6838/J XXVII. GP
Eingelangt am 27.05.2021
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Anfrage
der Abgeordneten Dr. Helmut Brandstätter, Douglas Hoyos-Trauttmansdorff, Kolleginnen und Kollegen
an den Bundesminister für europäische und internationale Angelegenheiten
betreffend GASP und europäische Solidarität im globalen Sicherheitsumfeld
Österreich bezeichnet die GASP (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik) als "die politische Säule des auswärtigen Handelns der EU, zu dem auch der EU-Annäherungsprozess (vor neuen EU-Beitritten), die Europäische Nachbarschaftspolitik, der Außenhandel, die Entwicklungszusammenarbeit und die Humanitäre Hilfe zählen. Innerhalb der GASP bildet der Bereich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) ein zentrales Element" (https://www.bmeia.gv.at/europa-aussenpolitik/europapolitik/eu-aussenpolitik/gasp/).
Die GSVP legt in Artikel 42 des Vertrags über die Europäische Union den rechtlichen und institutionellen Rahmen für die militärischen Strukturen der Europäischen Union sowie für ihre militärischen Auslandseinsätze fest. In Art. 42 (7) sind die Verpflichtungen der Mitgliedsländer festgelegt: "Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung ...."
Zusätzlich formulierte die EU 2016 eine Globale Strategie mit fünf Prioritäten für die EU-Außenpolitik:
1. die Sicherheit der Union;
2. die Widerstandsfähigkeit von Staaten und Gesellschaften in der östlichen und südlichen Nachbarschaft der EU;
3. die Entwicklung eines ganzheitlichen Konzepts für den Umgang mit Konflikten, kooperative regionale Ordnungen, die Sicherheit der Union, Widerstandsfähigkeit von Staat und Gesellschaft in der östlichen und südlichen Nachbarschaft der EU;
4. ein integrierter Ansatz zur Bewältigung von Konflikten, auf Zusammenarbeit beruhende regionale Ordnungen; und
5. eine globale Ordnungspolitik für das 21. Jahrhundert.
Österreich bekennt sich durch seine Sicherheitsdoktrin zur GSVP. So stellt etwa Generalmajor Dr. Johann Frank in seinem einführenden Kapitel zur Sicherheitspolitischen Jahresvorschau 2021 die Stellung Österreichs als eingebettet in ein geopolitisches Sicherheitsumfeld von Weltmächten und regionalen Akteuren dar und schreibt: "Für Österreich ist und bleibt die Handlungsfähigkeit der EU von entscheidender Bedeutung. Daher sollte Österreich jedes Eigeninteresse haben, die strategisch-konzeptionellen Prozesse aktiv mitzugestalten und nach besten Kräften zu einer Verbesserung der sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit der EU beizutragen."
Kritisch wird, so Frank, die Frage sein, "welche Rolle die GSVP bei der Stärkung der innereuropäischen Resilienz etwa beim Schutz der Außengrenzen, beim Schutz kritischer Infrastrukturen oder bei der Bekämpfung von Pandemien oder sonstigen resilienzgefährdenden Extremereignissen spielen kann und soll."
BMLV Kabinettschef Arnold Kammel beschreibt in der selben Publikation eine zunehmend konfrontative geopolitische Lage in der globale und regionale Akteure das Völkerrecht in Frage stellen. Er zeichnet ein Risikobild bis zum Jahr 2030 in dem die relevantesten Herausforderungen "hybride Bedrohungen, sich verschärfende Konflikte im südlichen und östlichen Krisenbogen, die Weiterentwicklung der GSVP, souveränitätsgefährdende Angriffe [und] resilienzgefährdende Extremereignisse" darstellen.
Beide Autoren erkennen Österreichs Einbettung in eine vermehrt konfliktgefährdete Welt, in der allerdings nicht klassische, sondern hybride Konflikte und andere, meist grenzüberschreitende Gefahren, die Hauptbedrohung darstellen. Daher stellt die GSVP eine Hauptsäule der österreichischen Sicherheitspolitik dar. So stellt Kammel fest: "Angesichts der Herausforderungen, die nicht mehr alleine national bewältigt werden können, muss der Trend zu Kooperationen als Grundprinzip der Verteidigungspolitik verstärkt werden. Viele der auch für Österreich relevanten Krisen sind nur in Zusammenarbeit mit anderen Staaten oder Staatsbündnissen lösbar. Dies lässt sich meist nur durch die aktive Mitwirkung Österreichs an der Weiterentwicklung der GSVP beantworten."
Nun überführte die tschechische Regierung nach Jahren von Ermittlungen den russischen Militärgeheimdienst GRU, im Jahr 2014 ein tschechisches Waffenlager gesprengt zu haben. Zwei Tschechen kamen dabei ums Leben und die tschechische Armee musste wochenlang Aufräumungsarbeit leisten. Der Grund für den Anschlag ist der hybride Krieg Russlands in der Ostukraine: Im gesprengten Depot waren Waffen für die Ukraine gelagert. Ein Angriff eines militärischen Geheimdienstes gegen eine militärische Einrichtung eines anderen Staates auf dessen Hoheitsgebiet deckt sich mit den Definitionen für hybride Kriegsführung, souveränitätsgefährdenden Terrorangriffen und Attacken gegen strategische Infrastruktur, welche in der Sicherheitspolitischen Jahresvorschau wiederholt aufgeführt und beschrieben werden.
Auf die Aufklärung der Tat folgte eine Reihe von gegenseitigen Ausweisungen von Diplomat_innen aus Prag und Moskau, bei der Russland überproportional viele Tschech_innen auswies. Die tschechische Regierung rief daraufhin europäische Partnerländer dazu auf, aus Solidarität ebenfalls russische Diplomat_innen des Landes zu verweisen. Die Visegrad-Staaten sicherten der Tschechischen Republik in einer gemeinsamen Erklärung ihre Unterstützung zu. Dem Aufruf zur Diplomat_innenausweisung folgten die Slowakei, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien und Bulgarien. Der Nordatlantikrat äußerte seine "tiefe Besorgnis" über von Russland ausgehende "destabilisierende Aktivitäten," und der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik drückte der Tschechischen Republik die Solidarität der EU aus. Der deutsche Think-Tank SWP (Stiftung Wissenschaft und Politik) riet der deutschen Bundesregierung, "den Umgang mit Russland sowie das Thema hybride Bedrohungen zu einem sichtbaren Element des Dialogs mit Prag machen."
Auch war der Angriff kein Einzelfall. Bulgarien fand frappierende Ähnlichkeiten zwischen dem Attentat in Tschechien und Angriffen gegen Depots in Bulgarien. In den Jahren 2011 und 2020 explodierten auch in Bulgarien Waffenlager mit militärischem Gerät, das für die Ukraine bestimmt war.
Anders als die obengenannten Staaten hielt sich Österreich mit Solidaritätskundgebungen zurück. Außenminister Schallenberg verwies auf eine zu erstellende gemeinsame Linie der EU. Auch im Jahr 2018, als der russische Doppelagent Sergey Skripal in Großbritannien mit einem militärischen Kampfstoff ermordet wurde und die Mehrheit der EU Staaten russisches diplomatisches Personal auswies, verweigerte Österreich diese Geste, sehr zum Gefallen Russlands.
Diese Zurückhaltung widerspricht der österreichischen Position zur gemeinsamen Sicherheitspolitik. In der Sicherheitspolitischen Jahresvorschau 2021 schreibt Kabinettschef Kammel zum Thema kooperative Sicherheitspolitik: "Kooperation darf in diesem Kontext allerdings nicht als Einbahnstraße verstanden werden, sondern es bedarf auch der Aufstellung entsprechender Fähigkeiten, um Kooperationen eingehen zu können. Wer auf Solidarität anderer zählt und europäische Sicherheitspolitik mitgestalten will, muss auch selbst in der Lage sein, relevante Beiträge zu erbringen."
Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgende
1. Art. 222 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union regelt die Verpflichtungen von Mitgliedsstaaten im Falle von Terrorangriffen und Katastrophen (natürlichen wie menschengemachten). Ist der Anschlag auf ein Waffenlager in der Tschechischen Republik ein Auslöser für solidarische Unterstützung nach §222?
a. Wenn nein, welche Kriterien für eine Solidarleistung fehlen? Aufgrund welcher Kriterien würde eine Solidarleistung begründet werden?
2. Art. 42 (7) stipuliert die Verpflichtungen der Mitgliedsländer und besagt, dass im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats die anderen ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung schulden. Eine symbolische Ausweisung russischen diplomatischen Personals stünde fraglos in der Macht Österreichs. Mit welcher Begründung ist Österreich der Bitte Tschechiens nicht nachgekommen?
3. Hat sich die tschechische Regierung in seinem Ansuchen um Solidarität auf Artikel 222 oder Artikel 42 berufen?
a. Wenn nein, welche Begründung hat die tschechische Regierung angeführt?
4. Was präzise hat Österreich infolge des Prager Solidaritätsansuchens unternommen? Welche diplomatischen Schritte wurden gesetzt, welche Noten mit Prag oder anderen Regierungen ausgetauscht?
5. Welche Schritte hat Österreich in der EU gesetzt, um eine gemeinschaftliche europäische Position in der Causa zu erreichen?
6. Außenminister Schallenberg sprach von einer gemeinsamen Position der EU. In der EU bedarf es aber für außenpolitische Entscheidungen der Einstimmigkeit. Bedarf es in einem militärischen Bedrohungsfall eines europäischen Partnerlandes einer einstimmigen Entscheidung der Europäischen Union um sich einer solidarischen Verteidigungsaktion anzuschließen?
a. Wenn ja, ist solidarische Verteidigung ohne Echtzeitkapazität sinnvoll?
7. Im Fall Skripal erklärten die EU Außenminister am 13. März 2018 ihre einstimmige Solidarität mit Großbritannien; dann wiesen 16 EU Staaten 33 russische Diplomat_innen aus. Österreich blieb in der Minderheit und tat dies nicht. Wie ist diese Minderheitsposition mit der österreichischen Position vereinbar, dass GASP Entscheidungen mehrheitlich zu treffen sind?
a. Seit Amtsantritt der gegenwärtigen Regierung findet sich im Regierungsprogramm ein Bekenntnis zum Ende der Einstimmigkeit in Fragen der gemeinsamen Außenpolitik (Seite 128). Wird sich Österreich im Falle einer Mehrheitsentscheidung der Europäischen Union in der Causa Tschechien vs. Russland an mehrheitlich, aber nicht einstimmig, beschlossenen Sanktionen beteiligen?
b. Sollte Österreich mit der ablehnenden Minderheit stimmen, wird es dennoch eine Mehrheitsentscheidung mittragen?
8. Außenminister Schallenberg verwies auf eine zu bildende gemeinsame Position der EU. In vielen Fällen einer militärischen, terroristischen oder hybriden Bedrohung wie auch eines katastrophalen Ereignisses (wie z.B. einer Pandemie) ist die europäische, deliberative Entscheidungsfindung inadäquat, um der Bedrohung zeitgerecht zu begegnen. Gibt es Notfallpläne, um ihnen zeitgerecht, ohne Diskussionen in Brüssel abzuwarten, entgegenzutreten?