9886/J XXVII. GP
Eingelangt am 22.02.2022
Dieser Text wurde elektronisch übermittelt. Abweichungen vom Original sind
möglich.
Anfrage
der Abgeordneten Dr. Stephanie Krisper, Kolleginnen und Kollegen
an den Bundesminister für Inneres
betreffend Überstellungen nach Polen
Das Dublin-Verfahren dient der Zuständigkeitsbestimmung zur Durchführung des Asylverfahrens in einem EU-Mitgliedstaat. Die Dublin III-Verordnung (Dublin III-VO(EU)Nr. 604/2013) legt Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung des gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, zur Anwendung gelangen. Sie findet Anwendung in allen EU-Mitgliedstaaten sowie Norwegen, Island, Liechtenstein und der Schweiz. Das Dublin-Verfahren bezweckt, dass jeder Asylantrag, der auf dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaatengestellt wird, materiell-rechtlich nur durch einen Staat geprüft wird. Damit soll die Sekundärwanderung innerhalb Europas gesteuert bzw. begrenzt werden.
Anfang 2011 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seiner Entscheidung M.S.S. gegen Belgien und Griechenland die beiden Staaten wegen Verletzung von menschenrechtlichen Pflichten gegenüber einem Asylsuchenden aus Afghanistan für schuldig befunden. Die belgischen Behörden hatten den Asylsuchenden 2009 nach Griechenland überstellt, weil er über die griechische Grenze in den EU-Raum eingereist war. Dieses Vorgehen war nach Ansicht der EGMR falsch, weil den belgischen Behörden bekannt sein musste, dass die Zustände im griechischen Asylwesen aufgrund systemischer Mängel unzumutbar sind. Aus dieser Entscheidung lässt sich ableiten, dass Dublin-Staaten ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen verletzen, wenn sie eine Überstellung durchführen, obwohl das im Asylsystem in dem ursprünglich zuständigen Dublin-Staat systemische Mängel aufweist.
§4a Asylgesetz legt fest, dass ein Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zurückzuweisen ist, wenn dem/der Antragsteller_in bereits in einem anderen EWR-Staat oder der Schweiz der Status des/r Asylberechtigten oder des/r subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde. Gleichzeitig mit der Zurückweisungsentscheidung wird auch der Staat festgestellt, in welchen der/die Antragsteller_in zurückkehren und ggf. überstellt werden muss. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union zu Art. 33 lit a der Richtlinie 2013/32/EU zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes hat eine Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz, weil bereits von einem anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt worden ist, allerdings dann zu unterbleiben, wenn die Lebensverhältnisse, die die antragstellende Partei in dem anderen Mitgliedstaat als anerkannter Flüchtling erwarten würde, sie der ernsthaften Gefahr aussetzten, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC bzw. des diesem entsprechenden Art. 3 EMRK zu erfahren (siehe EuGH 13.11.2019, Rs. C-540/17 ua., Hamed ua., Rz 43; ferner bereits EuGH 19.3.2019, Rs. C-297/17 ua., Ibrahim ua., Rz 101).
Im Mai 2021 begann Belarus, als Reaktion auf Sanktionen der EU, flüchtende Menschen an die EU-Grenze zu Litauen, Lettland und Polen zu führen. Seitdem werden zahlreiche Menschenrechtsverletzungen, darunter tausende Push-Backs, an diesen Grenzen gemeldet. Bisher starben mindestens 17 Menschen und es wird von einer höheren Dunkelziffer ausgegangen. Bereits im August 2021 wurde Polen vom Europarat aufgefordert, menschenrechtliche Verpflichtungen einzuhalten – vor allem sollten die betroffenen Menschen auch die Möglichkeit haben, internationalen Schutz zu beantragen - und ausreichende Versorgung sicherzustellen. An Versorgung im Grenzgebiet zwischen Belarus und Polen, wo zahlreiche Menschen blockiert waren bzw. noch immer sind, mangelt es nämlich dramatisch – und das bei Minusgraden. Der im September 2021 von Polen verhängte Ausnahmezustand verschlechterte dies nur, da u.a. Journalist_innen und Hilfsorganisationen der Zugang zum Grenzgebiet verweigert wurde. Nach zahlreichen Berichten wurden bzw. werden auch Menschen festgenommen, die es bereits über die Grenze nach Polen geschafft haben. Den Schätzungen zufolge halten sich aktuell 1.700 Menschen in Polen auf, die über die polnisch-belarussische Grenze gelangt sind. Viele von ihnen sind in geschlossenen Lagern interniert, manche seit Monaten, und darunter auch Kinder (siehe WDR Reportage). Im Lichte dieser Ausführungen ist stark zu bezweifeln, dass Überstellungen nach Polen bzw. Zurückweisungsentscheidungen weiterhin zulässig sind.
Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgende
i. Bitte um Angabe der Anzahl der Aufnahmeanfragen Österreichs nach den Übernahmekriterien (jeweils Art 8, 9 10, 11, 12, 13, 14, 16, 17(2) Dublin III-VO).
ii. Bitte um Angabe der Wiederaufnahmegesuche nach den Übernahmekriterien (Art 18(1)(b), 18(1)(c), 18(1)(d), 20(5) Dublin III-VO 604/2013).
i. Wann wurden die Betroffenen jeweils nach Österreich überstellt? Bitte um Auflistung nach Monat der Antragstellung in Polen, Monat der Überstellung nach Österreich sowie Alter, Geschlecht und Nationalität der Antragsteller_innen. Bei minderjährigen Personen bitte um Angabe ob begleitet oder unbegleitet.
i. In wie vielen Fällen wurde gegen die §4a Entscheidung des BFA, mit der die Zuständigkeit Polens festgestellt wurde, Beschwerde erhoben? In wie vielen Fällen wurden die Entscheidung des BFA bestätigt? In wie vielen Fällen wurde die Entscheidung des BFA aufgehoben und zur neuerlichen Entscheidung zurückverwiesen? In wie vielen Fällen fasste das BFA neuerlich eine §4a Entscheidung, wonach Polen zuständig sei?
ii. Wie viele davon wurden wann jeweils nach Polen überstellt? Bitte um Auflistung nach Monat der Antragstellung, Monat der Überstellung sowie Alter, Geschlecht und Nationalität der Antragsteller_innen. Bei minderjährigen Personen bitte um Angabe ob begleitet oder unbegleitet.