, bei welchem nach den Bestimmungen des § 6 Abs 3 Bundesarchivgesetz das Schriftgut aus dem Kabinett des Bundeskanzlers nach Ende einer Regierungsperiode zu verwahren ist, wurde seitens des Bundeskanzleramtes kein einziges Dokument ausgehoben und übermittelt - dies trotz der oben dargelegten, umfassenden und unmissverständlichen Archivierungspflicht von Schriftgut.
Sie, Herr Kanzler, erklärten dazu im Untersuchungsausschuss, dass dieses Schriftgut gelöscht worden sei.
Im Rahmen einer Beschwerde der Opposition an den Verfassungsgerichtshof vor diesem Hintergrund der mangelnden Aktenlieferung forderte der VfGH Sie auf, bis 26. April 2021 die geforderten Mails vorzulegen. Sie blieben aber dabei: die Unterlagen seien gelöscht und könnten daher nicht vorgelegt werden.
Der ehemalige Generaldirektor des Staatsarchivs wies bereits darauf hin, dass die Löschung von archivierungspflichtigem Material rechtswidrig ist:
"Sollte verwaltungsrelevantes Material vernichtet worden sein, dann widerspricht das klar dem Bundesarchivgesetz und hätte eine neue Qualität" (https://www.derstandard.at/story/2000106740065/staatsarchiv-experte-weg-bei-schredderaktionist-nicht-eingehalten-worden).
Auf Grund der umfassenden Archivierungspflicht einerseits und der unterbliebenen Aktenlieferungen an den Untersuchungsausschuss in Zusammenschau mit Ihren Äußerungen, wonach es zu umfassenden Löschungen von Schriftgut kam, andererseits, drängt sich daher der Verdacht auf, dass gegen die Bestimmungen des Bundesarchivgesetzes verstoßen wurde.
Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgende
1. In welchem Umfang wurde seitens des BKA während der Regierung "Kurz I" angefallenes Schriftgut (iSd Bundesarchivgesetzes) an das Staatsarchiv übergeben (bitte Angabe nach Anzahl an Dokumente, Datenträgern, Mails, Seitenanzahl)?
2. In welchem Umfang wurde seitens des BKA während der Regierung "Kurz I" angefallenes Schriftgut (iSd Bundesarchivgesetzes) gelöscht (bitte Angabe nach Anzahl an Dokumente, Datenträgern, Mails, Seitenanzahl)?
3. Wer war während der Regierung "Kurz I" für die Einhaltung der Bestimmungen des Bundesarchivgesetzes innerhalb des Kabinetts des Bundeskanzlers bzw. des Kabinetts des Kanzleramtsministers zuständig?
4. Welche Handlungen setzte diese Person wann, um auf jeweils welcher Ebene bzw. in welcher Entität über die Bestimmungen des Bundesarchivgesetzes zu informieren?
5. Welche Handlungen setzte diese Person wann, um auf jeweils welcher Ebene bzw. in welcher Entität über die Archivierungspflichten nach dem Bundesarchivgesetz zu informieren?
6. Welche internen Regularien wurden jeweils wann kommuniziert, um eine umfassende Umsetzung der Archivierungspflicht zu gewährleisten?
7. Wann erfuhren Sie durch diese Person von den Archivierungspflichten nach dem Bundesarchivgesetz?
8. Wann erfuhren Sie anderweitig von den Archivierungspflichten nach dem Bundesarchivgesetz?
a. Durch wen wann in welcher Form?
9. Wann wurde an Sie durch wen die Rechtsmeinung herangetragen, dass die Bestimmungen des Bundesarchivgesetzes keine Archivierungspflichten festschreiben würden?
10. Da laut Aussagen von Ihnen, Ihrer Assistent_innen und anderer Auskunftspersonen immer wieder Schriftgut gelöscht wurde: Äußerten Sie, Herr Kanzler, je Wünsche zum Umgang mit Schriftgut, das bei Ihnen bzw. den Mitarbeiter_innen Ihres Kabinetts oder des des Kanzleramtsministers anfällt?
a. Wenn ja, wann äußerten Sie welche Wünsche an wen?
11. Äußerten Sie, Herr Kanzler, je Wünsche, inwiefern Schriftgut, das bei Ihnen bzw. den Mitarbeiter_innen Ihres Kabinetts oder des des Kanzleramtsministers anfällt, zu löschen sei?
a. Wenn ja, wann äußerten Sie welche Wünsche an wen?
b. Wenn ja, in welchem Abstand wünschten Sie welches Schriftgut gelöscht zu wissen?
12. Wer war während der Regierung "Kurz I" für Regularien (auch) zum Löschen von Schriftgut jeder Art innerhalb des Kabinetts des Bundeskanzlers bzw. des Kabinetts des Kanzleramtsministers zuständig?
13. Welche Handlungen setzte diese Person wann, um auf jeweils welcher Ebene bzw. in welcher Entität Löschungen von welchem Schriftgut vorgenommen zu wissen?
14. Welche internen Regularien wurden jeweils wann kommuniziert, um Löschungen von welchem Schriftgut vorgenommen zu wissen?
15. Gab es diesbezügliche Regularien/Vorgaben formeller oder informeller Natur und wenn ja, wer erließ diese in wessen Auftrag wann?
16. Inwiefern wurde bei der Löschung von Unterlagen sichergestellt, dass es sich nicht um Schriftgut handelt, welches der Archivierungspflicht unterliegt?
17. Wer führte die von Ihnen beschriebenen Löschungen durch und in welchem Ausmaß und zeitlichen Intervallen erfolgten diese hinsichtlich der Mails im Besitz von
a. Ihnen?
b. Kanzleramtsminister Blümel?
c. Mitarbeiter_innen der Kabinette Kurz/Blümel?
18. Wer führte die von Ihnen beschriebenen Löschungen durch und in welchem Ausmaß und zeitlichen Intervallen erfolgten diese hinsichtlich der Chatnachrichten im Besitz von
a. Ihnen?
b. Kanzleramtsminister Blümel?
c. Mitarbeiter_innen der Kabinette Kurz/Blümel?
19. Wer führte die von Ihnen beschriebenen Löschungen durch und in welchem Ausmaß und zeitlichen Intervallen erfolgten diese hinsichtlich der Kalendereinträge von
a. Ihnen?
b. Kanzleramtsminister Blümel?
c. Mitarbeiter_innen der Kabinette Kurz/Blümel?
20. Wann und in wessen Auftrag erfolgten die letzten Löschungen von Mails/Chatverläufen von
a. Kanzler Kurz?
b. Kanzleramtsminister Blümel?
c. Mitarbeiter_innen der Kabinette Kurz/Blümel?
21. Wurde anlässlich des Bekanntwerden des Ibiza Videos die Löschung von Mails/Chatverläufen angeregt/durchgeführt?
a. Wenn ja, warum, in welchem Ausmaß?
b. Durch wen erfolgte die Anregung?
c. Durch wen erfolgte die Löschung?
22. Wurde anlässlich des erfolgreichen Misstrauensantrages am 27. Mai 2019 die Löschung von Mails/Chatverläufen angeregt/durchgeführt?
a. Wenn ja, warum, in welchem Ausmaß?
b. Durch wen erfolgte die Anregung?
c. Durch wen erfolgte die Löschung?
23. Wurde danach (nach dem 27. Mai 2019) die Löschung von Mails/Chatverläufen angeregt/durchgeführt?
a. Wenn ja, warum, in welchem Ausmaß?
b. Durch wen erfolgte die Anregung?
c. Durch wen erfolgte die Löschung?
24. Wann kam es jeweils zu regelmäßigen Löschungen?
25. Wann kam es jeweils zu unregelmäßigen Löschungen?
26. Inwiefern sind Löschungen aus Ihrer Sicht mit den in der Begründung genannten Archivierungspflichten zu vereinbaren?
a. Auf welche wann durch wen bei wem eingeholte Rechtsmeinung stützen Sie diese Meinung?
27. Wurden rechtliche Gutachten/Stellungnahmen zur vom BKA in der Regierungsperiode Kurz I gewählten Praxis des rigorosen Löschens eingeholt?
a. Wenn ja, wer erstellt diese wann in wessen Auftrag zu welcher Frage und mit welchem detaillierten Ergebnis?
b. Wenn nein, warum erfolgten die Löschungen dennoch?
28. Welche Schritte wurden aktuell (in Hinblick auf den Auftrag des VfGH zur Vorlage) unternommen zur Wiederherstellung gelöschter Mails?
29. Wie lange werden Backups von gelöschten Mails im BKA oder in dessen Auftrag beim BRZ gespeichert?