9696/J XXVII. GP
Eingelangt am 09.02.2022
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ANFRAGE
des Abgeordneten Mag. Christian Ragger
und weiterer Abgeordneter
an den Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz
betreffend Stand der Umsetzung der Pflegereform
Fehlendes Personal und Pflegeangebot führten dazu, dass ältere Menschen ihren Lebensabend nicht zu Hause verbringen können, sagt Wifo-Ökonomin Famira-Mühlberger
Viel wird über die Pflegereform diskutiert. Doch folgen den Worten auch Taten? Wer Einblick sucht, ist bei Ulrike Famira-Mühlberger richtig: Die Expertin des Wirtschaftsforschungsinstituts Wifo war Mitglied der vom Sozialministerium einberufenen Pflege-Taskforce.
STANDARD: Zeichnet sich die "Pflegereform aus einem Guss", die der damalige Sozialminister Rudolf Anschober vor 16 Monaten angekündigt hat, ab?
Famira-Mühlberger: Nein. Da wurden in der Kommunikation Erwartungen geschürt, die nicht erfüllbar sind. Es ist ein Kurzschluss zu glauben, wir machen einmal eine Pflegereform, und dann ist die Sache gelaufen. Eine Pflegereform aus einem Guss kann es nicht geben, das ist ein On-Going-Prozess. Die Bandbreite der Probleme und Ideen ist groß – und letztlich müssen die neun Bundesländer mitspielen. Die Taskforce hat den Input eines größeren Beteiligungsprozesses zusammengetragen, umsetzungsreife Konzepte wurden aber keine erstellt. Der politische Prozess hat noch gar nicht stattgefunden.
STANDARD: Ist denn noch gar nichts substanziell weitergegangen?
Famira-Mühlberger: Das Sozialministerium ist gerade dabei, das Projekt der Community-Nurses umzusetzen. Diese sollen pflegebedürftige Personen sowie deren Angehörige nicht nur besser beraten und unterstützen, sondern auch proaktiv arbeiten: Für alle Menschen ab 75 Jahren ist ein präventiver Hausbesuch vorgesehen. Das ist ein guter, wichtiger Ansatz ...
STANDARD: ... aber erst einmal nur ein begrenztes Pilotprojekt.
Famira-Mühlberger: Ja. Im Regierungsprogramm wurden 500 Community-Nurses angekündigt. Tatsächlich werden durch den Next Generation Fund der EU nun 150 solcher Stellen auf drei Jahre finanziert. Weiters gibt es einige Initiativen, um dem Fachkräftemangel im Pflegebereich zu lindern – etwa Umschulungsmaßnahmen durch das Arbeitsmarktservice (AMS) oder den Ausbau des Fachkräftestipendiums.
STANDARD: Führte die Pandemie zu Stillstand in der Reform?
Famira-Mühlberger: Natürlich hat die Pandemie das Pflegethema vorübergehend auf Eis gelegt. Aber das bedeutet nicht, dass die Probleme gelöst wären.
STANDARD: Was ist das dringlichste Problem?
Famira-Mühlberger: Aus meiner Sicht ist das eindeutig der Personalmangel. Organisationen, die Pflegedienstleistungen anbieten, suchen händeringend nach Fachkräften. Wir kennen Berichte aus Pflegeheimen, die Betten nicht vergeben können, weil Personal fehlt. In manchen Häusern ist es ein täglicher Balanceakt, den vorgegebenen Personalschlüssel – maximale Patientenzahl je Pflegekraft – einzuhalten. Auch die mobilen Pflegedienste würden auf der Stelle hunderte Arbeitskräfte aufnehmen. Dabei kommt die große Nachfragesteigerung erst auf uns zu, wenn nach 2030 die Babyboomer-Generation ins hohe Alter kommt. Gleichzeitig müssen wir ab 2023 mit einem Rückgang der erwerbsfähigen Bevölkerung rechnen. Wir gehen sehr problematischen Zeiten entgegen.
STANDARD: Was ist an dem Job so aufreibend, dass so viele zurückschrecken oder aussteigen?
Famira-Mühlberger: Laut Umfragen liegt das an den Arbeitsbedingungen. Eine dünne Personalbesetzung erhöht den Arbeitsdruck, was bei Ausfällen durch Krankheiten und Urlaube umso mehr gilt. Der Pflegebereich unterscheidet sich hier von vielen anderen Bereichen: Eine Werkstatt etwa übernimmt bei dünner Personalbesetzung weniger Aufträge oder braucht entsprechend länger; im Pflegebereich ist das nur begrenzt möglich. Was zusätzlich zermürbt: Die Pflegekräfte können den eigenen Qualitätsanspruch aus Zeitmangel einfach nicht einlösen.
STANDARD: Was muss geschehen, um die Personalnot zu bewältigen?
Famira-Mühlberger: Die klassische schulische Ausbildungsschiene reicht nicht, es braucht verstärkt Umschulung- und Weiterbildungsprogramme, um auch ältere Menschen für die Pflege zu schulen. Das passiert jetzt schon, aber hier müssen wir verstärkt Mittel einsetzen. Die Anwärter haben in der Regel finanzielle Verpflichtungen, deshalb müssen die Ausbildungsprogramme auch ein Einkommen bieten – das Fachkräftestipendium ist hier ein guter Ansatz. Rekrutierungen im Ausland sollten vereinfacht werden, Stichwort Nostrifikationen. Und ohne Migration wird die Personalnot nicht zu bewältigen sein.
STANDARD: Gelingt das, wäre die Versorgung in der heutigen Qualität gesichert. Aber braucht es nicht auch einen Ausbau der Leistungen, damit die Menschen – so der Wunsch der Mehrheit – ihren Lebensabend zu Hause statt im Heim verbringen können?
Famira-Mühlberger: Derzeit sind viele Menschen, die noch gut zu Hause gepflegt werden könnten, auf die stationäre Pflege in den Heimen angewiesen, weil es an flexibler Unterstützung fehlt. Erstens kämpft auch die mobile Pflege, die Menschen in den eigenen vier Wänden besucht, mit enormen Personalproblemen, zweitens gewähren die Länder nur einen gewissen Satz an Pflegestunden. Ist dieses Kontingent ausgeschöpft, fällt die Förderung weg – und dann wird es für viele zu teuer.
STANDARD: Ist mobile Pflege für die meisten zumindest leistbar, solange diese gefördert wird?
Famira-Mühlberger: Auch da gibt es offenbar Hürden. Über 40 Prozent der Pflegegeldbezieher beziehen keine Pflegedienstleistung. Daran sieht man, dass die mobile Pflege nicht in dem Ausmaß genützt wird, wie es vielleicht vernünftig wäre. Denn so ließe sich der Eintritt in die Heime – die für die Allgemeinheit teuerste Variante – eindämmen. Das kann an Informationsmangel liegen, aber auch an den Kosten.
STANDARD: Was, wenn sich die Politik wieder darauf verlässt, dass bei der Pflegearbeit die Familien – und da in erster Linie die Frauen – einspringen?
Famira-Mühlberger: Ja, diese Gefahr besteht. Aber Frauen werden aufgrund der enorm gestiegenen Bildungsabschlüsse in Zukunft noch stärker als heute am Arbeitsmarkt tätig sein, was aus ökonomischer Perspektive wichtig ist. Wegen des Rückgangs der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter müssen wir unser Arbeitskräftepotenzial besser nützen, und natürlich würde das die Gleichstellung fördern. Das wird die Nachfrage nach professioneller Pflege steigen lassen.
STANDARD: Vergeudet Österreich dieses Potenzial derzeit?
Famira-Mühlberger: Wir investieren viel in gute Ausbildung. Mittlerweile weisen Frauen höhere Bildungsabschlüsse als Männer auf. Wenn diese gut ausgebildeten Frauen durch Pflegearbeit vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden, ergibt das ökonomisch keinen Sinn. Vor allem in den skandinavischen Ländern, aber auch in den Niederlanden, ist das anders. Dort wird Pflege zu einem geringen Anteil in der Familie, sondern viel mehr professionell geleistet. Dafür muss der Staat aber investieren: Gemessen an der Wirtschaftsleistung geben diese Länder heute schon so viel für Pflege aus, wie das Wifo in Österreich für 2050 prognostiziert.“
https://www.derstandard.at/story/2000133153764/pflegeexpertin-famira-muehlberger-wir-gehen-sehr-problematischen-zeiten-entgegen
In diesem Zusammenhang richten die unterfertigten Abgeordneten an den Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz nachstehende
ANFRAGE
1) Wurde das Konzept einer Pflegereform „aus einem Guss“ verworfen?
2) Was setzen Sie dem entgegen, wonach die Pflegereform bislang nur aus Kommunikation und Präsentation bestand?
3) Was wurde bislang von den angekündigten Maßnahmen umgesetzt?
4) Warum wird die Pandemie als Begründung für die verzögerte Reform vorgeschoben, obwohl deren Umsetzung aufgrund der demographischen Entwicklung nicht auf sich warten lassen darf?
5) Welche Projekte und Konzepte wurden aufgrund der Pandemie bislang nicht umgesetzt?
6) Wann werden diese nachgeholt?
7) Wann ist mit einem Abschluss der Pflegereform zu rechnen?
8) Welche konkreten Projekte und Konzepte beinhaltet diese Reform zum aktuellen Zeitpunkt?
9) Was ist der jeweilige Stand dieser Projekte und Konzepte?
10) Ist eine Finanzierung dieser Projekte und Konzepte gewährleistet?
11) Wenn nein, warum nicht?
12) Inwiefern gibt es umsetzungsreife Prozesse, die nicht weiterverfolgt oder umgesetzt werden?
13) Mit welcher Begründung werden diese nicht weiterverfolgt oder umgesetzt?
14) Warum stocken die politischen Prozesse in der Umsetzung der Pflegereform?
15) Wer trägt hierzu die Verantwortung?
16) Welche Maßnahmen wollen Sie ergreifen, damit diese Prozesse in Gang gesetzt werden?
17) Wann wird das Konzept der Community Nurses umgesetzt?
18) Wie viele Community Nurses soll es geben?
19) Wie wird dieses Konzept finanziert?
20) In welchem Zeitraum sollen die Community Nurses eingesetzt werden?
21) Welches Aufgabengebiet sollen die Community Nurses bedienen, in welchem Stundenausmaß sollen diese arbeiten und wie oft sollen diese die einzelnen pflegebedürftigen Personen betreuen?
22) Welche Initiativen betreffend den Fachkräftemangel wurde seit Beginn der Gesetzgebungsperiode geschaffen?
23) Welche davon wurden verworfen?
24) Wie viele davon wurden umgesetzt?
25) An welchen dieser Initiativen wird gerade mit welchem Aufwand, mit welchen Mitteln und mit welchem Erfolg gearbeitet?
26) Inwiefern konnten Sie seit Ihrem Amtsantritt dem Fachkräftemangel begegnen?
27) Wie entwickelte sich die Zahl der offenen Stellen, der benötigten Fachkräfte und der betreuten Heimplätze und Betten seit Ihrem Amtsantritt?
28) Welche Initiativen zur Weiterbildung und Umschulung von Pflegekräften laufen im Moment?
29) Wie werden diese finanziert?
30) Welchen Erfolg bringen diese Initiativen?
31) Wie viele Fachkräfte konnten seit Beginn der Gesetzgebungsperiode weiter ausgebildet oder umgeschult werden?
32) Wie viele davon konnten durch das AMS weiter ausgebildet oder umgeschult werden?
33) Welche Anreize bieten Sie zur weiteren Ausbildung oder Umschulung?
34) Welche weiteren Initiativen zur Weiterbildung und Umschulung von Pflegekräften werden wann umgesetzt?
35) Wie werden diese finanziert?
36) Welchen Erfolg versprechen diese Initiativen?
37) Wie viele Fachkräfte sollen dadurch weiter ausgebildet oder umgeschult werden?
38) Wie viele davon sollen durch das AMS weiter ausgebildet oder umgeschult werden?
39) Welche Anreize werden Sie künftig zur weiteren Ausbildung oder Umschulung bieten?
40) Wann wird es für Weiterzubildende oder Umzuschulende während der Ausbildung ein Gehalt oder Einkommen geben?
41) In welcher Höhe wird es dieses Gehalt oder Einkommen geben?
42) Welche Stipendien können derzeit in welcher Höhe für Auszubildende beantragt werden?
43) Wie hoch ist der Anteil der auszubildenden Pflegekräfte, die ein Stipendium beziehen?
44) Soll dieser Anteil erhöht werden?
45) Wenn ja, welche Schritte wollen Sie dazu setzen?
46) Wenn ja, wie wird das finanziert?
47) Welche Maßnahmen haben Sie seit Ihren Amtsantritt ergriffen, um die Arbeitsbedingungen und die –qualität (höheres Gehalt oder Prämien, fairer Personalschlüssel, Reduzierung der Pflegepatienten pro Fachkraft, Urlaubsanspruch etc.) der Pflegekräfte zu verbessern?
48) Welche Erfolge haben diese Maßnahmen gebracht?
49) Inwiefern konnten dadurch Pflegekräfte gehalten werden?
50) Welche Maßnahmen werden Sie wann ergreifen, um die Arbeitsbedingungen und die –qualität (höheres Gehalt oder Prämien, fairer Personalschlüssel, Reduzierung der Pflegepatienten pro Fachkraft, Urlaubsanspruch etc.) der Pflegekräfte zu verbessern?
51) Welche finanziellen Mittel stehen Ihnen dafür zur Verfügung?
52) Welche Maßnahmen haben Sie seit Ihrem Amtsantritt ergriffen, um Arbeitskraftausfälle und Krankenstände in der Pflege zu reduzieren?
53) Mit welchem Erfolg?
54) Welche Maßnahmen werden Sie wann ergreifen, um Arbeitskraftausfälle und Krankenstände in der Pflege zu reduzieren?
55) Welche finanziellen Mittel stehen Ihnen dafür zur Verfügung?
56) Inwiefern werden Migranten als Pflegekräfte angeworben werden, um den Fachkräftemangel zu begegnen?
57) Welche Erfolge lassen sich hierzu verzeichnen?
58) Wie viele ausländische Pflegekräfte haben keine einschlägige Berufsausbildung?
59) Wie gestaltet sich hierzu die Anrechnung bzw. Anerkennung der Ausbildung der jeweiligen Person?
60) Entsprechen diese anerkannten Ausbildungen von ausländischen Pflegekräften dem österreichischen Standard?
61) Inwiefern wird bei ausländischen Pflegefachkräften Wert auf die Beherrschung der deutschen Sprache gelegt?
62) Inwiefern wollen Sie sich in der Umsetzung der Pflegereform und der Behebung des Personalmangels auf die Anwerbung von Migranten in der Pflege verlassen?
63) Wie viele Migranten sollten bzw. müssten nach den Ihnen vorliegenden Konzepten zur Behebung des Fachkräftemangels derzeit weiter angeworben werden?
64) Welche finanziellen Mittel stehen Ihnen zur Anwerbung von ausländischen Pflegekräften zur Verfügung?
65) Welche Konzepte liegen Ihnen hierzu vor?
66) Inwiefern bedingt die Anwerbung von ausländischen Pflegekräften einen Personalmangel in den jeweiligen Herkunftsländern?
67) Welche Daten liegen Ihnen hierzu vor?
68) Welche Konzepte liegen Ihnen vor, wonach Österreich den Personalmangel in der Pflege autark begegnen kann?
69) Welche Schritte wurden in diesem Zusammenhang umgesetzt?
70) Welche Anstrengungen unternehmen Sie, damit für mehr Menschen die Pflege zu Hause möglich wird?
71) Wie hat sich die Zahl derer, die zu Hause gepflegt werden, seit Ihrem Amtsantritt entwickelt?
72) Wie hat sich die Zahl der mobilen Pflegekräfte seit Ihrem Amtsantritt entwickelt?
73) Welchen Satz an mobilen Stunden gewähren derzeit die Bundesländer und an welchen Bedingungen sind diese geknüpft?
74) Wollen Sie diesen Satz erhöhen?
75) Wenn ja, mit welchen Mitteln?
76) In welchen Bereichen der Pflege wollen Sie künftig vermehrt investieren?
77) Inwiefern setzen Sie sich für ein höheres Pflegebudget ein bzw. haben sich eingesetzt?
78) Welche Erfolge haben Sie diesbezüglich zu verzeichnen?