Erläuterungen:

Allgemeiner Teil

Im April 2020 übermittelte die Europäische Kommission ein Auskunftsersuchen, mit dem das Pilotverfahren Ref.-Nr. EUP (2020)9614 FISMA betreffend die Beurteilung der Vereinbarkeit des österreichischen Versicherungsvertragsgesetzes mit den Artikeln 185 und 186 der Richtlinie 2009/138/EG (Richtlinie Solvabilität II) eingeleitet wurde. Anlass der Prüfung der Europäischen Kommission war die Änderung des Rücktrittsrechts durch die Novelle BGBl. I Nr. 51/2018.

Zwischenzeitig hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 19. Dezember 2019 in den verbundenen Rechtssachen C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, Rust-Hackner u.a. zu wichtigen Fragen der Rechtsfolgen eines so genannten „Spätrücktritts“ Stellung genommen. Aus diesem Anlass prüft die Europäische Kommission im genannten Pilotverfahren insbesondere die Frage, auf welche Weise im österreichischen Recht sichergestellt wird, dass das Rücktrittsrecht auch dann nicht erlischt, wenn der Versicherungsnehmer zwar eine Belehrung über das Rücktrittsrecht erhalten hat, die mitgeteilten Informationen jedoch derart fehlerhaft sind, dass dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktrittsrecht unter im Wesentlichen denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben. Weiters stelle sich die Frage, wie die Vorgaben des EuGH zu den Rechtsfolgen des Rücktritts umgesetzt werden. Der Gerichtshof habe festgestellt, dass Artikel 185 Absatz 1 der Richtlinie 2009/138/EG einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der der Versicherer einem Versicherungsnehmer, der von seinem Vertrag zurückgetreten ist, lediglich den Rückkaufswert zu erstatten hat (Rz 111). Der Gerichtshof begründet dies damit, dass eine Gleichstellung von Rücktritt und Kündigung des Vertrages dem unionsrechtlich vorgesehenen Rücktrittsrecht jede praktische Wirksamkeit nimmt (siehe Rz 101-107).

Besonderer Teil

Zu § 5c:

Ein Kritikpunkt im Pilotverfahren der Europäischen Kommission ist die Tatsache, dass sich aus § 5c nicht ausdrücklich ergibt, dass eine grob fehlerhafte Belehrung den Beginn der Rücktrittsfrist nicht in Gang setzt. Das soll durch Anfügungen in Abs. 3 und Abs. 5 klargestellt werden. Durch die Gleichstellung einer grob fehlerhaften Belehrung, die dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit nimmt, sein Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben (Formulierung des EuGH), mit einer fehlenden Belehrung ist sichergestellt, dass die Frist nach § 5c Abs. 2 nicht zu laufen beginnt.

Damit ist auch die Frage, ob eine Versicherungsnehmer zurücktreten kann, getrennt zu betrachten von der Frage, was er im Fall eines berechtigten Rücktritts erhält. Ein Rücktritt ist immer möglich, wenn eine grob fehlerhafte Belehrung erfolgt ist, die einer fehlenden Belehrung gleichzuhalten ist. Die Frage, ob der Vertrag den Bedürfnissen des Versicherungsnehmers entsprochen hat, stellt sich erst bei den Rechtsfolgen des Rücktritts.

Zu § 176 Abs. 1a:

Abs. 1a wurde vor der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Rust-Hackner erlassen, konnte daher nicht auf die in dieser Entscheidung näher spezifizierten Umstände eingehen. Umgekehrt hat der Oberste Gerichtshof im Nachhang zu dieser Entscheidung für die Fälle des so genannten „Spätrücktritts“ befriedigende Lösungen gefunden, sodass die Beibehaltung des Abs. 1a in der bisherigen Form nicht mehr notwendig ist.

Es wird daher vorgeschlagen, den Abs. 1a auf den Regelungsgehalt zu begrenzen, dass bei einem Rücktritt nach § 5c der § 176 Abs. 1, der auch bei einer Vertragsaufhebung wegen Rücktritts als Rechtsfolge die Erstattung des Rückkaufswerts anordnet, nicht anwendbar ist. Das hat zur Folge, dass auch in diesen Fällen die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs anwendbar wird, der schon bisher bei einem „Spätrücktritt“ § 176 Abs. 1 unangewendet ließ und eine bereicherungsrechtliche Rückabwicklung vorgenommen hat (7 Ob 10/20a, 7 Ob 19/20z uva, zuvor bereits 7 Ob 107/15h).

Zu § 176 Abs. 2:

Abs. 2 ordnet in seiner Diktion durch Bezugnahme auf Abs. 1 relativ schwer verständlich an, dass der Versicherer den auf die Versicherung entfallenden Rückkaufswert auch dann zu erstatten hat, wenn nach dem Eintritt des Versicherungsfalls der Versicherer von der Verpflichtung zur Zahlung des vereinbarten Kapitals frei ist. Durch den Einschub von Abs. 1a wird diese Lesbarkeit noch erschwert. Der Vorschlag formuliert Abs. 2 daher um, ohne seinen Inhalt abzuändern.

Zu § 191c Abs. 24:

Am 19. Dezember 2019 ist das Urteil in der Rechtssache Rust-Hackner ergangen, und spätestens ab diesem Zeitpunkt besteht die Verpflichtung, die österreichische Rechtslage unionskonform auszulegen. Gleichzeitig sind Versicherer in ihrem Vertrauen auf eine entgegenstehende Rechtslage nicht mehr geschützt. Allerdings wäre es für betroffene Versicherungsnehmer schwer nachvollziehbar, warum für im Zeitraum zwischen 1. Jänner 2019 (Inkrafttreten der Novelle BGBl. I Nr. 51/2018) und 19. Dezember 2019 (Urteil in der Rechtssache Rust-Hackner) erklärte Rücktritte andere gesetzliche Regelungen gelten als für Rücktritte davor und danach. Deswegen soll auch bei einem Rücktritt, der nach dem 31. Dezember 2018 erklärt wurde, § 176 Abs. 1 nicht anzuwenden sein, und zwar gleichgültig, ob von einem „Neuvertrag“, der nach dem 31. Dezember 2018 geschlossen wurde (§ 191c Abs. 23), oder von einem „Altvertrag“, der davor geschlossen wurde, nach einer Vorgängerbestimmung zurückgetreten wurde. Damit wird die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs fortgeschrieben, der schon bisher (siehe oben zu § 176 Abs. 1a) bei einem „Spätrücktritt“ § 176 Abs. 1 unangewendet ließ und eine bereicherungsrechtliche Rückabwicklung vorgenommen hat (7 Ob 10/20a, 7 Ob 19/20z uva).